Virtuelle Patienten könnten Gesundheitssystem revolutionieren
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- Gudrun Morgenstern
- vor 6 Jahren
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1 Medizintechnologie.de Personalisierte Medizin Virtuelle Patienten könnten Gesundheitssystem revolutionieren An virtuellen Patienten kann durchexerziert werden, welche Therapie für den einzelnen Patienten am besten ist. Quelle: kentoh/fotolia Per Mausklick zur richtigen Behandlung das ist die Vision des Erbgutforschers Hans Lehrach. Der emeritierte Direktor am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin will virtuelle Patienten bauen. Ein digitaler Zwilling für jeden Menschen habe nicht nur das Potenzial, optimale Therapien zu finden, sondern könnte auch das Gesundheitssystem revolutionieren: Denn je gezielter und wirkungsvoller Therapie und Prävention, desto besser und kostengünstiger werde die medizinische Versorgung. von Anja Speitel Wie sieht Ihr virtueller Patient aus? Prof. Hans Lehrach: Basis des virtuellen Patienten ist seine Genomsequenz und ein Computersystem, das im Prinzip jede Zelle modellieren kann. Komplexere multizelluläre Vorgänge können durch parallel laufende und interagierende multiple Modelle dargestellt werden. Den Patienten stellen wir dann als interagierende Zellen dar. Solche Computersimulationen sind zum Beispiel für die Wettervorhersage oder in
2 der Autoindustrie schon absolut gängig: Die Sicherheit eines Autos testet man beim virtuellen Crashtest, indem man es gegen virtuelle Bäume, Wände oder andere virtuelle Autos fahren lässt. Ähnlich machen wir das auch im Patientenmodell: Wir versuchen den einzelnen Menschen möglichst genau zu charakterisieren und geben ihm dann virtuelle Medikamente. So kann man systematisch durchprobieren, welche Therapie für den einzelnen Patienten am besten ist. Wenn der virtuelle Patient tot umfällt, werden wir dieses Medikament nicht für den realen Patienten verwenden. Computermodelle erlauben uns also, Fehler zu machen und sie zu korrigieren. Wir wenden sie in zig Bereichen an, nur nicht in der Medizin und Medikamentenentwicklung. Kommt Ihr virtueller Patienten schon realen Patienten zugute? Wir haben am Max-Planck-Institut ein Spin-off, Alacris Theranostics. Dieses Startup verwendet solche Modelle ( ModCell ), um die Behandlung von Krebspatienten zu verbessern. Hierfür fließen neben der DNA des Patienten auch genetische Informationen des Tumors ins Modell. Wir setzen es bereits in Kollaboration mit der Charité und anderen Kliniken ein, arbeiten zum Teil auch mit deren Patienten zusammen wenn sie Prof. Hans Lehrach leitete einst das deutsche denn zu uns kommen. Das sind Human-Genom-Projekt und will nun virtuelle noch relativ wenige, da es die Patienten bauen. meisten Menschen ungewöhnlich Quelle: Fotostudio Ludwig finden, dass sie in Deutschland für wichtige Untersuchungen selbst zahlen müssen. Sie gehen davon aus, dass sie mit den Behandlungsmethoden, die die Krankenkasse finanziert, ausreichend gut versorgt sind. Das stimmt aber leider oft nicht. Hinzu kommt, dass 25 Prozent aller Tumore sogenannte seltene Tumore sind, für die es momentan keine Standard-Behandlung gibt. Hier erhoffen wir uns, die Therapie- Möglichkeiten vergrößern zu können, denn eine Stärke des Modells ist, dass es auch Wirkstoffe auswählt, die noch gar nicht gegen Krebs zugelassen sind. Bei welchen Erkrankungen könnte das Modell noch eingesetzt werden? Im Prinzip sollte man es bei allen Erkrankungen einsetzen können. Wir sind bei Autoimmunerkrankungen schon sehr weit, da wir das Immunsystem genau charakterisieren können. Um es auch zu modellieren, fehlt es momentan aber leider an finanziellen Mitteln. Könnte man den virtuellen Patienten auch mit weiteren Daten füttern, wie Blutdruck, Puls, Lebensstil und so weiter?
3 Konzeptionell versuchen wir alles zu integrieren, was integrierbar ist. Der virtuelle Patient sollte stets Updates bekommen, wenn der reale Patient Untersuchungen gemacht hat. Es sollten also Laborwerte, MRT- oder PET/CT-Bilder, etc. einfließen. Auch Sensoren können integriert werden, die etwa Blutdruck, Puls oder Aktivität messen das sind zum Beispiel bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen wichtige Daten. Und was ist mit der Datenflut, die heute im Alltag schon über Smartphones, Wearables und soziale Netzwerke generiert wird? Stichwort Big-Data-Analysen. Landläufig versteht man unter Big Data große Mengen relativ schlecht charakterisierter Daten. Die sind o.k., wenn man zum Beispiel eine Verkaufsstrategie plant. Denn dabei geht es nicht um Leben und Tod. Für die Behandlung von Patienten ist diese Art von Big Data aber nicht individuell und genau genug: Eine Menge an Daten von einer großen Gruppe von Patienten zu sammeln und dann Algorithmen drüber laufen zu lassen, um die richtige Behandlung für einen einzelnen Patienten zu finden, wird in den meisten Fällen nicht wirklich funktionieren. Das wäre ungefähr so, als würden Sie Daten aus Europa verwenden, um das Wetter in Nordamerika vorherzusagen. Jeder Mensch ist anders, jeder Tumor auch. Wir brauchen deshalb sehr genaue Daten des einzelnen Patienten, die am Individuum gemessen werden. Daher tendiere ich dazu, zwischen Big Data und Deep Data zu unterscheiden. Viele sehen jedoch großes Potenzial in Big Data, um die Medizin zu verbessern. Big Data hilft insofern, dass die Leistung der Computersysteme ungefähr tausendfach ansteigt alle zehn Jahre. Das Problem mit Big-Data-Analysen ist aber, dass sie dort hunderte Parameter haben: Höhere Bildung zum Beispiel korreliert mit höherem Einkommen und besserer Gesundheit. Nehmen Sie sich dann einen Parameter aus diesen Zusammenhängen heraus, finden Sie weitere Wechselwirkungen und könnten daraus schließen, dass das Fahren von teuren Autos die Gesundheit fördert. Also, es ist extrem schwierig, da wirklich treffende Aussagen für den Einzelnen zu machen. Das einzige, was wirklich funktionieren wird, sind individuelle Modelle, also der virtuelle Patient. Und für den sind Daten anderer Patienten völlig unwichtig. Daher: Deep Data statt Big Data. Deep Data sind genaue Untersuchungen, die wir am einzelnen Patienten durchführen. Big Data sind Daten, die zufällig anfallen und aus denen man versucht, einen Rest von Sinn zu kratzen. Wer profitiert am meisten von Deep Data, ergo dem virtuellen Patienten? Ganz klar der Patient! Aber auch der Arzt, weil er seinen Job besser erfüllen kann: Er kann so personalisiert behandeln und nicht nur aufgrund von Erfahrungen und Statistiken. Bislang ähnelt die Medikamentenauswahl doch Kaffeesatzleserei: Patienten bekommen Medikamente, die bei ihnen nicht wirken oder sogar negative Auswirkungen bis zum Tod haben können. Fast Menschen in Europa sterben pro Jahr an Adverse drug reaction! Dies verursacht also mehr Todesfälle als Darmkrebs, die zweittödlichste Krebserkrankung in Europa! Die ökonomischen Kosten werden pro Jahr allein in den USA auf 330 bis 1130 Milliarden US-Dollar geschätzt. Wir haben also enorme Gesundheitskosten aufgrund der Tatsache, dass wir nicht imstande sind sicherzustellen, dass Patienten Medikamente bekommen, die ihnen wirklich helfen und
4 sicherzustellen, dass Patienten Medikamente bekommen, die ihnen wirklich helfen und keine gefährlichen Nebenwirkungen haben. Insofern würden auch die Krankenkassen und das gesamte Gesundheitssystem davon profitieren, wenn wir Therapien am virtuellen Patienten testen, bevor wir sie am realen Patienten ausprobieren. Die momentane Situation gleicht einem Crashtest mit menschlichen Dummys. Das ist eine Katastrophe. Wenn sich mit dem virtuellen Patienten prognostizieren lässt, welche Krankheiten ein Mensch entwickeln wird und dass diesem dann nur besonders teure Therapien helfen werden, sind das sehr sensible Daten. Wie sollte da der Datenschutz geregelt werden? Die Daten sollten Eigentum des Patienten sein, damit er entscheiden kann, wem er diese Daten gibt. Natürlich sollte er sie Ärzten geben, damit diese ihn optimal behandeln können. Vielleicht stellt er sie auch Firmen für die Entwicklung von Medikamenten zur Verfügung. Der Gesetzgeber müsste regeln, dass diese Daten nicht negative Auswirkungen für den Patienten haben können, also Krankenversicherer Menschen nicht ausschließen dürfen, weil sie sich als potenziell zu teuer erweisen. Ich finde, der Datenschutz wird überhöht und hat in seiner momentanen Form wahrscheinlich bereits tausende Menschenleben gekostet: Wenn der eine Arzt nicht weiß, dass der andere Arzt bei einem Patienten zum Beispiel eine Überreaktion auf ein Antibiotikum festgestellt hat, kann das zum Tod des Patienten führen! Der Datenschutz ist vor allem ein Problem der Gesunden. Wenn Menschen schwer erkrankt sind, ist es ihnen nicht wichtig, was mit ihren Daten passiert. Die wollen wieder gesund werden! Außerdem kann man Daten pseudo-anonymisieren, sodass nur die Ärzte wissen, welche Daten zu welchem Patienten gehören. Um Ihr Modell allgemein anzuwenden, müsste jeder Patient seine DNA sequenzieren lassen. Bringt dies nicht wahnsinnig hohe Kosten mit sich? Die Gesundheitssysteme Europas kosten pro Tag 4,5 Milliarden Euro! Unglaublich viel Geld. Ich schätze, dass die Hälfte dieser Kosten entstehen, weil Patienten Medikamente bekommen, die bei ihnen nicht wirken oder negative Auswirkungen bis hin zum Tod haben. Zudem steigen die Gesundheitskosten jedes Jahr um circa zwei Prozent schneller als das Bruttonationalprodukt. Den Effekt der demographischen Entwicklung eingerechnet, können wir heute schon voraussagen, dass unser jetziges Gesundheitssystem spätestens in 20 Jahren zusammenbrechen wird. Wir haben also eine völlig unhaltbare Situation und durch den enormen Technologie-Fortschritt jetzt die Chance, diese dramatisch zu verbessern: Wenn Sie Krankheiten vermeiden oder möglichst früh erkennen können und jeden Patienten optimal behandeln, bekommen Sie eine viel bessere medizinische Versorgung und längere Zeit, um im Arbeitsprozess zu bleiben. Also es gibt gar keinen Zweifel, dass die personalisierte Medizin der Weg ist, den wir gehen müssen. Wir können vor allem Prävention und Medikamentenbehandlung auf eine ganz neue Basis stellen. Das kann sowohl für das Individuum lebensrettend sein als auch für Gesellschaften. Mehr über Big Data auf Medizintechnologie.de Wie Big Data das Geschäft verändert: Der Angriff der Giganten Was kostet eine DNA- Sequenzierung denn heute?
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