Nicht erkrankt - und doch betroffen Angehörige in der Selbsthilfe
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1 Nicht erkrankt - und doch betroffen Angehörige in der Selbsthilfe Jan-H. Obendiek Fachklinik Alte Ölmühle - Magdeburg 1 Was sind Angehörigen? Ein Versuch von Kurt Tucholsky ;-) Die Familie (familia domestica communis, die gemeine Hausfamilie) kommt in Mitteleuropa wild vor und verharrt gewöhnlich in diesem Zustande. Sie besteht aus einer Ansammlung vieler Menschen verschiedenen Geschlechts, die ihre Hauptaufgabe darin sehen, ihre Nasen in deine Angelegenheiten zu stecken. Wenn die Familie größeren Umfang erreicht hat, nennt man sie Verwandtschaft. 2 / 29 1
2 Was ist die Situation 3,4 Millionen Suchtkranke * 1,77 Millionen alkoholabhängig 1,4 Millionen medikamentenabhängig drogenabhängig * Drogen- und Suchtbericht BmG 7/ Mio. Angehörige mehr Angehörige als Suchtkranke!!! Nur 10% der Alkoholiker machen eine Therapie (Prof. K. Mann) 90% der Angehörigen leben mit einem Kranken zusammen, der keine Behandlung bekommt!!! 3 / 29 4 / 29 2
3 Was ist die Situation Angehörige von Suchtkranken sind besonders belastet. Sie werden (mit)verantwortlich gemacht. fühlen sich selbst (mit)verantwortlich. erleben die Sucht bewusster als der Betroffene. sind psycho-sozial belasteter als andere.* * Moos, R.H., Finney, J.W. & Gamble, W. (1982). The process of recovery from alcoholism. II. Comparing spouses of alcoholic patients and matched community controls. Journal of Studies on Alcohol 43, / 29 Was ist die Situation Frauen sind öfter betroffene Angehörige, da mehr Männer alkoholabhängig Frauen trennen sich nicht so schnell von suchtkranken Männern wie Männer von suchtkranken Frauen Partnerinnen drogenabhängiger Männer sind öfter selbst drogenabhängig (im Vergleich zu Alkoholabhängigen) Szene, Beschaffungsdruck, Verführung, Kriminalität, Alkohol wird zur Nähe-Distanz-Regulation genutzt Teufelskreis Streit Versöhnung führt zur Chronifizierung Viele Partnerinnen sind von physischer, sexueller und psychischer Gewalt betroffen.* * O Farrell & Murphy, 1995; Klein, / 29 3
4 7 / 29 Fragen, Fragen, Fragen Warum trennen sich Angehörige nicht (einfach)? Besser umgekehrt gefragt: Was hält jemand mit einem Suchtkranken zusammen? Was hält Menschen überhaupt zusammen? und was bedeutet das für die Selbsthilfe? 8 / 29 4
5 Was zusammenhält Beziehung Was hält eine Beziehung? 9 / 29 Was hält Familien zusammen? Starke emotionale Beziehung Bindung Kind: Nähe suchen Erwachsener: Fürsorge zeigen evolutionär angelegtes Verhaltenssystem Bindungsverhalten 10 / 29 5
6 Wie entsteht Bindungsverhalten Bindung ist ein... affektives Band als Folge von vorprogrammierten Verhaltensmuster, auf ein bestimmtes Individuum konzentriert John Bowlby die Wirkung besteht darin, das erste Individuum nahe an das andere heranzubringen, und es dort zu halten deshalb der umfassende Begriff Bindungsverhalten. 11 / 29 Einstimmung 12 / 29 6
7 Unterschiede im Bindungsverhalten Individueller Unterschiede in der Bewältigung von Trennungsstress Die fremde Situation Mary Ainsworth 13 / 29 Unterschiede im Bindungsverhalten Beobachtung: Verhalten bei Wiedervereinigung Kontakt und Nähe zur Mutter sicher Ignorieren oder aktives Vermeiden der Mutter vermeidend Annäherungs-Vermeidungs-Konflikts gegenüber der Mutter Bindungsstile ängstlich-ambivalent 14 / 29 7
8 Kinder - Erwachsene Fürsorgeverhalten Bindungsverhalten Reptilien (Iguanas): keine elterliche Fürsorge Vögel (Seeschwalbe): Gesten der elterlichen Fürsorge als Signal beim Balzverhalten wiederverwandt Säugetiere (Orang Utan): Emotionale Repertoire der Eltern-Kind- Interaktion wird in der erwachsenen Paarbeziehung erneut verwendet 15 / 29 Macht Liebe blind? Mütterliche und romantische Liebe deaktivieren bzw. aktiviert die gleichen Areale im Gehirn negative Emotionen, kritische soziale Beurteilungen v. Mitmenschen Belohnungssystem Mütterliche Liebe Romantische Liebe 16 / 29 8
9 Einstimmung 17 / 29 Grundbedürfnisse des Einzelnen Bindungsbedürfnis Orientierung und Kontrolle Lustgewinn / Unlustvermeidung Selbstwerterhöhung* *Grawe, 2004 Alle Grundbedürfnisse sind im Fall von Sucht irritiert: Beim Suchtkranken: Beim Angehörigen: Ausgrenzung Ausgrenzung u. Alleingelassen Kontrollverlust Kontrollverlust Unlusterleben Unlusterleben Minderwertigkeitsgefühle Minderwertigkeitsgefühle 18 / 29 9
10 Bindung - Bezogenheit Auf wen ist der Suchtkranke bezogen? Auf wen sind die Angehörigen bezogen? Bindung + Sucht = Einbahnstrasse Co-Abhängigkeit 19 / / 29 10
11 Co-Abhängigkeit als Erklärungsversuch 50er Jahren, Al-Anon, 80er Jahre in Deutschland vordergründig einleuchtend die krankheitsfördernden Dynamiken innerhalb der Familiensystems konnte man sich zu ersten Mal erklären Suchtfamilie oder suchtkranken Familie Die Co-Abhängige leidet an einem Mangel an Selbstwertgefühl, das sie durch übermäßige Fürsorge und Kontrolle auszugleichen versucht. Vorteil Erklärung, der Suchtkranke fühlt sich nicht allein betroffen Nachteil Diagnose co-abhängig kann Schuldgefühle erzeugen; 21 / 29 werden der Angehörige könnte zum Problem erklärt Sucht, Bindungsstil, Gesundheit Ein Résumé (-versuch): Sucht verändert Bindungsverhalten Angehöriger Suchtkranke anklammernd/abweisend ängstlichvermeidend 22 / 29 A. Steffanowski, 1997, psychosomatische Patienten 11
12 Was bedeutet das für die Selbsthilfe Bindungsverhalten ist ein zentrales Thema! Zentrale Frage: Wie verhalte ich mich in emotional wichtigen Beziehungen? Ein Suchtkranker muss erst einmal zu einer Person eine Beziehung aufbauen bei der er sich sicher fühlt. dann eine Beziehung zu sich selbst, dann eine Beziehung zu Mitbetroffenen, dann neue Beziehungen zu seinem (neuen) Umfeld. 23 / 29 Ein Angehöriger muss erst einmal zu einer Person eine Beziehung aufbauen bei der er sich sicher fühlt. dann eine Beziehung zu sich selbst, dann eine Beziehung zu Mitbetroffenen dann neue Beziehungen zu seinem (neuen) Umfeld. Sicheres gesundes Bindungsverhalten entwickeln 24 / 29 12
13 Wo durch wird das möglich? Sucht-Selbsthilfe wirkt durch Geteilte Erfahrungen auf Basis gemeinsamer Betroffenheit Hilfe auf Gegenseitigkeit und Augenhöhe Soziale Kontakte, Überwindung von Einsamkeit, Isolation und Schamgefühlen Vermittlung von Informationen über die Sucht(mittel)Problematik für Betroffene und Angehörige Einüben neuer Kommunikationsmuster, Erprobung und Reflexion neuer Handlungs- und Verhaltensstrategien Soziales Lernen und persönliche Weiterentwicklung Angebote zur Freizeitgestaltung Weiterleitung in andere Hilfesysteme, z.b. in Entgiftung, Beratung und Therapie Langfristigkeit der Angebote und schwellenlosen Zugang und vieles Andere mehr 25 / 29 Wo durch wird das möglich? Selbsthilfe bietet Angehörigen: Informationen Raum für sich selbst Verständnis, Akzeptanz, Anerkennung und Wertschätzung der bisherigen eigenen Bemühungen Rückmeldungen (Feedback) zum bisherigen Verhalten und den Konsequenzen, Hilfe beim Loslassen alter Verhaltensmuster Unterstützung, um die positiven Eigenschaften des/der Abhängigen stärken und wertzuschätzen zu können, Hilfe bei der Setzung eindeutiger Grenzen und konsequenter Haltungen Möglichkeiten, sich selbst (wieder) wertzuschätzen und vieles Andere mehr 26 / 29 13
14 Was bedeutet das für die Selbsthilfe Selbsthilfe für Betroffene und Selbsthilfe für Angehörige heißt, dass beide wieder in eine gemeinsame Richtung sehen. 27 / 29 Manchmal geht es aber auch schief ;-) 28 / 29 14
15 für s Zuhören 29 / 29 15
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