Professur Allgemeine und Biopsychologie. Institut für Psychologie Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften

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1 Professur Allgemeine und Biopsychologie Institut für Psychologie Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften Master-Vorlesung The Origins of Attachment Theory: John Bowlby and Mary Ainsworth SoSe Juni Prof. Dr. Udo Rudolph

2 Ausgangspunkt: These 1: Es gibt nur wenige echte Theorien in der Psychologie (i.e.: Theorien, die diese Bezeichnung verdienen). These 2: Die Bindungstheorie ist eine solche echte Theorie, die diesen Namen verdient. These 3: Dies ist einer Reihe ganz verschiedener Umstände zu verdanken: a. Den beteiligten Personen allen voran Bowlby und Ainsworth. b. Vor-Arbeiten und früheren Beobachtungen durch andere. c. Verschiedene begünstigende Faktoren und Einflüsse. d. Sehr viel Zeit. e. Geistige Offenheit und die Abwesenheit von Schubladendenken. 2

3 Zur Person von John Bowlby ( ): Englischer Forscher, ursprünglich Mediziner und Psychoanalytiker (Ausbildung bei Melanie Klein & Anna Freud) Freiwillige Arbeit als Lehrer für Kinder mit gestörtem Sozialverhalten, dort erste wichtige Beobachtungen Ausbildung in der Fachrichtung Kinderpsychiatrie Aufbau eines eigenen Instituts in Tavistock ab 1945 ( Arbeit für die WHO (World Health Organisation) in der Nachkriegszeit Einbeziehung der ethologischen Arbeiten um Lorenz und Tinbergen wie auch von amerikanischen Entwicklungspsychologen (was die Psychoanalytiker ihm übelnahmen) Zahlreiche MitarbeiterInnen, unter diesen die wichtigste: Mary Ainsworth. 3

4 Zur Person von Mary Ainsworth ( ): Studium der Psychologie in Toronto Frühe Beobachtungen auf der Basis der Security-Theory von William Blatz, eine Theorie mit psychoanalytischen Wurzeln. Erfassung und Analyse autobiographischer Erzählungen; hervorragende Kenntnisse in Diagnostik. Mitarbeit in der Tavistock Clinic ab 1950 Forschungsaufenthalt in Uganda ; publiziert 1963 und Baltimore-Project ab 1963, mit umfassenden Beobachtungsdaten sowie der Entwicklung des Strange-Situation-Tests. 4

5 Die Vorfahren der Bindungstheorie: Harry Harlow ( ) Amerikanischer Psychologe; Stanford University (1957/58) Präsident der American Psychological Association. Studien zum Verhalten von Affen mit Schwerpunkt auf Entwicklungsprozesse bei Primaten und Interaktion zwischen Affenjungen und deren Müttern. Zentraler Befund:... 5

6 Die Vorfahren der Bindungstheorie: René Spitz ( ) Ungarischer Mediziner und Psychiater, Ausbildung bei C.G. Jung und Sigmund Freud; Seminare bei Anna Freud. Professur in New York 1956 und in Colorado Zentraler Befund:... 6

7 Die wichtigsten Einflüsse der Bindungstheorie: Psychoanalytische Einflüsse: Bowlby war von Hause aus Mediziner und Psychoanalytiker, und er arbeitete in Tavistock an der einzigen psychoanalytischen Kinderklinik Englands. Ainsworth hatte durch ihre Psychologie-Ausbildung bei Blatz engen Kontakt zur Psychoanalyse. Fazit: Beide machten Beobachtungen, die mit der psychoanalytischen Lehrmeinung nicht gut in Einklang zu bringen waren. Beide nahmen diese Beobachtungen deutlich mehr ernst als Kritik und Vorbehalte ihrer KollegInnen. Auch eine falsche Theorie kann nützlich sein. 7

8 Die wichtigsten Einflüsse der Bindungstheorie: Eine weitere wichtige Beobachtung: Filmarbeiten durch James Robertson ( ), schottischer Psychoanalytiker und Sozialarbeiter, Mitarbeiter von Bowlby: Dokumentation der Auswirkungen von Krankenhausaufenthalten von Kindern, die ohne Elternkontakt abliefen. à à 8

9 Die wichtigsten Einflüsse der Bindungstheorie: Ein wichtiger Auftrag: Bowlby wurde 1950 von der WHO (Ronald Hargreaves) beauftragt, einen Bericht über die seelische Gesundheit heimatloser Kinder im Europa der Nachkriegszeit zu schreiben. Dieser Bericht wäre nicht möglich gewesen ohne die genannten Vorarbeiten (so etwa durch Spitz, 1943; Goldfarb, 1946). Der Bericht (ein Buch) wurde innerhalb von 6 Monaten verfasst und unter dem Titel Maternal Care and Mental Health, 1951) publiziert. Es wurde in 14 Sprachen übersetzt, von der ersten Auflage wurden Exemplare verkauft. Eine erweiterte Auflage unter Mitarbeit von Ainsworth erschien 1965 als Child Care and the Growth of Love. 9

10 Die wichtigsten Einflüsse der Bindungstheorie: Ethologische Einflüsse: Nicolaas Tinbergen ( ) Holländischer Biologe und Ethologe, Professor in Leiden ab 1940, in Oxford ab 1955, Nobelpreis Wichtige Beiträge: ABCDEF-Modell des Verhaltens: Ein Verhalten ist erst dann erklärt, wenn wir dessen unmittelbare Ursachen, die ontogenetische Entwicklung, dessen phylogenetische Entwicklung, und dessen Funktion kennen. Studien zur Auslösung artspezifischen Verhaltens 10

11 Konzepte der Bindungstheorie: The Nature of the Child s Tie to the Mother Das Konzept der Bindung Ziel: Identifikation derjenigen Elemente des instinktiven Verhaltens (siehe Tinbergen), die diese Bindung ( tie, attachment ) im Laufe der ersten 12 Lebensmonate herbeiführen. Datenbasis: Bowlby leitete nach wie vor (ehrenamtlich) Unterstützungsgruppen für junge Mütter und sprach mit diesen über deren Erfahrungen als Kind und ihre Erfahrungen mit ihren Kindern. 11

12 Konzepte der Bindungstheorie: Das Konzept der Trennungsangst Auf der Basis der Studien von Harlow will Bowlby erklären, warum die Reaktion von Kleinkindern (wie auch kleinen Primaten) so dramatisch ausfallen, wenn sie von der Mutter getrennt werden. Zusätzlich will Bowlby verstehen, warum solche Reaktionen bei manchen Kindern auch gänzlich ausbleiben. Bowlby weist Freuds Annahme zurück, Kinder könnten zu sehr verwöhnt werden ( overgratification ). Er ist sich sicher, dass Kinder leiden, wenn diese Reaktionen ignoriert werden. 12

13 Konzepte der Bindungstheorie: Das Konzept der Trauer Grief and Mourning in Infancy and Early Childhood Bowlby wollte verstehen, warum Kinder (denen man das nach psychoanalytischer Lehrmeinung gar nicht zutraute) traurig sein können und traurig sind in Abwesenheit enger Bezugspersonen. Die Identifikation der Phasen der Trauer wurden aufgegriffen von Parkes (1972) und Kubler-Ross (1970) und gaben wichtige Anstöße zur heutigen Hospizbewegung. 13

14 Konzepte der Bindungstheorie: Das Konzept der Sicheren Basis Der Begriff wurde geprägt von Mary Ainsworth (und zwar bereits in ihrer Dissertation). Anhand der Beobachtungen aus den Filmen von Robertson, den Befunden von Harlow und Tinbergen sowie Ainsworth s Beobachtungen in Uganda identifizierten die Bindungstheoretiker das Wechselspiel aus Sicherheit (sicherer Basis) und Exploration. Weitere Daten: Das Baltimore-Project. In 1963, while still pondering the data from the Ganda Study, Mary Ainsworth embarked on a second observational project whose thoroughness no researcher has since equalled. 14

15 Konzepte der Bindungstheorie: Das Konzept des Mental Working Models (mentales Arbeitsmodell) Das Konzept hat zwei Wurzeln: Befunde der kognitiven Psychologie zur Etablierung mentaler Modelle Epigenetische Modelle der Persönlichkeitsentwicklung von Waddington Diese Überlegungen wurden vor allem von Mary Main (* 1943) sowie fortgeführt, die das Adult Attachment Interview entwickelte. Auf dieser Basis kam es zu einem neuen Forschungszweig, der Entwicklung von Bindung über die Lebensspanne. 15

16 Konzepte der Bindungstheorie: Zusammenfassende Darstellung der Theorie durch Bowlby: 1. Attachment and Loss, Vol. 1: Attachment Attachment and Loss, Vol 2: Separation Attachment and Loss, Vol. 3: Loss, Sadness, and Depression

17 Konzepte der Bindungstheorie: Die wichtigsten Konzepte im Überblick: Attachment Secure Basis Separation Anxiety Grief Sensitivity Internal Working Model Attachment Transmission [Autonomy Bindung Sichere Basis Trennungsangst Trauer Feinfühligkeit Internales Arbeitsmodell Übertragung von Bindung Autonomie] 17

18 Die Zukunft der Bindungstheorie: 1. Attachment and Transmission of Attachment 2. Life-Span Development of Attachment 3. Attachment und Entwicklungspsychopathologie 4. Ökologie und Lebensführung 5. Kulturvegrleichende Studien 6. Politische Implikationen 18

19 Zusatzfolien: Im Folgenden: Einige Informationen zur Methodologie und zur Diagnostik von Bindung. 19

20 Anhang zu: The Origins of Attachment Theory Soziale Entwicklung und Bindung: John Bowlby s Bindungstheorie Der Strange-Situation-Test ( Fremde-Situation-Test ): Was sind die Ergebnisse? Es gibt ein felsenfestes Datenmuster und ein gewisses Rauschen, das auf eine gewisse Uneinigkeit der verschiedenen Bindungsforscher zurückgeht. Betrachten wir nur das, was als absolut sicher gelten kann: Ainsworth und Bowlby unterscheiden drei Bindungstypen : 1. Sichere Bindung 2. Vermeidend-unsichere Bindung 3. Ambivalent unsichere Bindung 20

21 Anhang zu: The Origins of Attachment Theory Soziale Entwicklung und Bindung: John Bowlby s Bindungstheorie Bindungstypen: 1. Sichere Bindung ( B-Kinder ) Bei oder nach Belastungen suchen oder wahren die Kinder den Kontakt zu Mutter (Vater). Wenn sie allein gelassen werden, zeigen sie zunächst kaum Kummer. Es ist eher die Mutter (der Vater), die wirkungsvoll Trost spenden können, und nicht die fremde Person. Diese Kinder freuen sich über die Rückkehr der Mutter (des Vaters) und suchen dann Körperkontakt, der offensichtlich als positiv erlebt wird. 21

22 Anhang zu: The Origins of Attachment Theory Soziale Entwicklung und Bindung: John Bowlby s Bindungstheorie Bindungstypen: 2. Kinder mit vermeidend-unsicherer Bindung ( A-Kinder )... zeigen wenig Kummer über das Weggehen der Mutter (des Vaters)... ignorieren die Mutter (den Vater) bei der Rückkehr.... vermeiden die Mutter (den Vater)... entspannen sich nicht bei Körperkontakt. 22

23 Anhang zu: The Origins of Attachment Theory Soziale Entwicklung und Bindung: John Bowlby s Bindungstheorie Bindungstypen: 3. Kinder mit ambivalent-unsicherer Bindung ( C-Kinder )... zeigen deutlich und lautstark ihren Kummer, und sind teilweise auch wütend/frustriert ausgeprägt ambivalentes Verhalten bei Rückkehr -- diese Kinder suchen den Kontakt zur Mutter (Vater), aber ohne den körperlichen Kontakt zu dulden. (4. Desorganisierte / hoch-unsichere Bindung ( D-Kinder )... wird entwicklungspsychopathologisch diskutiert, kein persönlich bezogenes Bindungsverhalten, Verletzung der grundlegenden Organisation des Bindungssystems... Nähe und Kontaktsuche zur Bindungsperson in belastenden, ängstigenden Situationen 23

24 Anhang zu: The Origins of Attachment Theory Soziale Entwicklung und Bindung: John Bowlby s Bindungstheorie Bindungstypen: Das Verfahren kann inzwischen als gut bewährt angesehen werden, insbesondere bis einem Alter von 24 Monaten funktioniert es sehr gut. Für Kinder, die älter als 2 Jahre sind und bis zu einem Alter von 6 Jahren, wurden zusätzliche Beobachtungskriterien und abgewandelte Verfahren entwickelt. Schließlich hat man sich gefragt, ob es den A-Kindern nicht in Wirklichkeit recht gut geht -- Untersuchungen, die den Cortisolspiegel im Speichel (ein Stress-Indikator) einbeziehen, widerlegen diesen Verdacht (Spangler & Grossmann, 1993): Gerade diese Kinder stehen offensichtlich unter großem Stress. 24

25 Anhang zu: The Origins of Attachment Theory Soziale Entwicklung und Bindung: John Bowlby s Bindungstheorie Bindungstypen: Die meisten Kinder (etwa zwei Drittel) zeigen eine sichere Bindung; unsichere Bindungstypen sind in verschiedenen Kulturen unterschiedlich häufig vertreten: USA, Westeuropa: wenn unsicher, dann meist vermeidend-unsicher Israel, Japan: wenn unsicher, dann meist ambivalent-unsicher Auch die Beziehungen zu Vätern, Großeltern, Geschwistern, Erziehungsberechtigten und anderen Bezugspersonen lassen sich so untersuchen und sind auch so untersucht worden. 25

26 Anhang zu: The Origins of Attachment Theory SozialeEntwicklung undbindung: John Bowlby s Bindungstheorie Bindungstypen: Die Erhebung der Bindungsqualität ist deshalb so viel beachtet worden, weil die so erhobenen Daten eine erstaunliche Stabilität über die Zeit und einen hohen prognostischen Wert haben. Eine der wichtigsten Studien hierzu stammt von Grossmann und Grossmann (1991), in denen Bielefelder und Regensburger Kinder längsschnittlich im Alter von 1 bis 6 Jahren untersucht wurden. Sicher gebundene Kinder kommen im Kindergarten besser zurecht, können besser mit Konflikten (insbesondere mit Gleichaltrigen) umgehen, und haben insgesamt viel weniger Verhaltensprobleme. 26

27 Anhang zu: The Origins of Attachment Theory Soziale Entwicklung und Bindung: John Bowlby s Bindungstheorie Entwicklungsverlauf: 1. Vorphase unmittelbar nach der Geburt (bis zu 6 Wochen): Allgemeine Ansprechbarkeit des Kindes, ohne Unterschied der Person: Es teilt sich allen Personen unterschiedslos mit und empfängt Signale von allen Personen. 2. Phase der Personenunterscheidenden Ansprechbarkeit (6 Wochen bis 6-8 Monate, kontinierlich zunehmende Personunterscheidung): Das Kind sendet Signale bevorzugt an eine Person oder einige vertraute Personen; das Repertoire der Bindungsverhaltensweisen ist erweitert. 27

28 Anhang zu: The Origins of Attachment Theory SozialeEntwicklung undbindung: John Bowlby s Bindungstheorie Entwicklungsverlauf: 3. Phase der eigentlichen Bindung (6-8 Monate bis Monate): Ab dem Alter von etwa 7 bis 8 Monaten, wenn das Kind (zunächst mit einfachsten Mitteln) in der Lage ist, sich einer Person zuzuwenden oder diese aufzusuchen ( Lokomotion ). Das Kind ist zudem in der Lage, eine Person zu vermissen, was Objektpermanenz voraussetzt. 4. Phase der Zielkorrigierten Partnerschaft : (18 Monate bis > 2 Jahre) Etwa ab dem Alter von 3 Jahren, wenn das Kind versucht, die andere Person und dessen Verhalten zu beeinflussen, und zwar in Abhängigkeit von situativen Gegebenheiten. (Hier vermutlich: Entwicklung eines Empfindens für Kontrolle / Kontrollierbarkeit). 28