Die Militarisierung Nordeuropas

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1 Die Militarisierung Nordeuropas Experte Professor Mikkel Vedby Rasmussen Region: NATO 14. Sept. 2016: Ein 160 Mann starkes Team des schwedischen Skaraborg-Regiments schifft am Hafen von Visby auf der strategisch wichtigen Ostsee-Insel Gotland aus (Foto: dpa) Nordeuropa verwandelt sich rasch zum Schwerpunkt der erneuten Konfrontation zwischen Russland und dem Westen. Das Baltikum und das nördliche Skandinavien stellen unterschiedliche Regionen dar, aber sie sind beide die wahrscheinlichsten Konfliktgebiete zwischen der NATO und Russland. Nordeuropa ist für die heutige Konfrontation mit Russland das, was Mitteleuropa während des Kalten Krieges mit der Sowjetunion war. Und das könnte eine gute Nachricht sein. Wie gut sie ist, hängt davon ab, ob sich Schweden und Finnland dafür entscheiden, der NATO beizutreten. Iskander-Kurzstreckenraketen haben sich zu einem bevorzugten Mittel für Russland entwickelt, wenn es darum geht, militärische Fähigkeiten zu demonstrieren und der Kreml stationiert sie in der Enklave Kaliningrad mit derselben Gravitas und Routine wie das Weiße Haus, wenn es eine Trägergruppe zu irgendeinem Hot Spot entsendet. Dieser Eindruck entstand Anfang Oktober, als Russland die Iskander verlagerte, um seinen Standpunkt zur amerikanischen Kritik an seiner Bombardierung von Aleppo deutlich zu machen. Barbarismus war der Begriff, den der US- Botschafter bei den Vereinten Nationen verwendete, um diese Luftangriffe zu beschreiben, was dazu führte, dass US-Außenminister John Kerry die Gespräche mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow abbrach. Die Iskander haben SEITE 1

2 eine Reichweite von 700 Kilometern, was sogar Berlin in die Reichweite dieser nuklearwaffenfähigen Raketen bringt, sobald sie in Kaliningrad stationiert sind. Und dem Kreml reichte das nicht. An demselben Tag, an dem die US-Spionagesatelliten die Iskander in Kaliningrad entdeckten, verkündete das russische Ministerium für Zivile Verteidigung, eine Übung zu atomaren, chemischen und biologischen Notfällen zum Schutz von Militärs und Zivilisten in kritischen und potenziell gefährdeten Einrichtungen abzuhalten. Etwa Rettungskräfte sollten an der Übung teilnehmen, die in Gebieten mit insgesamt etwa 40 Millionen Einwohnern durchgeführt werden soll. Da Moskau die angeblichen Kriegstreiber im Westen vorgeführt hatte, waren die Raketenstationierung und die zivilen Verteidigungsübungen die Art des Kremls zu sagen, dass er keine Angst vor einer Eskalation habe. Verteidigungspolitischer Zug Wenn sich die Spannungen zwischen Russland und der NATO in einen offenen Krieg verwandeln sollten, dann ist Nordeuropa die östliche Ostsee und der ferne Norden, um genau zu sein der Ort, wo diese Auseinandersetzung ihren Anfang nehmen wird. Das war der Punkt, den Moskau hervorheben wollte. Die Iskander- Stationierung entsandte die Botschaft, dass Syrien nicht isoliert betrachtet werden sollte, sondern als Teil einer allgemeineren Konfrontation zwischen dem Kreml und dem Westen. Der Zug war clever, denn er stellte die Verbindung zu einem Gebiet her, in dem Russlands Präsenz stark verankert ist im Gegensatz zu seiner wackligen Stellung in Syrien. Bei näherer Betrachtung war es auch ein defensiver Zug. Die Iskander sind ganz klar Offensivwaffen, aber die russische Regierung wies untypischerweise darauf hin, dass die Raketen bereits mehrfach in Kaliningrad stationiert worden waren und dass Russland jedes Recht habe, Raketen überall auf seinem eigenen Territorium dort zu stationieren, wo es will. Was Moskau nicht tat, war, die Bereitschaft seiner Truppen im Westlichen Militär-Distrikt zu erhöhen oder die Luftoperationen im Ostsee-Raum auszuweiten. Ein russischer Jet verletzte den estnischen Luftraum in der Nähe der Insel Vaindloo am 6. Oktober, aber dies war kaum so ein ernster Zwischenfall wie der Niedrigflug einer russischen Su-24 über der USS Donald Cook vor der polnischen Küste im April. Die Tatsache, dass der Kreml sich für Raketen und zivile Verteidigungsübungen entschieden hat, ist vielleicht weniger interessant als seine Entscheidung, die hybriden Kriegsführungskapazitäten, die die NATO-Planer am meisten fürchten, nicht auszubauen. Stattdessen ist Moskaus Säbelrasseln in einem Gebiet veranstaltet worden, in dem die US-geführte Allianz eine vernichtende Überlegenheit hält. Indem er sich an ein Drehbuch des Kalten Krieges klammert, offenbart der Kreml weniger über seine strategische Reichweite als über die Grenzen seiner Macht. SEITE 2

3 Wenn die Speznas-Kommandos in den baltischen Ländern auf die Straße gegangen wären, wenn das polnische Internet abgestürzt oder die Armee im Westlichen Militärbezirk mobilisiert worden wäre, dann würden die Lichter im NATO- Hauptquartier in Brüssel bis spät in die Nacht brennen. All dies wären eindeutige Demonstrationen der Fähigkeit Russlands, die nordöstliche Flanke des Bündnisses zu destabilisieren. Stattdessen hat sich Moskau, zumindest vorläufig, dafür entschieden, es anders zu machen. Die Bedeutung dieser Entscheidung für das militärische Gleichgewicht in Nordeuropa sollte nicht übersehen werden. Baltisches Wettrüsten Russland dominierte während des Kalten Krieges das östliche Baltikum, und ein Großteil seiner militärischen Muskelspiele beschäftigt sich mit der Wiederherstellung der operativen Muster aus dieser Zeit. Der Westliche Militärbezirk wurde reorganisiert, um die Verwendung von Divisions-Formationen zu ermöglichen, womit die Landstreitkräfte für die Art von großflächigen Operationen umstrukturiert wurden, die in einem Konflikt mit der NATO erforderlich wären. Die Länder des Ostseeraums hatten es versäumt, in derartige Kapazitäten zu investieren, und so wurden sie von der neuen russischen Haltung kalt erwischt. Diese Situation ändert sich jedoch schnell. Abgesehen von Dänemark erhöht jedes NATO-Land in der Region zusammen mit Schweden und Finnland sein Verteidigungsbudget. Sogar die finanziell eingespannten Dänen entschieden sich, 27 F- 35-Jets von Lockheed für 3 Milliarden Dollar zu kaufen und das ist nur ein Beispiel für die wachsenden Investitionen in militärische Hardware in der Region. Am 15. Oktober hat Deutschland angekündigt, 1,5 Milliarden Euro für fünf neue Korvetten auszugeben eine Schiffsklasse, die sich gut für den Einsatz in der Ostsee eignet. Die lokalen Waffenausgaben werden durch die erneuerte Verpflichtung zur Verteidigung des Baltikums seitens der USA und der NATO ergänzt. Auf ihrem Juli-Gipfel in Warschau stimmte die Allianz einer ständigen Präsenz von NATO-Bodeneinheiten in den baltischen Ländern zu und sie erhöhte die Flotten- und Luftwaffen- Stationierungen in der Region. Kalkulieren wir hier noch die vorhersehbare russische Antwort mit ein, die vermutlich die permanenten Stationierung der Iskander in Kaliningrad mit beinhalten wird, dürfen wir in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine starke Remilitarisierung des Ostseeraums erwarten. Dieser Trend wird sich fortsetzen, unabhängig davon, wie sich die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen nach den US-Präsidentschaftswahlen entwickeln. Aufträge für neues Equipment wurden bereits gestellt und Mittel genehmigt, genauso, wie Pläne für den Einsatz und die Unterstützung der NATO-Truppen gemacht wurden, die mit großer Wahrscheinlichkeit noch vergrößert werden. Dies ist die Art des militärischen Aufbaus, den die USA und vor allem die NATO besser SEITE 3

4 MITTWOCH, 9. NOVEMBER 2016 als jeder andere in der Welt beherrschen. Mit der Zeit werden Washington und Brüssel ihre Präsenz in der Region weiter ausbauen. Orwellsche Botschaft So wie die Gegenseiten des Kalten Krieges ihre militärische Präsenz an der Front mitten durch Deutschland aufbauten denn dort sollte ein Dritter Weltkrieg wahrscheinlich begonnen und entschieden werden, werden die Stationierungen im baltischen Raum zunehmen, denn dort bergen die geografischen Gegebenheiten und die Umstände das größte Konfliktrisiko zwischen Russland und der NATO. Wie während des Kalten Krieges macht die Militarisierung des Gebietes an sich eine militärische Konfrontation möglich. Der Dritte Weltkrieg kam in Mitteldeutschland nicht zustande, weil die hohe militärische Bereitschaft beide Seiten davon abhielt, sich der Phantasie hinzugeben, der Krieg sei eine wünschenswerte Möglichkeit, Streitigkeiten zu lösen. In diesem Sinne führte die Militarisierung der Ost-West-Beziehungen tatsächlich zur Stabilität und sie diente sogar dazu, das kommunistische System am Leben zu halten, dessen militärische Fähigkeiten seinen sozialen Zusammenhalt überdauerten. Eine ähnliche Dynamik könnte jetzt auftreten, und dies wäre sehr den Zielen des russischen Präsidenten Wladimir Putin dienlich, der diese Logik in den 1980-er Jahren als KGB-Offizier in Deutschland beobachtete. Es gibt kaum etwas besseres, um ihn an der Macht zu halten, als eine nationale Mobilisierung gegen den Westen. In diesem Zusammenhang war wohl die zivile Verteidigungsübung die vielleicht bedeutendste der jüngsten russischen Aktionen mit ihrer Orwellschen Botschaft der Stärke durch Einheit gegen eine äußere Bedrohung. Prinz Michael von Kent, Oberbefehlshaber der britischen Marine-Reserve, unterhält sich mit Kommandos der Royal Marine während einer Arktis-Trainingsübung in Nord-Norwegen (Foto: dpa) SEITE 4

5 Arktische Alternative In der Arktis hat Russland mehr Spielraum für konventionelle Operationen als in den flachen Gewässern und dem begrenzten Gebiet der Ostbaltischen Länder. Der ferne Norden ist traditionell eine Marine-Domäne, denn Russland hat nur wenige Infiltrations-Möglichkeiten in den verbotenen Arealen entlang seiner Grenzen mit Finnland und Norwegen. Trotz der Medienberichte, nach denen die USA erwägen, ihre Marines nach Nord-Norwegen zu entsenden, gibt es hier wirklich keine Notwendigkeit für noch mehr Truppen. Das Gebiet wird bereits durch moderne und gut ausgestattete lokale Kräfte verteidigt, die zur Verstärkung bis zu US- Marines einfordern können. Diese könnten kurzfristig eingeflogen und eingesetzt werden, dank des Equipments, das man in den Höhlen oberhalb des Polarkreises versteckt hat. Auf dem Meer steht Russland vor weitaus weniger Hindernissen, es kann leicht den gesamten Arktischen Ozean dominieren. Genau wie während des Kalten Krieges konzentriert sich die NATO darauf, die so genannte nordatlantische Barriere zu kommandieren, die von Norwegen über Island und Grönland verläuft, bevor sie sich westwärts nach Nord-Kanada und Alaska erstreckt. Russland hat auch hier die westliche Luftverteidigung ausgetestet, wie in der Ostsee, doch dem Kreml fehlen die Kapazitäten, um westlich von Island mehr als ein Ärgernis darzustellen. Da die Verhandlungen über die Seegrenzen in der Arktis noch andauern, gibt es immer wieder die Möglichkeit erneuter Spannungen in dieser Region, die aber nie so volatil oder potenziell gefährlich ausfallen würden wie in der Ostsee. Schweden und Finnen Die stabilen und wohlhabenden Länder Nordeuropas werden vielleicht das größte Problem damit haben, zum Schwerpunkt der geopolitischen und militärischen Spannungen in Europa geworden zu sein. Dies war während des Kalten Krieges nie der Fall, als die Ostsee nur ein Nebenschauplatz der Konfrontation mitten in Deutschland war. Die rasche Militarisierung der Ostsee sorgt dafür, dass sich diese Spannungen nicht so bald abschwächen werden. Die Bewohner der Region können Trost aus Deutschlands Erfahrungen aus dem Kalten Krieg schöpfen, die nahelegen, dass stabile und gut bewachte Zäune gute Nachbarn machen. Für Schweden und Finnland lautet die Frage nicht so sehr, auf welcher Seite des Zauns sie sich befinden, sondern wie man ihn beschützen muss. Beide Länder sind EU-Mitglieder und sie unterhalten starke Beziehungen zu den USA und zur NATO, doch keines von ihnen gehört derzeit der Nordatlantik-Allianz an. Beide Länder haben versucht, nach der Intervention Russlands in der Ost-Ukraine ihre engen Verbindungen zur NATO zu demonstrieren, indem sie an Übungen teilnahmen und eine engere Zusammenarbeit vereinbarten. So haben sich zum Beispiel Dänemark (ein NATO-Mitglied) und Schweden gegenseitig die Freiheit eingeräumt, den Luftraum des jeweils anderen bei der Verfolgung russischer Eindringlinge zu SEITE 5

6 nutzen. Während Schweden manchmal als ein Beinahe-Mitglied der NATO bezeichnet wird, gelten dieselben Grundsätze für die Mitgliedschaft wie bei einer Schwangerschaft: Entweder man ist es oder man ist es nicht. Die Mitgliedschaft macht den entscheidenden Unterschied aus, vor allem in Bezug auf integrierte Kommandostrukturen und Zielsysteme. In dem beschränkten operativen Milieu der Ostsee offeriert das Versagen, Schweden und Finnland in die westliche Schlachtenmanagement-Systeme aufzunehmen, Russland die Möglichkeit, dieses Versäumnis auszunutzen. Ob Schweden und Finnland der NATO beitreten, ist daher wichtig, um festzustellen, wie stabil die nordeuropäische Front sein wird. Die beiden Länder werden mit Sicherheit gemeinsam beitreten oder gemeinsam außen vor bleiben. In diesem Sinne scheinen die Politiker in Stockholm und Helsinki zu hoffen, dass ihre Counterparts den ersten Vorstoß unternehmen werden. Wenn eine der beiden Hauptstädte ihre Bereitschaft zur Mitgliedschaft erklärt, wird es viel einfacher für die andere sein, ihr zu folgen. Dieser Prozess wird durch die öffentliche Debatte beschleunigt, was es zunehmend wahrscheinlich macht, dass die Aufnahmeanträge in den nächsten Jahren gestellt werden könnten. Russlands Reaktion wäre sicherlich negativ, aber der Kreml könnte nur sehr wenig tun, um eine rasche Einbeziehung beider Länder in die nordatlantische Allianz zu verhindern. Wenn Schweden und Finnland dann Mitglieder wären, würde ihre Einbeziehung der NATO das militärische Kommando über das gesamte Gebiet geben, womit der Manövrierraum Russlands stark eingeschränkt wäre. Die Abschreckung wäre gleich viel glaubwürdiger. Wenn Schweden und Finnland nicht beitreten, wird das Kampfmanagement komplizierter, und die NATO müsste mehr Kräfte in das Gebiet entsenden. Russland könnte diese vermehrte Präsenz bei Krieg und im Frieden ausnutzen, um einen Keil zwischen die nordischen Länder und den Westen zu treiben sowohl in militärischer als auch in außenpolitischer Hinsicht. Die Freiheit, eine Politik unabhängig von den USA und der NATO zu verfolgen, ist etwas, das viel Anklang bei zahlreichen schwedischen und finnischen Wählern findet. Mehr Bemühungen, mit Russland zusammenzuarbeiten oder diese Beziehungen sogar einem Neustart zu unterziehen, würde eine NATO-Mitgliedschaft für diese Länder weniger furchteinflößend machen. SEITE 6