Der Friede der Nacht Am Abend wird es ruhiger um uns herum. Wenn du in der Stadt wohnst, wirst du immer noch den Verkehrslärm hören. Auf dem Land ist der Frieden des Abends leichter zu spüren. Die Menschen haben aufgehört zu arbeiten. Das Vieh hat sich zur Ruhe gelegt. Alles um uns herum ist still geworden. Auch diesen Frieden haben die Abendlieder gerne besungen, etwa Paul Gerhardt in seinem bekannten Lied: Nun ruhen alle Wälder, Vieh, Menschen, Städt und Felder, es schläft die ganze Welt. Alles um uns herum ist still geworden. So können wir am Abend diese Stille genießen. In der Stille, die uns umgibt, kann es auch in unserem Herzen still werden. Die Gedanken hören auf, in uns zu lärmen. Wir erfahren in der Stille den tiefen Frieden, der uns von außen umgibt. Aller Streit 14
hat aufgehört zu schreien. Und auch der innere Streit kann so zur Ruhe kommen. So sehnen wir uns am Abend, dass wie Johann Wolfgang Goethe es in Wanderers Nachtlied ausgedrückt hat süßer Friede in unsere Brust komme. Dieser Friede, diese innere Ruhe wird für uns erfahrbar, wenn wir die berühmten Verse aus einem anderen Gedicht von Goethe auf uns wirken lassen: Über allen Gipfeln ist Ruh, in allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch; die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde ruhest du auch. Sage dir diese Verse langsam laut vor und spüre, welche Wirkung sie auf dich haben. Du wirst die Ruhe, die diese Worte ausdrücken, in deinem Herzen spüren. 15
Nachtgedanken Die Nacht regt uns zu vielen Gedanken an. Sie will uns etwas sagen über unser Leben, über das, was wichtig ist, und über das, was wir vergessen sollen. In wunderbarer Weise hat Matthias Claudius diese verschiedenen Nachtgedanken in seinem Lied zum Ausdruck gebracht: Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar. Der Wald steht schwarz und schweiget und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar. Wie ist die Welt so stille und in der Dämmrung Hülle so traulich und so hold als eine stille Kammer, wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt. Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn. Der Mond und die Sterne drücken die Geborgenheit aus, die Gott uns in der Nacht schenkt. Gott lässt uns nicht allein. Die Natur schweigt, aber das Licht des Mondes und der Ster- 16
ne scheinen uns. Und in ihnen dürfen wir Gottes heilende Nähe spüren. Die Stille der Nacht ist für Matthias Claudius nichts Bedrohliches, sondern sie hüllt uns ein. Sie gleicht einem schützenden Mantel. Und sie gleicht einer Kammer, in der wir den Jammer der Welt vergessen dürfen. Aller Jammer schweigt, die Klage über unser Leben, die Not, die uns oft genug bedrängt, die Sorgen, die uns plagen sie alle kommen in der Nacht zum Schweigen. So ist die Nacht etwas Heilsames. Sie tut uns gut. Sie bringt alles in uns zum Schweigen, was uns tagsüber so oft bedrückt und zermürbt. Und die Nacht lädt uns ein, all das, was wir sehen, zu relativieren. Der Mond, der nur halb zu sehen ist das lädt uns ein, über vieles zu lachen, was wir nicht sehen. Wir müssen unsere Augen nicht auf alles Leid der Welt richten. In der Nacht dürfen wir das Leid ruhig einmal vergessen. Der Mond lädt ein, das Unsichtbare zu lassen. Wir wissen, dass wir die Welt nur halb wahrnehmen. Aber wir müssen auch nicht alles wissen. Wir sollen es getrost Gott überlassen, der alles sieht und alles nach seinem Ratschluss lenkt. 17
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Schutz in der Nacht Die Abendgebete, die in der christlichen Tradition gebetet werden, bitten Gott um den Schutz in der Nacht. Wenn wir uns in der Nacht in Gottes Händen bergen, wenn wir es aufgeben, zu wachen und unser Haus selber wachsam zu schützen, bitten wir Gott um seinen Schutz. Der Schutz, um den wir bitten, bezieht sich zuerst auf Gefahren von außen. Im Schlaf geben wir die Kontrolle über unser Leben und unser Haus aus der Hand. So möge Gott uns beschützen vor äußeren Gefahren, vor Dieben und Einbrechern, vor Blitz und Sturm und Feuersbrunst. Aber Gott möge uns auch schützen vor inneren Gefahren. Schon immer hat der Mensch die Nacht nicht nur herbeigesehnt, sondern auch gefürchtet. Kinder haben Angst vor Ungeheuern, die ihnen im Traum begegnen. Erwachsene fürchten Albträume, die sie verwirren und verunsichern. Und sie haben Angst, dass sie nicht mehr aufwachen könnten. So ist das Abendgebet immer auch eine Bitte um Schutz vor innerem Unbill. Das klassische Nachtgebet der Kirche, das wohl schon 1600 Jahre alt ist, lautet: Herr und Gott, kehre ein in dieses Haus und halte alle Nachstellungen des Feindes von ihm fern. Deine heiligen Engel mögen darin wohnen und uns in Frieden bewahren. Und dein Segen sei allezeit über uns. Darum bitten wir durch Christus, unsern Herrn. Amen. Dieses Gebet beten die Mönche bei der Komplet. Sie drücken ihre Bitte aus, dass Gott seine heiligen Engel senden möge, dass sie uns in der Nacht behüten. Die Engel sind immer auch die Traumengel. Früher hatten die Menschen Angst vor dä- 19
monischen Träumen, vor Träumen, die ihr Inneres durcheinanderbringen und ihnen schaden. So war die Bitte um den Schutz der Engel immer auch eine Bitte um gute Träume. Gott selbst möge uns im Traum seinen Engel senden, so wie er einst Joseph im Traum einen Engel geschickt hat, der ihm Weisung erteilt hat, was zu tun ist. Du kannst dieses alte Abendgebet noch intensiver aufnehmen, wenn du es mit einer Gebärde und einem Ritual verbindest. Stelle dich aufrecht hin. Kreuze die Arme über der Brust. Und stelle dir vor: Du umarmst dich selbst, so wie Christus am Kreuz dich umarmt hat. Das Kreuz ist ja die Gebärde der Umarmung. Jesus sagt im Johannesevangelium: Vom Kreuz herab werde ich alle an mich ziehen. (Johannes 12,32) Jesus umarmt dich mit allen Gegensätzen, die in dir sind. Er umarmt deine Stärken und Schwächen. Und so kannst du dir selbst sagen: Weil ich von Christus am Kreuz umarmt bin, umarme ich das Gesunde und das Kranke in mir, das Gelungene und das Misslungene, das, was ich heute erledigt, und das, was ich aufgeschoben habe. Ich umarme in mir das Helle und das Dunkle, den Glauben und den Zweifel, das Vertrauen und die Angst, das Gelebte und das Ungelebte, die gesagten und die ungesagten Worte. Und dann stelle dir vor, dass du mit deinen gekreuzten Armen den inneren Raum schützt, in dem du frei bist von allen Ansprüchen und Meinungen der Menschen, in dem du heil und ganz bist. Die verletzenden Worte können dort nicht eindringen. Es ist ein Zufluchtsort, zu dem du Zuflucht nehmen kannst vor dem Lärm des Tages, vor den Turbulenzen des Lebens. Dort bist du ursprünglich und authentisch. All die Bilder, die andere dir übergestülpt haben, lösen sich auf. Deine Bilder der Selbstentwertung und der Selbstüberschätzung lösen sich auf. Und du kannst einfach nur da sein, ohne 20
dich rechtfertigen zu müssen. Dort bist du rein und klar. Dort haben die Selbstvorwürfe und Schuldgefühle keinen Zutritt. Und dort, wo das Geheimnis Gottes in dir wohnt, kannst du bei dir daheim sein. Da kannst du spüren, dass Jesus in dein Haus geht, um bei dir zu bleiben, die ganze Nacht über. In diesem Bewusstsein kannst du dich in der Nacht Gottes Liebe anvertrauen und darin geborgen sein. Fürbitte für andere Viele Menschen nehmen den Abend und ihr Abendgebet zum Anlass, für all die Menschen zu beten, die ihnen im Lauf ihres Lebens wichtig geworden sind. Sie denken am Abend nicht nur an sich selbst, sondern sie fühlen sich im Gebet mit all den Menschen verbunden, die ihnen ans Herz gewachsen sind. Oft wird diese Fürbitte dann ausgeweitet auf Menschen, von deren Not wir gerade heute erfahren haben. Die Stille des Abends und das Alleinsein, das wir am Abend erfahren, wird dann verwandelt zu einem All-Einssein. Viele Menschen fühlen sich am Abend allein und werden darüber traurig. Ein Weg aus dieser Traurigkeit besteht darin, das Alleinsein in ein All-Einssein zu verwandeln. Die Fürbitte ist ein solch konkreter Weg, das Alleinsein in ein Einssein mit allen Menschen zu verwandeln und in ein Einssein mit Gott. In der Fürbitte für die Menschen fühlen wir uns eins mit ihnen. Und wenn wir an die Not denken, von der wir in der Tagesschau erfahren haben, dann weitet sich unser Gebet und unser Herz wird offen für all die Menschen, von deren Leid wir erfahren haben. Das Gebet verbindet uns mit den Menschen, für die wir beten. So fühlen wir uns am Abend nicht einsam, sondern mit vielen Menschen verbunden. Wir 21
stellen uns vor, wie es ihnen geht. Und wenn wir für sie beten, dann beten wir auch um eine gute Nacht für sie, dass sie in der Nacht gut schlafen können, dass sie ihre Sorgen vergessen und am nächsten Morgen mit neuer Hoffnung aufstehen. Gerade alte Menschen erfahren im Gebet für andere, dass sie noch etwas tun können für andere. Sie fühlen sich noch gebraucht. Sie dürfen ein Segen sein für andere, indem sie für sie um Gottes Segen bitten. 22