Meditation zu Psalm Teil mit den Fenstern von Johannes Schreiter

Transkript

1 Meditation zu Psalm Teil mit den Fenstern von Johannes Schreiter Psalm 22, der Karfreitagspsalm, ein Klageruf aus der Gottesferne, jedenfalls die erste Hälfte, vor der wir heute sitzen. Johannes Schreiter hat Fenster zum 22. Psalm geschaffen, mit seiner Farb- und Formensprache. Licht- und Lesebilder. Wer sie so, wie sie hier zu sehen sind, im Original, vor Augen hat, wird verstehen, warum wir heute nicht vor Dia-Reproduktionen sitzen, sondern vor den Originalen. Licht- und Lesebilder. Wer sich eingelesen hat in die Handschrift Johannes Schreiters, liest weiter und immer wieder, immer wieder neu. Wer die Handschrift nicht kennt, hat Mühe, etwas zu entziffern. Heute nehmen wir uns Zeit, wieder einmal, diese Schrift nachzubuchstabieren. Zeit, uns in den 22. Psalm, die erste Hälfte einzulesen. Fensterbild 1, links Nacht. Finstere, blauschwarze Nacht senkt sich herab wie ein Tuch, ein Vorhang, der sich über alles legt.

2 Die Nacht, in der das Fürchten wohnt. Nacht, tiefer als der Tag gedacht. Nacht senkt sich herab. Ein kleines Stück Nacht ist heruntergefallen, kauert und lauert am unteren Bildrand. Auf diesem Nachtstück hockt: der Beter. Eine nach oben geöffnete Klammer, wie Arme, die sich betend zum Himmel strecken. Ausstrecken, himmelwärts, doch der Himmel ist Nacht Sitzt in der Nacht, der Beter, ein Arm noch sichtbar erhoben, der andere verschwunden im Erdgrau, das sich über das ganze breitet. Graue Quader fallen, alltagsgrau, staubgrau. Wenn sie weiter fallen, werden sie erdrücken. Finstere, blauschwarze Nacht senkt sich herab wie ein Tuch. Gottes-Finsternis. 2 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. 3 Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe. Bild 1, rechte Hälfte. Erinnerungen werden wach. Früher, ja früher, da war alles anders. Als das Beten noch geholfen hat. Da war der Beter oben auf, da ragten beide Arme, hocherhoben, und fingen das Licht, Gotteslicht, leuchtend, weiß und golden und morgenrot. Gotteslicht floss herab, und die Beter fingen es auf. Früher. Als das Beten noch geholfen hat. Da waren sie erfüllt, voller Wärme und Licht, Gotteslicht. Doch der Faden ist gerissen. Das Licht fließt nicht mehr. Aus der Tiefe dringt der Schrei und zerschellt an der Nacht. Aus, aus und vorbei. Gottes-Finsternis. 2 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. 3 Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe. 4 Du aber bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels. 5 Unsere Väter hofften auf dich; und da sie hofften, halfst du ihnen heraus.

3 6 Zu dir schrien sie und wurden errettet, sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden. 7 Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volke. 8 Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf: 9»Er klage es dem HERRN, der helfe ihm heraus und rette ihn, hat er Gefallen an ihm.«fensterbild 2, Staub, staubgrau. Todesstaub fällt herab wie ein Tuch, je tiefer, desto dunkler. Tief unten im Staub liegt der Beter. Müde und leer. Müde und leer zum Beten. Wo noch ein Rest von Gotteslicht in ihm war, ist jetzt: nichts, nichts mehr, Leere. Alles ausgelaufen, das Gotteslicht, kein müder Tropfen mehr. Und aus den Nächten lauert es, Wie Rachen, die in der Nacht lauern und zuschnappen wollen, wie Klauen und Krallen. Auch hier glänzt kein Tropfen Gotteslicht.

4 Gott ist oben, ganz oben, ganz fern, leuchtend rot. Doch Gott stellt sich quer, ist verschlossen. Abgeschottet durch die Nacht. Ein weißer Lichtstreif durchbricht die Nacht, Er zeiht ein paar leuchtend-rote Gottesfunken mit sich, doch was hilft das. Wüstensandstaub weht darüber Der Lichtstreif dringt nicht durch zu dem, der da unten liegt, im Todesstaub. Seine Schreie dringen nicht durch die Nacht hindurch, dringen nicht zu Gott. Früher, ja, früher war alles anders, aber jetzt. Todesstaub, staubaschgrau. 10 Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen; du ließest mich geborgen sein an der Brust meiner Mutter. 11 Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an, du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an. 12 Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; denn es ist hier kein Helfer. 13 Gewaltige Stiere haben mich umgeben, mächtige Büffel haben mich umringt. 14 Ihren Rachen sperren sie gegen mich auf wie ein brüllender und reißender Löwe. 15 Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Knochen haben sich voneinander gelöst; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs. 16 Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub. 17 Ja, Hunde haben mich umgeben, und der Bösen Rotte hat mich umringt; sie haben meine Hände und Füße durchgraben. 18 Ich kann alle meine Knochen zählen; sie aber schauen zu und sehen auf mich herab. 19 Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand. Karfreitag, beginnend in der Nacht, im Garten Getsemane. Jesus betet, und da ist kein Engel, der zu Hilfe eilt, kein Engel- oder Menschenheer, das einschreitet. In der Nacht greifen sie ihn sich, kurzer Prozess und kreuzigen ihn. Gottesnacht und Todesstaub. 2 Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

5 Doch so endet es nicht. Der Psalm geht weiter, der Fensterzyklus von Johannes Schreiter auch. Fensterbild 3 Die Nacht vergeht. Der Morgen bricht an, senkt sich herab, Goldmorgenrot verdängt die Nacht Ein neuer Tag, eine neue Zeit, eine neue Welt, und das Gotteslicht alles überstrahlend, fließt herab, erfüllt auch den Beter aufs Neue. 20 Aber du, HERR, sei nicht ferne; meine Stärke, eile, mir zu helfen! 21 Errette meine Seele vom Schwert, mein Leben von den Hunden! 22 Hilf mir aus dem Rachen des Löwen / und vor den Hörnern wilder Stiere Du hast mich erhört! Doch das ist eine andere Geschichte. Der kann und will ich nicht vorgreifen. Noch gilt es, den Karfreitag zu ertragen, Gottesnacht und Todesstaub. Pastor Harald Storz