Überleben durch Vergessen

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Transkript:

Mia Roth Überleben durch Vergessen Die jüdische Geliebte, der Retter von der Gestapo und die kleine Zeugin Aus dem Englischen von Maren Klostermann Mit einem Nachwort von Woltemade Hartman 2015 3

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags: Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern) Prof. Dr. Dirk Baecker (Friedrichshafen) Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg) Prof. Dr. Jörg Fengler (Alfter bei Bonn) Dr. Barbara Heitger (Wien) Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg) Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena) Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg) Prof. Dr. Heiko Kleve (Potsdam) Dr. Roswita Königswieser (Wien) Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück) Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg) Tom Levold (Köln) Dr. Kurt Ludewig (Münster) Dr. Burkhard Peter (München) Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen) Prof. Dr. Kersten Reich (Köln) Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen) Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln) Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke) Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg) Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster) Jakob R. Schneider (München) Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg) Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin) Dr. Therese Steiner (Embrach) Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg) Karsten Trebesch (Berlin) Bernhard Trenkle (Rottweil) Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln) Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz) Dr. Gunthard Weber (Wiesloch) Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien) Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg) Umschlaggestaltung: Uwe Göbel Umschlagmotiv: 2015 Mia Roth Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten Printed in Germany Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC C083411 Mehr Bäume. Weniger CO 2. www.cpibooks.de/klimaneutral Erste Auflage, 2015 ISBN 978-3-8497-0080-5 2015: Mia Roth der deutschen Ausgabe 2015 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg Alle Rechte vorbehalten Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: www.carl-auer.de. Wenn Sie Interesse an unseren monatlichen Nachrichten aus der Vangerowstraße haben, können Sie unter http://www.carl-auer.de/newsletter den Newsletter abonnieren. Carl-Auer Verlag GmbH Vangerowstraße 14 69115 Heidelberg Tel. +49 6221 6438-0 Fax +49 6221 6438-22 info@carl-auer.de 4

Einleitung Es war einmal ein hübsches zehnjähriges Mädchen mit haselnussbraunen Augen und blauen Schleifen in den blonden Zöpfen. Wenn sie nachmittags von der Schule nach Hause kam, trug sie ihr weißes Schulkleid mit den kleinen dunkelblauen Blumen, die dieselbe Farbe hatten wie ihre Haarschleifen. Sie legte eine Platte aufs Grammofon, und zwar unweigerlich die Geschichten aus dem Wienerwald von Johann Strauss. Auf dem Boden des Wohnzimmers lag ein alter dunkelroter Perserteppich mit einem Blumenmuster an den Rändern. Hier drehte sich das Mädchen im Walzertakt, dachte an die geliebte Großmutter und erinnerte sich an sonst überhaupt nichts. Geschichten von Holocaust-Überlebenden handeln normalerweise von den Unschuldigen, die entweder durch Willensstärke oder Glück überlebt haben. Dies ist eine Geschichte von Juden, die kollaboriert haben. Von meiner Familie. Es war unser Familiengeheimnis, das ich bezeugen konnte, über das ich aber nicht sprach. Später empfand ich die Reaktion der Erwachsenen um mich herum als so bedrohlich, dass ich nur überleben konnte, indem ich selbst alles vergaß. Beim Aufschreiben dieser Geschichte gab es ein großes Problem die ewige Angst, die jeden Juden bewegt, nämlich: Wird es den permanenten Antisemitismus, mit dem wir seit Jahrhunderten zu kämpfen haben, verstärken oder verringern? Wir Juden sind angeblich klüger, mehr an Geld interessiert, gerissener als andere und weniger ehrlich. Und hier erzähle ich eine Geschichte, die die Negativität all dieser Eigenschaften unterstreicht. Muss ich tatsächlich sagen, dass an all diesen Klischees nichts Wahres ist? Ich habe törichte Juden kennengelernt, deren Unfähigkeit, mit Geld umzugehen, dazu führte, dass sie im Alter vollständig verarmten. Juden, deren Ehrlichkeit inmitten der Unehrlichkeit ihrer Umgebung hervorsticht, und Juden wie mich, die so naiv sind, so bar jedes gesunden Menschenverstands, dass die Leser dieser Geschichte mich wahrscheinlich gelegentlich schütteln möchten. Während des Holocausts haben wir uns manchmal wie Schafe verhalten, waren manchmal ungläubig, manchmal mutig und manchmal feige. Einige ganz wenige wurden zu Kapos in den Konzentrationslagern, um zu überleben. Manche wurden zu Informanten, um sich selbst oder ihre Familien zu retten. Ich habe mich 7

nach Kräften bemüht, meine Mutter und meinen Onkel in die letztere Gruppe einzuordnen. Leider ist es mir nicht gelungen. Ihr Verhalten ging darüber hinaus. Im Juni 1994 brach ich auf, um meine Vergangenheit zu erforschen warum habe ich fast 50 Jahre gebraucht, um sie aufzuschreiben? Die Angst und Anspannung jener Jahre ist nie verschwunden. Ich weiß, ich weiß: Geh zu einem Therapeuten, lass alles raus und schließe damit ab. Es ist alles draußen, aber es wird nie abgeschlossen sein. Ich habe den seelischen Ballast mit mir getragen von Kroatien nach Italien, von Italien nach England, von England nach Südafrika, und in Australien, dem ersten Ort, an dem ich mich sicher und geborgen fühlte, habe ich das Ganze dann schließlich aufgeschrieben. Hier sitze ich in meinem schönen kleinen Ein-Personen-Haus wie Enid Blytons kleiner Noddy im Spielzeugland: Ein kleines rotes Backsteinhaus, umgeben von Vögeln und gelben Rosen, die zusammen mit dem blauen Bleiwurz über den ganzen Zaun wachsen, und einem Garten, der aussieht wie eine kleine Waldlichtung. Ich habe meine Katze Issie, Fische im Teich und Motorradfrösche, die die ganze Nacht Radau machen. Das ist meine Version des Himmels. Ich habe endlich meinen Frieden gefunden. Fünfzig Jahre lang fehlte mir jede Erinnerung daran, wie mein Vater Mladen gestorben war, und am Ende hatte ich auch ihn selbst völlig vergessen. Sieben Jahre lang besuchte ich jeden Sonntagmorgen die Mutter meines Vaters, meine Großmutter Claudie Bernfest, in Our Parents Home, dem jüdischen Altersheim in Johannesburg, Südafrika. Nicht ein einziges Mal hat sie mir von ihrem einzigen Kind, meinem Vater, erzählt. War es zu schmerzlich? Hatte sie Angst, meine Mutter gegen sich aufzubringen? Sie starb 1959. Da ich sie nie nach ihm gefragt habe, werde ich es niemals erfahren. Meine Mutter Greta hat mir erzählt, dass er ein attraktiver, charmanter Mann mit einem bezaubernden Lächeln war, der für Metro Goldwyn Mayer gearbeitet hat, dass er Rühreier mit Sahne liebte und sich Sorgen um seine schlanke Linie machte. Das reichte mir an Informationen. Meine andere Großmutter, die Mutter meiner Mutter, war Karoline Singer. Sie hat neun der ersten zehn Jahre meines Lebens mit mir verbracht. Als Kind habe ich sie über alles geliebt. Sie hatte eine schöne Stimme und sang mir Lieder aus ihren geliebten Wiener Operetten vor. Und weil ihr diese Musik so gut gefiel, gefiel sie mir auch. Ebenso unentwegt, wie sie diese Lieder sang, spiele 8

ich sie heute immer wieder, und auf diese Weise ist Karoline stets bei mir. Sie hatte rotes Haar und war sehr schön, in meinen Augen auch noch im hohen Alter. In ihren jungen Jahren soll Franz Lehár, der so viele von ihren Operetten geschrieben hat, sie in Wien einmal auf der Straße angesprochen und gefragt haben, ob sie zur Bühne gehen wolle. Ob diese Geschichte, die meine Mutter mir erzählt hat, tatsächlich wahr oder eher eine Legende ist, weiß ich nicht genau, aber es ist eine hübsche kleine Anekdote. Karoline hat mir die Musik und das Kochen nahegebracht (ihr Rührkuchen ist unerreicht). Sie sprach nie von meinem Vater oder von ihrem Ehemann, Alexander Singer, meinem Großvater. 1961 ist sie gestorben. Viele Jahre nach ihrem Tod, im Jahr 1994, erfuhr ich, dass sie, als sie im Sterben lag, zu ihrer Tochter, meiner Mutter Greta, immer wieder sagte:»was hast du mir angetan? Was hast du mir angetan?«niemand möchte, dass ich diese Geschichte aufschreibe, weder meine Kinder noch meine Cousins und Cousinen, die Kinder von Onkel Felix, dem Bruder meiner Mutter. Wir alle sind die Nachkommen und Nutznießer der Täter. Meine Geschichte ist allen peinlich. Ich habe aber das Recht, niederzuschreiben, was ich weiß. Es ist die Wahrheit über mein Leben, auch wenn das Leben anderer davon berührt wird. Ich habe anfangs versucht, diesen Bericht zu schreiben, ohne dass ich selbst darin vorkomme eine Autobiografie ohne»ich«! Denn wenn ich mich selbst mit einschloss und wenn die Familie zu den»kollaborateuren«gehörte, dann gehörte auch ich dazu. Heute hat das Wort nicht mehr dasselbe Gewicht, das es im Zweiten Weltkrieg hatte. Damals galten Kollaborateure als etwas Verachtenswertes und das waren wir. 9