Ansprache beim Gottesdienst in der Kreuzkirche Reutlingen am zum Thema Lebensglück

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Transkript:

Ansprache beim Gottesdienst in der Kreuzkirche Reutlingen am 8. 11. 09 zum Thema Lebensglück Liebe Gemeinde, heute möchte ich uns einen Text aus dem Alten Testament in Erinnerung rufen: die Geschichte vom Erzvater Jakob. Jakob - ein Mensch auf der Suche nach seinem Lebensglück. Einer, bei dem, gelinde gesagt, nicht alles ganz glatt ging. Sie erinnern sich: Jakob war der, der seinen Zwillingsbruder Esau um den Segen betrogen hat. Nur dem Älteren, also Esau und nicht Jakob, stand dieser besondere Segen zu. Jakob geht mit einem ausgeklügelten Plan ans Werk: Erst schwatzt er seinem Bruder Esau den Segen um ein Linsengericht ab. Dann täuscht er mit einer List seinen blinden Vater Isaak und gibt vor, sein älterer Bruder Esau zu sein, um den Segen zu erhalten. Jakob ist einer, der ganz handfest mit List und Betrug seinem Lebensglück nachhelfen will. Die List und der Betrug klappen Jakob erhält von seinem alten Vater Isaak den erhofften Segen. Doch dann muss Jakob vor dem Zorn seines Bruders fliehen. Jakob reist von Palästina aus in den Irak zu den fernen Verwandten, um dort, in der Familie seines Onkels, eine passende Frau zu suchen. Ein Mensch auf der Suche nach seinem Lebensglück. Was er auf der Flucht vor seinem Bruder auf dem Weg zu seinen Verwandten erlebt, erzählt die Bibel so: (Genesis 28, 10-17) 10 Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran 11 und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen. 12 Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. 1

13 Und der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. 14 Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. 15 Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe. 16 Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wußte es nicht! 17 Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. Jetzt wird der Betrüger auch noch von Gott gesegnet!, werden Sie denken. Ist das denn gerecht? Nun, die Geschichte hat eine Fortsetzung. Für Jakob läuft nicht alles nach Plan. Es zeigt sich, dass Jakob selbst mehrmals kräftig übers Ohr gehauen wird: So gibt ihm zum Beispiel der Onkel gegen alle Abmachung die hässliche Lea zur Frau. Jakob merkt das erst in der Hochzeitsnacht, wo alles zu spät ist. Er muss weitere 7 Jahre auf seine geliebte Rahel warten und vor allem für seinen Schwiegervater arbeiten. Dann, mit den zwei Frauen im Haus, hängt der Haussegen ordentlich schief: Rahel muss zuschauen, wie Lea einen Sohn nach dem anderen zur Welt bringt, und ist neidisch und eifersüchtig auf Lea. Lea dagegen ist neidisch und eifersüchtig auf Rahel, weil sie natürlich merkt, dass Jakobs Liebe Rahel gilt und nicht ihr. Ein Mensch auf der Suche nach seinem Lebensglück. 2

Das eigene Glück in die Hand nehmen, es suchen, das tun Menschen, wie wir am Beispiel von Jakob sehen, mindestens seit 3 000 Jahren. Und manches Mal sind die Mittel nicht in Ordnung. Insofern ist die Bibel ein sehr realistisches Buch. Wir müssen eine Antwort darauf finden, wie wir in unserem Leben glücklich werden können, was wir dazutun müssen, um glücklich zu leben. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, sagt das Sprichwort. Wir müssen schmieden, vieles schmieden im Lauf eines Lebens. Schülerinnen und Schüler müssen sich zusammen mit ihren Eltern überlegen, welche schulische Laufbahn für sie die richtige ist. Dann, wenn die große Entscheidung gefallen ist, überlegen, wie viel Einsatz für die Schule, für Klassenarbeiten und Noten nötig und möglich ist. Es muss entschieden werden, was sonst wichtig ist im Leben der Schülerin oder des Schülers und ob und wie das verwirklicht werden kann: Hobbys, der Kontakt zu Freunden, der PC. Wir sind also nicht nur bei den großen Entscheidungen gefragt, was wir dazu beitragen müssen, um glücklich zu leben: Wenn wir z. B. uns den Beruf aussuchen oder unseren Lebenspartner auswählen. Wir sind immer wieder gefragt, was wir tun müssen, um glücklich zu leben. Gibt es so etwas wie Wegweiser zum Glück? Schilder, die wie die blauen Schilder mit den weißen Pfeilen zeigen: Geh lieber da lang, dann ist der Weg zum Glück für Dich leichter? In einem Buch habe ich tatsächlich 10 Wegweiser auf dem Weg zum Glück gefunden vielleicht können uns diese Wegweiser auf unserem Weg zum Lebensglück helfen. 1. Gott sagt zu mir: Ich bin viel mehr als das, was ich leiste. Ich bin von meinem ersten bis zu meinem letzten Atemzug ein Mensch, zu dem Gott Ja sagt. 2. Ich bin - so sagt es Albert Schweitzer Leben, das leben will inmitten von Leben, das auch leben will. 3

3. Ich bin eine Ikone, ein lebendiges Bild unseres Gottes. Ich bin dazu bestimmt, ein Segen zu sein für mich selbst, meine Mitmenschen und meine Umwelt. 4. Ich will den Glanz, den Gott in jedes seiner Geschöpfe hineingelegt hat, suchen den Glanz auch in jedem Halm, in jedem Stein. 5. Ich will meine Möglichkeiten und meine Grenzen kennen lernen. Ich will meine Möglichkeiten ausprobieren und ausleben, ohne andere zu beeinträchtigen. Ich möchte mit mir selber barmherzig sein, wo ich an meine Grenzen komme, und rechtzeitig nein! sagen, wo ich mich überfordere. 6. Meine Aufgaben und Pflichten erledige ich zuverlässig, auch wenn ich keine Lust dazu habe. 7. Ich will andere Menschen achten und einige lieben, ohne dass sie sein müssen, wie ich es mir vorstelle. 8. Ich will mir von anderen Menschen Gutes tun und mich lieben lassen. 9. Ich will mein Herz und meine Hand nicht verstecken, wenn Land brach liegt und andere mich brauchen. 10. Ich will regelmäßig staunen und danken trainieren wie der Landwirt, der morgens mit einer Handvoll Erbsen in der linken Jackentasche in den Tag gestartet ist. Immer wenn im Laufe des Tages es etwas Gutes, Staunenswertes oder etwas zum Danken gab, wanderte eine Erbse in die rechte Jackentasche. Menschen sind nicht dankbar, weil sie glücklich sind. Es ist umgekehrt: Menschen sind glücklich, weil sie dankbar sind. Orgelmeditation 4

Wir haben vorher darüber gesprochen, was wir selbst zu unserem eigenen Glück beitragen können, und über Wegweiser auf dem Weg zum Glück. Das ist die eine Seite. Jetzt zur anderen Seite: Immer wieder kommen neue, unvorhergesehene Situationen auf uns zu: In der Schule gibt es einen neuen Lehrer, und es stellt sich heraus, dass er oder sie gar nicht mein Fall ist. Oder es geht im Beruf nicht so voran, wie wir uns das vorgestellt haben. Oder die eigenen Kinder entwickeln sich nicht so, wie sich Eltern das vorstellen. Oder plötzlich kommt eine Krankheit, die einen Menschen dazu zwingt, sein Leben völlig zu ändern. Immer wieder müssen wir trotz aller Planung mit neuen Umständen leben lernen, und wir wollen möglichst glücklich mit ihnen leben. Mit dem Glück, mit dem Lebensglück scheint es nicht so einfach zu sein: Einmal den Segen bekommen zu haben, einmal den Himmel offen gesehen zu haben, ist noch keine Garantie fürs Lebensglück auf Dauer. Besonders auch, wenn wir in eine Situation kommen, die wir uns nicht ausgesucht haben: Ob wir glücklich sind oder nicht, hängt sehr stark von unserer eigenen Deutung ab. Es gibt dazu eine Geschichte vom alten Mann und seinem Pferd. Diese Geschichte möchte ich Ihnen erzählen. Der alte Mann und sein Pferd - eine Geschichte aus dem alten China Die folgende Geschichte trug sich zur Zeit Laotses in China zu, und Laotse liebte sie sehr: Ein alter Mann lebte in einem Dorf, sehr arm, aber selbst Könige waren neidisch auf ihn, denn er besaß ein wunderschönes weißes Pferd. Die Könige boten phantastische Summen für das Pferd, aber der Mann sagte dann: Dieses Pferd ist für mich kein Pferd, sondern ein Freund. Und wie könnte man seinen eigenen Freund verkaufen? Der Mann war arm, aber sein Pferd verkaufte er nie. 5

Eines Morgens fand er sein Pferd nicht im Stall. Das ganze Dorf versammelte sich, und die Leute sagten: Du dummer alter Mann. Wir haben gewusst, dass das Pferd eines Tages gestohlen würde. Es wäre besser gewesen, es zu verkaufen. Welch ein Unglück! Welch ein Unglück! Nein! Der alte Mann sagte: Geht nicht so weit, das zu sagen. Sagt einfach: Das Pferd ist nicht im Stall. Ob es ein Unglück ist oder ein Segen, weiß ich nicht. Die Leute lachten den Alten aus. Sie hatten schon immer gewusst, dass er ein bisschen verrückt war. Aber am nächsten Tag kehrte das Pferd plötzlich zurück. Es war nicht gestohlen worden, sondern in die Wildnis ausgebrochen. Und nicht nur das, es brachte auch noch ein Dutzend wilder Pferde mit. Wieder versammelten sich die Leute, und sie sagten: Alter Mann, du hattest recht. Es war kein Unglück, es hat sich tatsächlich als ein Segen erwiesen. Der Alte entgegnete: Wieder geht ihr zu weit. Sagt einfach: Das Pferd ist zurück. Wer weiß, ob das ein Segen ist oder nicht? Der alte Mann hatte einen einzigen Sohn, der begann, die Wildpferde zu trainieren. Schon eine Woche später fiel er vom Pferd und brach sich die Beine. Wieder versammelten sich die Leute. Sie sagten: Wieder hattest du recht! Es war ein Unglück. Dein einziger Sohn kann nun seine Beine nicht mehr gebrauchen, und er war die einzige Stütze deines Alters. Jetzt bist du ärmer als je zuvor. So ein Unglück! So ein Unglück! Nein! Der Alte antwortete: Geht nicht so weit. Sagt nur, dass mein Sohn sich die Beine gebrochen hat. Niemand weiß, ob dies ein Unglück oder ein Segen ist. Das Leben kommt in Fragmenten, und mehr bekommt ihr nie zu sehen. Es ergab sich, dass das Land nach ein paar Wochen einen Krieg begann. Alle jungen Männer des Ortes wurden zwangsweise zum Militär eingezogen. Nur der Sohn des alten Mannes blieb zurück, weil 6

er verkrüppelt war. Der ganze Ort war von Klagen und Wehgeschrei erfüllt, weil dieser Krieg nicht zu gewinnen war und man wusste, dass die meisten jungen Männer nicht nach Hause zurückkehren würden. Sie kamen zu dem alten Mann und sagten: Du hattest recht, alter Mann es hat sich nicht als Segen erwiesen. Dein Sohn ist zwar verkrüppelt, aber immerhin ist er noch bei dir. Unsere Söhne sind für immer fort. Der alte Mann antwortete wieder: Ihr hört nicht auf zu urteilen. Niemand weiß! Sagt nur, dass man eure Söhne in die Armee eingezogen hat und dass mein Sohn nicht eingezogen wurde. Doch nur Gott, der das Ganze kennt, weiß, ob dies ein Segen oder ein Unglück ist. Liebe Gemeinde, ob wir unser Leben als glücklich erleben oder nicht, hängt nicht nur davon ab, wie erfolgreich wir an unserem eigenen Glück schmieden. Viel mehr hängt es davon ab, wie wir deuten und in welchen Zusammenhang wir stellen, was uns je und je im Leben passiert. Wir sehen nie das Ganze unseres Lebens wir sehen nur einen Ausschnitt. Manchmal stellt sich eine Situation im Rückblick ganz anders dar als in der Situation selbst. Dass wir Ja sagen können zu dem, wie das eigene Leben verläuft, und glücklich sind inmitten von dem, was uns passiert, das wünsche ich uns allen. Amen. Pfarrerin Astrid Gilch-Messerer 7

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