Insel Verlag. Leseprobe. Brett, Lily Liebesgedichte. Ausgewählt, aus dem Amerikanischen übertragen und mit einem Nachwort von Jutta Kaußen

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1 Insel Verlag Leseprobe Brett, Lily Liebesgedichte Ausgewählt, aus dem Amerikanischen übertragen und mit einem Nachwort von Jutta Kaußen Insel Verlag insel taschenbuch

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3 Lily Bretts Liebeslyrik handelt vom Berühren und vom Berührtwerden und von der lebendigen Kraft des Eros als Gegenpart des Todes. In betont einfacher Sprache erzählt sie von der Liebe ihrer Eltern zu der in den Lagern verlorenen Familie, zu ihr als Tochter und von ihrer Liebe zu ihren eigenen Kindern, ergänzt von kleinen, skurrilen Geschichten, die sie bei der Beobachtung von Paaren im Zug, im Altersheim oder im Konzert selbst erlebt hat. Der Band schließt mit den erotischen Gedichten, die ihrem Ehemann, dem Maler David Rankin, gewidmet sind.

4 insel taschenbuch 3366 Lily Brett Liebesgedichte

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6 Lily Brett Liebesgedichte Ausgewählt, übertragen und mit einem Nachwort von Jutta Kaußen Insel Verlag

7 Umschlagabbildung: Amedeo Modigliani Porträt eines jungen Mädchens, 1916 Christie's Images Ltd insel taschenbuch 3366 Originalausgabe Erste Auflage by Lily Brett Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2008 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des çffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Abdruck der Originalgedichte und Quellenverzeichnis am Schluß des Bandes Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag Umschlag: Michael Hagemann Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Printed in Germany ISBN

8 Liebesgedichte

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10 Im Lauf der Dinge Im LaufderDinge verbinden sich Minuten mit Milchtüten und Kaffee filtert durch Gläser und Finger und Küsse streifen die Ränder vergehender Sekunden und tausendmal Gutemorgen und Gutenacht sind umsäumt und bestickt mit Händen und Mündern und Füßen beieinander in der Nacht und ein Arm schließt sich um eine Gruppe wacher Wçrter und hält einen Augenblick fest umhegt eine Gruppe Verfehlungen 9

11 und Blicke und Mienen paktieren mit Trakten der Zeit an Jahrestagen arrangieren sie ein Zusammensein in Zonen der Langsamkeit auf jeder Seite von Datumsgrenzen oder Heiligen-Tagen. 10

12 Weinende Menschen Ich wurde geboren in einer Übergangszeit die Alliierten wollten uns helfen meine frühesten Erinnerungen bestehen aus weinenden Menschen wir waren neu angekommene Gefangene vor kurzem gerettete Opfer wir waren Frauen immer noch suchend Männer immer noch hoffend wir waren andere die aufgegeben hatten wir waren vergessene Liebende und verlorene Väter 11

13 wir waren übriggebliebene Tçchter und vermißte Mütter wir waren ungelenk und unbequem zornige rastlose Gäste in Deutschland Listen von Toten und Lebenden wurden täglich ausgehängt es gab keine Listen für diejenigen von uns die zwischen den Listen klemmten. 12

14 Eine Familie Wir besaßen eine Liste von der las man tote Leute ab die Toten waren Mütter und Väter Großmütter und Großväter Schwestern und Brüder Onkel und Tanten Cousins Schwäger und Schwägerinnen Neffen und Nichten die Lebenden waren meine Mutter und mein Vater die Toten waren Rabbis 13

15 Zahnärzte Kantoren Gelehrte Drucker Schneider Doktoren Ladeninhaber Klavierlehrer Händler Rechtsanwälte Schauspieler Handwerker Buchhalter Schriftsteller Pfleger ein Musikkritiker ein Kassierer ein Straßenbahnschaffner und neunundvierzig Kinder danach kam ein Anhang 14

16 mit zwei Tçchtern ein armseliges Kodizill ein unebenbürtiger Nachtrag wir waren kaum zu hçren. 15

17 Meine Eltern 1 Meine Eltern waren getrennt und Teile voneinander waren verloren in der Trennung des Universums in tote Mütter und tote Väter. 2 Meine Eltern waren in den Lagern gefunden worden fast leblos 16

18 fast ununterscheidbar von den Leichen nach sechs Monaten wurden sie wieder vereint da hatten sie schon entdeckt daß sie nicht mehr sie selbst oder der andere waren. 17

19 Geheimnisse Geheimnisse steckten in allen Schubladen in den Decken und Fußbçden waren noch mehr obwohl Hinweise aus den Sitzen sickerten und von den Schränken sprangen gab es Geheimnisse von deiner Mutter und deinem Vater Geheimnisse von vor dem Krieg Geheimnisse von der letzten Woche Geheimnisse von deinen Schwestern und Brüdern Geheimnisse von deinem totgeborenen Sohn Geheimnisse von deinem Geliebten mit der dunklen Stimme und andere Geheimnisse die Zutaten deines Kuchens mit zehn Eiern der Grund für deine Orangenschalen-Maske und warum du deine Haare mit Bier spültest und andere Geheimnisse Geheimnisse von einem Leben in Auschwitz Geheimnisse von Stutthof an der Ostsee Geheimnisse von einem Juwel im Ghetto 18

20 es gab Geheimnisse ausgependelt in kryptischen Zirkeln Geheimnisse versteckt unterm Federbett Geheimnisse gebeugt über ein stilles Mittagessen und andere Geheimnisse. 19

21 Ich habe einen Traum 1 Ich habe einen Traum in dem meine Mutter meinen Vater zu sich zurücksummt sie singt jiddische Lieder in einem hohen Alt und ihre glatten Beine und ihre Haut locken ihn sie hat die sichere Stimme eines Hypnotiseurs ihreaugenlassennie von seinem Gesicht ab seine neue Frau lauert in einem anderen Raum er sieht zerrissen aus meine Mutter singt weiter 20