Colloquium I: Pflege
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- Carsten Hummel
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1 Colloquium I: Pflege Stand und Zukunft der Sozialpolitikforschung Deutschland 60 Jahre Bundessozialgericht Kassel, den 9. September 2014 Prof. Dr. Heinz Rothgang Zentrum für Sozialpolitik & Wissenschaftsschwerpunkt Gesundheitswissenschaften Universität Bremen
2 Inhalt I. Zur ökonomischen Absicherung der Pflegebedürftigkeit Finanzierung von Pflegebedürftigkeit im Überblick Finanzsituation der Pflegeversicherung Eigenfinanzierungsanteile der Pflegebedürftigen Prof. Dr. Heinz Rothgang 2
3 I.1 Finanzierung von Pflegebedürftigkeit Quelle: Rothgang et al. 2013: 141 Prof. Dr. Heinz Rothgang 3
4 in Mrd. Euro I.2 Finanzentwicklung der Pflegeversicherung Einführungsphase Strukturelles Defizit 6,0 5,0 4,0 3,0 KiBG Vorverlegung der Fälligkeit Beitragssatzanhebung 2,0 1,0 0,0-1,0 Leistungsdynamisierung Überschüsse 3,44 1,18 0,80 0,13-0,03-0,13-0,06-0,38-0,69-0,82-0,36 0,45-0,32 0,63 0,99 0,34 0,31 0,10 0,63 Liquidität 2,87 4,05 4,86 4,99 4,95 4,82 4,76 4,93 4,24 3,42 3,05 3,50 3,18 3,81 4,80 5,13 5,45 5,55 6,17 Prof. Dr. Heinz Rothgang 7
5 I.2 Strukturelle Einnahmeschwäche der Sozialversicherung Quelle: Rothgang & Götze 2013: 131 Prof. Dr. Heinz Rothgang 8
6 I.2 Strukturelle Finanzprobleme der Pflegeversicherung Ausgabensteigerung per annum (real) Fallzahlwachstum 1,5% + Pflegeform 0,1% + Einnahmensteigerung per annum (real) Beschäftigtenzuwachs -0,4% Leistungsdynamisierung 1,0% Lohnsteigerung 1,5% + Gesamt 2,6% Gesamt 1,1% Strukturelles Defizit: 1,5% per annum Beitragssatzsteigerung um 80% Prof. Dr. Heinz Rothgang 9
7 I.3 Konsequenz der unzureichenden Leistungsdynamisierung Eigenanteil in der stationären Pflege: nur Pflegekosten Ziel der Pflegeversicherung: Pflegebedingte Kosten im Heim werden gedeckt 1996 wurde diese Ziel teilweise noch erreicht Bereits 1999: große Deckungslücken in allen Stufen 2009: Eigenbeteiligung von Bis 2015: Weiterer Anstieg der Eigenbeteiligung in Stufe I und II Quelle: BARMER GEK Pflegereport 2012: 30, aktualisiert Prof. Dr. Heinz Rothgang 10
8 I.3 Konsequenz der unzureichenden Leistungsdynamisierung Pflegestufe Pflegeheime: Monatliche Kosten, Versicherungsleistungen und Eigenanteil in / Monat (1) (2) (3) (4)=(1)+(2)(+3) (5) (6)=(1)-(5) (7)=(4)-(5) Unterkunft und Verpflegung Pflegekosten Investitionskosten Gesamtentgelt Versicherungsleistungen Eigenanteil Pflegekosten Eigenanteil insgesamt Stufe I Stufe II Stufe III Quellen: Pflegekosten, U+V: Pflegestatistik zum Dezember 2011; Investitionskosten: Infratest für 2010 In Pflegeheimen reichen die Versicherungsleistungen inzwischen nicht einmal aus, um die Pflegekosten zu finanzieren. Insgesamt liegt der Eigenanteil in allen Stufen deutlich höher als die Versicherungsleistungen. Prof. Dr. Heinz Rothgang 11
9 I.3 Gesamtpflegekosten im Lebensverlauf Pflegebedürftiger Eigenanteil Hilfe zur Pflege Leistungen der Pflegeversicherung Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen ambulant stationär gesamt Die gesamten Lebenszeitausgaben belaufen sich auf rd. 42 Tsd. Euro für Männer und 84 Tsd. Euro für Frauen Rund die Hälfte dieser Ausgaben wird von der SPV übernommen Quelle: BARMER GEK Pflegereport 2012: Prof. Dr. Heinz Rothgang 12
10 Inhalt II. Auswirkungen der gegliederten Finanzierung auf die Versorgungsstruktur Reha vor Pflege Ambulant vor stationär Prof. Dr. Heinz Rothgang 13
11 II.1 Fehlanreize im Bereich Rehabilitation Ziel der Pflegeversicherung: Reha vor Pflege ( 5 SGB XI) Fehlanreize für Kassen: Ausgaben für Reha werden aus wettbewerblicher Krankenversicherung gezahlt und sind beitragsrelevant (MRSA) Etwaige Einsparungen bei Pflegeversicherung werden von allen Kassen gezahlt und sind nicht wettbewerbsrelevant (Ausgabenausgleich) Kassen haben Anreiz Reha zu vermeiden PfWG-Maßnahmen ( Strafzahlung ) lösen das Problem nicht Notwendig wäre Integration von Kranken- und Pflegeversicherung oder Wettbewerbliche Ausgestaltung der Pflegeversicherung Prof. Dr. Heinz Rothgang 14
12 II.2 Fehlanreize bei der medizinischen Behandlungspflege Derzeitige Regelung Medizinische Behandlungspflege (MBP) im stationären Sektor trägt die Pflegeversicherung Häusliche Krankenpflege (HKP) trägt die Krankenversicherung Stationäre Versorgung ist für Kassen günstiger, weil die HKP wegfällt und die MBP externalisiert wird Umfang der MBP ist wahrnehmbar: ca. 1,8 Mrd. pro Jahr Mögliche Lösung Pflegesätze und stationäre Pflegeleistungen sinken um MBP, Pflegeheime erhalten Pauschalen für MBP von den Krankenkassen, Kosten für HKP / MBP werden im M-RSA berücksichtigt Prof. Dr. Heinz Rothgang 15
13 Inhalt III. Weiterentwicklung der Pflegeversorgung: Finanzierung Pflege-Bahr Pflege-Vorsorgefonds Integration von Sozialer und Privater Pflegeversicherung Prof. Dr. Heinz Rothgang 16
14 III.1 Pflege-Bahr Pflege-Bahr = steuerfinanzierter pauschalen Zuschuss (5 / Monat) zu privater nicht obligatorischer Pflegezusatzversicherung vor, wenn 4 Bedingungen erfüllt sind: 1. Die Monatsprämie muss mindestens zehn Euro im Monat bzw. 120 Euro im Jahr betragen. 2. Im Pflegefall müssen in Pflegestufe III mindestens 600 Euro als monatlicher Leistungsbetrag ausgezahlt werden. 3. Niemand darf von den privaten Versicherungsunternehmen aus gesundheitlichen oder Altersgründen abgelehnt werden (Kontrahierungszwang). 4. Auf Risikozuschläge und Leistungsausschlüsse wird seitens der Versicherer verzichtet. Eine Prämiendifferenzierung nach Alter ist aber möglich. Prof. Dr. Heinz Rothgang 17
15 III.1 Pflege-Bahr ein untaugliches Instrument (Erwartbare) Inanspruchnahme ist gering Erwartung für 2013: 1,5 Mio. Verträge Tatsächlich: < 400 Tsd. Verträge Pflege-Bahr ist Produkt für Minderheit Verteilungswirkungen: inverse Umverteilung Inanspruchnahme eher durch Einkommensstärkere Einkommensschwache finanzieren steuerliche Förderung für Einkommensstarke Mögliches Marktversagen wegen adverser Selektion Wegen fehlender Risikoprüfung: attraktiv für schlechte Risiken Entsprechende Prämien sind am Markt nicht durchsetzbar Fehlkalkulation wird erst nach Ablauf der Karenzzeit sichtbar Dann sind die Kunden schon gefangen Prof. Dr. Heinz Rothgang 18
16 III.1 Pflege-Bahr ein untaugliches Instrument Leistungshöhe ist unzureichend Quelle: Rothgang et al Es ist nicht möglich, die Lücke ein halbes Jahrhundert im Voraus zu berechnen private kapitalgedeckte Versicherung ist ungeeignet Prof. Dr. Heinz Rothgang 19
17 III.2 Pflegevorsorgefonds Regelungen des Pflege-Stärkungsgesetzes Ab Beitragssatzerhöhung um 0,1 Beitragssatzpunkte; Einnahmen gehen in den Pflegevorsorgefonds Einnahmen belaufen sich initial auf ca. 1,2 Mrd. Euro Einnahmen befristet bis 2033 Fonds wird verwaltet von der Bundesbank Von 2035 wird maximal ein Zwanzigstel des dann akkumulierten Kapitals jährlich zur Verhinderung von Beitragssatzsteigerungen der Pflegeversicherung zur Verfügung gestellt Sind die Mittel verbraucht, wird der Fonds geschlossen Prof. Dr. Heinz Rothgang 20
18 III.2 Pflegevorsorgefonds Effekte und Probleme 1. Es ist unmöglich, den Fonds vor dem Zugriff der Politik zu schützen (so auch die Bundesbank) 2. Der Beitragssatzeffekt ist vernachlässigbar Für rund 20 Jahre liegt der Beitragssatz um 0,1 Beitragssatzpunkte höher als ohne den Fonds Für den nächsten gut 20 Jahre liegt er um 0,1 Beitragssatzpunkt niedriger 3. Der Fonds ist leer, wenn die Zahl der Pflegebedürftigen maximal ist. Der Beitragssatz allerdings wird auch anschließend nicht sinken. Prof. Dr. Heinz Rothgang 21
19 III.2 Pflegevorsorgefonds: Beitragssatzeffekte Quelle: Rothgang 2014 (Highlights) Prof. Dr. Heinz Rothgang 22
20 III.2 Pflegevorsorgefonds Quelle: Rothgang & Arnold 2011: Gutachten Pflegebürgerversicherung, S. 68 Die Zahl der Pflegebedürftigen sinkt ab 2055 wieder Die Zahl der Beitragszahler aber auch Der Beitragssatz sinkt nie wieder Es gibt keinen Pflegelastenberg, der untertunnelt wird, sondern den Anstieg auf ein Hochplateau Prof. Dr. Heinz Rothgang 23
21 III.3 Integration von Sozial- und Privatversicherung 1994 wurde eine Pflegevolksversicherung in der Gestalt zweier Versicherungszweige geschaffen (BVerfG) Dies erfordert Solidarität zwischen beiden Zweigen. Aber: Privatversicherung profitiert von mehrfacher Risikoselektion (Beitragspflichtige) Einkommen der Privatversicherten übersteigen die der Sozialversicherten um 60% Privatversicherte haben die günstigere Altersstruktur Privatversicherte weisen einen höheren Männeranteil auf Privatversicherte haben ein niedrigeres altersspezifisches Pflegerisiko Prof. Dr. Heinz Rothgang 24
22 III.3 Sozial- und Privatversicherung: Prävalenzvergleich Quelle: BARMER GEK Pflegereport 2013: 89 Prof. Dr. Heinz Rothgang 25
23 III.3 Sozial- und Privatversicherung: Altersstruktur 2008 Quelle: Jacobs & Rothgang 2011: 19 Prof. Dr. Heinz Rothgang 26
24 III.3 Integration von Sozial- und Privatversicherung Hätten die Sozialversicherten die Prävalenzen der Privatversicherten, läge die Fallzahl um ein Viertel niedriger. Hätten die Privatversicherten die Prävalenzen der Sozialversicherten, läge die Fallzahl um die Hälfte höher. Hätte die gesamte deutsche Bevölkerung die Prävalenzen der Privatversicherten, läge die Fallzahl um ein Drittel niedriger. Quelle: BARMER GEK Pflegereport 2013: 55 Prof. Dr. Heinz Rothgang 27
25 III.3 Integration von Sozial- und Privatversicherung 1994 wurde eine Pflegevolksversicherung in der Gestalt zweier Versicherungszweige geschaffen (BVerfG) Dies erfordert Solidarität zwischen beiden Zweigen. Aber: Privatversicherung profitiert von mehrfacher Risikoselektion Im Ergebnis: Ausgaben pro Versichertem sind in der Sozialversicherung viermal so hoch wie bei Privatversicherten (bei Berücksichtigung der Beihilfe: dreimal so hoch) Im Umlageverfahren wäre Beitragssatz bei Privatversicherten nur bei 20% des Beitragssatzes in der Sozialversicherung Mindestens ein Finanzausgleich zwischen den Systemen ist zwingend und war 2005 schon einmal vorgesehen Prof. Dr. Heinz Rothgang 28
26 Inhalt IV. Reformbedarf neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff Prof. Dr. Heinz Rothgang 29
27 IV. Reform: neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff Hauptproblem des alten Pflegebedürftigkeitsbegriffs: Unzureichende Berücksichtigung von Demenz Erfolgte Reformschritte (2002, 2008, 2013) haben das Problem praktisch weitgehend gelöst. Beispiel: Stufe 0 mit Demenz: Seit 2008: 45b SGB XI: 200 Euro besondere Betreuungsleistung Seit 2013: 123 SGB XI: 225 Euro Pflegesachleistung Stufe I: 36 SGB XI: 450 Euro Sachleistung Kaum noch ein Unterschied Aber: neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff schafft Ordnung im Leistungsrecht (kodifikatorische Leistung) führt noch zu leichten Verbesserungen für Menschen mit Demenz Prof. Dr. Heinz Rothgang 30
28 IV. Reform: neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff Noch ungelöste Fragen sind zu klären, insbesondere Leistungshinterlegung der neuen Pflegegrade Vergütungsrecht im stationären Sektor Schnittstellenprobleme zur Sozialhilfe Pflegebedürftigkeitsbegriff ist Instrument zur gerechten Zuteilung knapper Mittel nicht mehr und nicht weniger Zentrale Strukturprobleme sind zusätzlich zu lösen Anreize für Rehabilitation Vorrang der häuslichen Versorgung Quartierskonzepte (Re)Kommunalisierung der Pflege Case und Care Management Drohender Pflegenotstand Prof. Dr. Heinz Rothgang 31
29 Schluss Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Prof. Dr. Heinz Rothgang 32
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