Die Woche mit Knut 1 Es war ein ganz normaler Montagmorgen, wie es viele gibt. Die Sonne schien in mein Fenster herein und ich wachte auf, bevor der
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- Paul Hoch
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1 Die Woche mit Knut 1 Es war ein ganz normaler Montagmorgen, wie es viele gibt. Die Sonne schien in mein Fenster herein und ich wachte auf, bevor der Wecker geklingelt hatte. Ich mag den Montag nicht, da hat man die ganze Woche vor sich. Das ist wie ein Riesenhindernisrennen. Als ich fünf Minuten vor sechs das Haus verlassen wollte, hörte ich Mutters Stimme: Viel 5 Glück bei der Arbeit!" Ach du Schreck! Die Mathearbeit! Und auch noch bei Frau G! Von uns Schülern wird sie die Krähe" 1 genannt und ich finde, nicht ohne Grund. Jedenfalls, was ihre Stimme betrifft. Der Mathematikunterricht bei ihr ist der reinste Horror: strohtrocken und diszipliniert wie im Kloster. Jedenfalls holte ich seufzend meinen Mathematikhefter aus dem Ranzen 2 und paukte 3 auf 10 dem Weg zur Schule Mathematikformeln, die mich überhaupt nicht interessierten. Ein Glück, dass ich bis zum Unterrichtsbeginn noch reichlich Zeit hatte, ich wollte vorher noch Sebastian abholen. Am leerstehenden Kaufhaus sprach mich jemand an: Na, brauchst du Hilfe?" Die Stimme klang heiser und sehr rauh. Ich drehte mich um, sah aber niemanden. Da zupfte etwas an 15 meinem Hosenbein. Ein magerer Mann in alten, ziemlich dreckigen Klamotten, unrasiert und eine Zigarette im Mund, lag auf einigen Decken in einer Ecke vor dem Kaufhaus. Setz dich!" Obwohl ich mich erst vor Abscheu 4 schüttelte, setzte ich mich, eigentlich gegen meinen Willen, zu ihm. Er stank. Aber irgendetwas hielt mich zurück und hinderte mich daran aufzustehen. Dann dachte ich an seine Frage. Ob er damit den Mathematikhefter gemeint 20 hatte? Da nahm er ihn mir schon aus der Hand. Kritisch sah er auf das Geschriebene. Dann meinte er, das sei doch ganz einfach, und begann zu erklären wie ein Lehrer. Anschließend hörte er noch ein paar Formeln ab. Zehn Minuten vor Schulbeginn sprang ich auf, packte meine Sachen zusammen und lief auf direktem Weg zur Schule. Vorher versprach ich dem Mann noch, nach der Schule wieder vorbeizukommen. 25 Wir schrieben die Arbeit gleich in der ersten Stunde und ich hatte ein gutes Gefühl. Aber in der sechsten Stunde wurde ich ziemlich unruhig, ich wollte unbedingt den alten Mann wiedersehen, der sich so gut mit Mathematik auskannte. Dabei wusste ich nicht einmal, wie er hieß. Aber bestimmt wollte er wissen, wie die Arbeit gelaufen war. Nach der Schule lief ich gleich zu dem Platz, an dem ich ihn kennen gelernt hatte. Aber da 30 war niemand. Ein paar Zigarettenstummel, einige Konservendosen, Dreck. Keine Decken, kein Mann. Enttäuscht ging ich heim. Doch zwei Straßen entfernt vom Kaufhaus, in einer kleinen Gasse, wühlte 5 jemand in einem Container. Ich ging hin. Er lachte: Hätte nicht gedacht, dass du nochmal vorbeikommst." Ich lachte auch. Dann begann ich, ihn mit Fragen zu löchern. Ich wollte schließlich wissen, wieso so einer sich so gut in Mathe auskannte, 35 dass er mir was erklären konnte. Nach und nach erfuhr ich so einiges aus seinem Leben,
2 auch dass er Knut hieße, jedenfalls würden ihn alle so nennen. Wer waren eigentlich alle? Waren es die, von denen er mir erzählt hatte, dass sie mit ihm im Kaufhaus schliefen, weil sie auch kein Zuhause hatten und dass sie alle wie eine große Familie waren? Es fiel mir erst zu Hause ein, dass ich hätte danach fragen müssen. Aber es beruhigte mich, dass er 40 nicht völlig allein war. Die beiden nächsten Tage vergingen. Ich verbrachte fast jeden Nachmittag mit Knut. Er war für mich wie ein richtiger Kumpel 6 geworden und ich konnte über alles mit ihm reden. Einmal fragte ich ihn, warum er so lebe. Mit seinem Wissen und seiner Schulbildung in diesem Dreck und so, und dass das doch ziemlich unwürdig sei. Aber ich merkte gleich, dass ich das 45 besser nicht gefragt hätte. Er sah mich komisch an und sagte erstmal gar nichts. Und dann brummte 7 er mich an. Ja, er knurrte richtig wütend: Ha, hätte ich mir's doch denken können, dass du auch so einer bist. Aber merk dir das mal und schreib dir's gut hinter die Ohren 8 : Würde 9 hängt nicht in den Klamotten, die hat man in sich drin oder man hat sie nicht. Und für manche Menschen ist halt der Gang zum Sozialamt 10 unwürdig." 50 Das hatte gesessen 11. Ich nahm mir vor, in Zukunft meine Fragen zu überlegen, bevor ich sie ausspreche. An diesem Tag war ich richtig unzufrieden mit mir, als ich nach Hause ging. Christopher Stern Aus: Augen-Blicke, Ein Lesebuch über die Würde des Menschen Sächsische Zentrale für politische Bildung (Dresden 2003)! "# $ # # ##%#! & #'%# ("! # ) * #'+,-#*
3 COMPREHENSION 1- Kreuzen Sie die richtige Antwort an. a) Wer ist der Erzähler? ein Kaufhausbesitzer ein Mathelehrer ein Obdachloser ein Schüler b) Wer ist Knut? ein Mitschüler des Erzählers ein Obdachloser ein Straßenarbeiter der Vater des Erzählers c) Wo treffen sich Knut und der Erzähler zum ersten Mal? bei dem Erzähler bei Knut in der Schule auf der Straße 2- Was erfahren Sie über Knut in diesem Text? Kreuzen Sie jeweils die richtige Antwort an und zitieren Sie jedes Mal eine Stelle aus dem Text, um Ihre Antwort zu begründen. Knut ist... Zitat a) alt jung b) hungrig satt c) dumm intelligent d) sauber schmutzig e) hilfsbereit unfreundlich
4 3- Richtig oder falsch? Kreuzen Sie an und begründen Sie Ihre Wahl mit einem Zitat aus dem Text. a) An diesem Montag lernt der Erzähler einen Obdachlosen kennen. richtig falsch Zitat b) Der Erzähler hatte zuerst keine Lust, sich mit Knut zu unterhalten. c) Mathematik ist das Lieblingsfach des Erzählers. d) Der Erzähler freut sich darüber, nach der Schule Knut wiederzusehen. e) Der Erzähler versteht am Ende, dass einige Fragen unangenehm sein können. 4- Welche Stelle im Text zeigt, dass der Erzähler... a) sich um Knut Sorgen macht. b) neugierig ist. c) zugleich Abscheu und Faszination für Knut empfindet. d) Vertrauen zu Knut hat.
5 5- Wie interpretieren Sie folgende Zitate im Kontext? Kreuzen Sie die richtige Antwort an. a) Ich hatte ein gutes Gefühl" (Zeile 25) Der Erzähler fühlt sich nicht wohl. Der Erzähler bekommt bestimmt eine gute Note. Der Erzähler ärgert sich über die Mathearbeit. b) Für manche Menschen ist halt der Gang zum Sozialamt unwürdig." (Zeile 49) Einige Leute leben nur von der Sozialhilfe. Arme Leute gehen gern zum Sozialamt. Viele Leute schämen sich, um Hilfe zu bitten. c) An diesem Tag war ich richtig unzufrieden mit mir." (Zeile 51) Der Erzähler hat sich Knut gegenüber falsch verhalten. Der Erzähler war nicht fleißig in der Schule. Der Erzähler hat sich mit Sebastian gestritten. 6- Übersetzen Sie den Text ins Französische von Wir schrieben die Arbeit" (Zeile 25) bis Aber da war niemand." (Zeile 30)
6 II- EXPRESSION 1- Einmal fragte ich ihn, warum er so lebe" (Zeile 43). Wie stellen Sie sich das frühere Leben von Knut vor? Wie können Sie erklären, dass er jetzt auf der Straße lebt? Stellen Sie Hypothesen auf! (mindestens 100 Wörter) 2- Behandeln Sie das Thema a) oder das Thema b) (mindestens 150 Wörter) a) Erzählen Sie das Ende der Woche mit Knut. Schreiben Sie, wie der Erzähler und Knut die nächsten Tage verbringen, was sie zusammen unternehmen und was aus dieser Begegnung wird. b) Der Erzähler spricht mit seinen Eltern von Knut, dessen Situation er schlimm findet. Er würde ihm gern helfen, aber seine Eltern sind dagegen. Schreiben Sie einen Dialog zwischen dem Erzähler und seinen Eltern.
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