Die Faszinierende Welt der Hirnforschung

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1 Die Faszinierende Welt der Hirnforschung Andreas Wendel (Technische Universität Graz, Österreich Kurzfassung: Das menschliche Gehirn stellt eine der komplexesten Strukturen im Universum dar. Es umfasst in etwa 100 Milliarden Neuronen, in deren Netzwerken sich mentale Kapazitäten wie Intelligenz, Kreativität, Gefühle, Gedächtnis und Bewusstsein verbergen. Im vorliegenden Text sollen neben anderen Aspekten der Forschung kurze Einblicke in den Aufbau der einzelnen Nervenzellen sowie in höhere Systeme wie der Informationsverarbeitung und -speicherung gegeben werden. Aus dem Zusammenspiel der Aktivitäten einzelner Hirnregionen entspringt das faszinierendste aller neurologischen Phänomene: die für den Menschen charakteristische Einheit von Geist und Psyche. Doch lässt sich diese Eigenschaft auch künstlich durch den Einsatz von Maschinen erzeugen? Auch dieses Thema wird diskutiert und kritisch betrachtet. Schlüsselworte: Hirnforschung, Gehirn, Neuronen, Synapsen, Gedächtnis, Künstliche Intelligenz Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung Hirnforschung als wissenschaftliche Disziplin Geschichtliche Entwicklung Forschungsschwerpunkte und Methoden Das Grundgerüst des Gehirns - die Hardware Der Makrobereich Kleinhirn Thalamus Hypothalamus Hypophyse Epiphyse Die Unterteilung in Hirnhälften Die fötale Entwicklung des Gehirns Der Unterschied zwischen Mann und Frau Der Mikrobereich Anwendungsgebiete des Gehirns - die Software Der Vorgang der Informationsspeicherung Das Ultrakurzzeit-Gedächtnis Das Kurzzeit-Gedächtnis Das Langzeit-Gedächtnis Die Arten des Vergessens Denkblockaden Träume Die Kunst der Konzentration Visuelle Wahrnehmung Seite 1/21

2 5 Künstliche Intelligenz Zusammenfassung und Ausblick Abbildungsverzeichnis 1 Funktionelle Magnetresonanztomografie [Universität Zürich 2005] Aufbau des Gehirns [Singer 1994] Synapse mit Transmitterstoffen [Wojiechowski 2005] Feuern eines Neurons [Pädag. Institut Bozen 2005] Stoffliche Speicherung von Information [Vester 1978] Müller Lyer sche Täuschung [Ninio 2005] Künstliche Netzhaut und Innenohr [Pädag. Institut Bozen 2005] Einleitung Das Gehirn ist mit seinen geschätzten 100 Milliarden Neuronen bei einem Gewicht von durchschnittlich 1.3 Kilogramm an Komplexität kaum zu übertreffen. Es beherbergt vielschichtige Funktionen, die sowohl Kontrolle über das eigene System ausüben als auch durch Kreativität und Intelligenz die ganze Umgebung beeinflussen. Selbst nach mehreren Jahrtausenden der Forschung bleibt es aus diesem Grund das größte Wunderwerk im menschlichen Körper. 2 Hirnforschung als wissenschaftliche Disziplin 2.1 Geschichtliche Entwicklung Die Hirnforschung und Neurowissenschaft ist beinahe so alt wie die Menschheit selbst. Schon sehr früh dachten Menschen über Intelligenz, Lernen und Bewusstsein nach, wobei natürlich auch die Suche nach dem Sitz der Seele im menschlichen Körper nicht vernachlässigt werden darf. Nach Eric H. Chudler [Chudler 2005] erkannten die Sumerer, eine mesopotamische Kultur, die berauschende Wirkung des Mohns bereits 4000 Jahre vor Christus und setzten damit den ersten Meilenstein, auf dem später große Teile der Forschung aufbauen sollten. Im Jahre 1700 vor Christus wurde die erste schriftliche Arbeit über das Nervensystem verfasst, der noch zahlreiche Arbeiten von namhaften Personen wie Hippokrates, Aristoteles und Leonardo da Vinci folgten. In den frühen Jahren der Hirnforschung wurde vor allem auf Krankheiten wie Epilepsie und äußere Merkmale des Menschen wie den Schlaf und die damit verbundenen Träume eingegangen. Ab dem 19. Jahrhundert erkannten die Forscher jedoch zunehmend die Funktionen der einzelnen Hirnregionen und verschiedenen besonderen Nerven wie dem Sehnerv, welche bald sehr genau beschrieben werden konnten. Es jagte eine Publikation die nächste und beinahe jedes Jahr gelangten neue Erkenntnisse an die Öffentlichkeit. Seit 1906 wurden schließlich 54 Nobelpreise an Seite 2/21

3 Neurowissenschaftler vergeben, zuletzt im Jahre 2004 an Linda B. Buck und Richard Axel für ihre Arbeit Discovery of odorant receptors and the organization of the olfactory system [Chudler 2005]. Ein großes Zeichen für die Priorität der Hirnforschung in unserem Zeitalter setzte der US-amerikanische Kongreß, als er das letzte Jahrzehnt im 20. Jahrhundert zum Jahrzehnt des Gehirns erklärte. Später schlossen sich auch das Europäische Parlament und die japanische Regierung der Initiative an. Doch was für Ergebnisse werden erwartet? Mit dem politischen Bekenntnis zur Hirnforschung soll letztlich eine Verbesserung der Therapieverfahren in Neurologie und Psychiatrie erreicht werden, sagt Wolf Singer [Singer 1994], Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt und Professor für Neurophysiologie. Ein weiterer, wenn auch gemessen an medizinischen Belangen weniger zentraler Grund für das wachsende Interesse an den Neurowissenschaften ist die Einsicht, daß Nervensysteme für fast alle denkbaren Probleme der Informationsverarbeitung einschließlich der Organisation von Entscheidungsprozessen weitaus effizientere und elegantere Lösungen gefunden haben als die bislang von Menschen konzipierten künstlichen Systeme. 2.2 Forschungsschwerpunkte und Methoden Bei einer oberflächlichen Betrachtung des enormen Aufschwungs der Hirnforschung in den letzten Jahren entsteht der Eindruck, die Wissenschaft stünde kurz vor einem Durchbruch, der dem Gehirn seine letzten Geheimnisse entreißt. Doch hier muss man zwischen den drei Ebenen der neurobiologischen Untersuchungen unterscheiden. Die oberste erklärt die Funktion größerer Hirnareale wie beispielsweise die Aufgaben der Großhirnrinde oder des limbischen Systems. Die mittlere Ebene beschreibt die Vorgänge innerhalb von Zellverbänden mit einer Größe von hunderten oder tausenden Zellen. Schließlich gibt es auch noch Abläufe auf dem Niveau einzelner Zellen und Moleküle, was die unterste Ebene darstellt. Bedeutende Fortschritte konnten im Rahmen der Erforschung des Gehirns bislang nur auf der obersten und untersten Stufe gemacht werden, nicht jedoch auf der mittleren [Singer 1994]. Die oberste Organisationsebene kann durch verschiedene Methoden analysiert werden, sehr wichtig dabei sind jedoch die bildgebenden Verfahren, die nachfolgend erläutert werden [Koch et al. 1990]. Positronen-Emissionstomografie (PET) Funktionelle Magnetresonanztomografie (fmrt) Die fmrt ermittelt den Energiebedarf von Hirnregionen [Abb. 1]. Sie besitzt eine sehr gute räumliche Auflösung, ist zeitlich jedoch nachhinkend. Seite 3/21

4 Elektroencephalografie (EEG) Das klassische EEG misst die elektrische Aktivität von Nervenzellenverbänden beinahe in Echtzeit, aber dafür ist der Ort des Geschehens nur schlecht erkennbar. Magnetencephalografie (MEG) Eine neuere Art der Bildgebung ist die MEG, die zeitlich auf Millisekunden genau arbeitet und auch mit einer räumlichen Auflösung im Zentimeterbereich gute Resultate liefert. Abbildung 1: Links ist ein Magnetresonanztomograph zu sehen, rechts ein fmrt- Bild [Universität Zürich 2005]. Auch für die unterste Organisationsebene wurden neuartige Techniken entwickelt, die einen Erkenntnissprung zur Folge hatten. Sowohl zelluläre Signalprozesse als auch die chemischen Vorgänge an einer Zellmembran konnten so erforscht werden. Was aber bislang im Verborgenen geblieben ist, ist die Kommunikation zwischen den einzelnen Nervenzellen. Man vermutet die Verwendung von mehreren verschiedenen Codes, doch es ist bis heute nicht bekannt, mit welchen Mitteln dies überhaupt erforscht werden könnte. Hier herrscht akuter Aufholbedarf. Bevor über höhere Funktionen des Gehirns diskutiert werden kann, müssen zuerst die Grundlagen erklärt werden. Dies geschieht in den folgenden Kapiteln. 3 Das Grundgerüst des Gehirns - die Hardware 3.1 Der Makrobereich Vom Riechhirn zum Großhirn - die Entwicklung des Gehirns zieht sich über Millionen von Jahren. Nun liegt dieser wichtigste Teil des zentralen Nervensystems eingebettet in das Gehirnwasser im Schädel und ist damit gegen Druck und Stoß Seite 4/21

5 sehr gut geschützt. Die Evolutionsgeschichte zeigt, dass die spärlich mit Krallen oder Flügel ausgestatteten Lebewesen sich durch immer komplexere Reaktionen das Überleben sichern mussten. So entwickelten sich deren Gehirne wesentlich schneller und es entstanden schließlich Strukturen, die höheren Tierarten und dem Menschen etwas Einzigartiges ermöglichten: das Lernen. Der Vorteil ist klar erkennbar, denn ohne diese Eigenschaft würde sich der Mensch beispielsweise immer wieder mit einem Messer schneiden und könnte sich das dadurch ausgelöste schmerzliche und unbehagliche Gefühl nicht merken [Vester 1978]. Doch aus welchem Grund gibt es solche Sinneseindrücke und Gefühle, dieses Bewusstsein des einzelnen Lebewesens bei niederen Tieren nicht? Frederic Vester [Vester 1978] erläutert hier Ergebnisse aus der Hirnforschung. Demnach wurde herausgefunden, dass sich eine bestimmte anatomische Struktur im Gehirn befinden muss, um diese Gefühle zu erkennen. Jene Struktur wird limbisches System genannt, eine begrenzte Region oberhalb des Zwischenhirns. Um nun gewisse Tätigkeiten mit Gefühlen zu verknüpfen, also komplexe Aufgaben wie Nachdenken, Planen, Entwerfen, Vergleichen oder Urteilen durchführen zu können, musste sich in der Folge aus dem limbischen Cortex die Großhirnrinde bilden. Doch nun zu den Aufgaben von einigen wichtigen Hirnteilen. Diese konnten schon in den Anfängen der Hirnforschung recht gut bestimmt werden, indem krankheitsbedingte Störungen beim Menschen nach dessen Tod anatomisch untersucht wurden Kleinhirn Im Kleinhirn werden alle gewollten und automatischen Muskelbewegungen koordiniert. Die in das Hirn einfließenden Eindrücke der Sinnesorgane sowie die von der Großhirnrinde gesendeten Befehle werden zusammengefügt und an die Muskeln weitergeleitet Thalamus Der Thalamus ist ein Bereich des Zwischenhirns, in dem alle Sinneswahrnehmungen mit Gefühlen wie Freude, Angst, Lust und Schmerz ausgestattet werden. Sowohl Lachen als auch Weinen wird hier gesteuert. Außerdem werden die neuen Eindrücke mit solchen aus der Vergangenheit verglichen und bewertet, bevor sie an andere Gebiete im Hirn weitergegeben werden Hypothalamus Im Hypothalamus, dem unteren Teil des Thalamus, wird die Körpertemperatur geregelt und auf einem gleichmäßigen Niveau gehalten, Hunger und Durst werden dirigiert. Die Reaktionen auf die Umwelt entstehen in diesem Gebiet in Verbindung mit der nachfolgenden Hypophyse. Seite 5/21

6 Abbildung 2: Das Gehirn ist aus verschiedenen Teilen aufgebaut, die genau definierte Funktionen haben [Singer 1994] Hypophyse Obwohl die Hypophyse nur ein kleines Anhängsel des Gehirns ist - deshalb auch der Name Hirnanhangsdrüse - hat sie weitreichende Steuerungsaufgaben. Sie ist für den Hormonhaushalt und damit auch für das Sexualverhalten des Menschen zuständig, regelt das Körperwachstum und reagiert auf Stress Epiphyse Genau so klein wie die Hypophyse ist auch die Epiphyse, auch Zirbeldrüse genannt. Sie übernimmt ebenfalls Steuerungsfunktionen anhand von Hormonen, nämlich zur Beeinflussung des menschlichen Lebensrhythmus Die Unterteilung in Hirnhälften Eine weitere Unterscheidung, die bei der Analyse des Hirns eingesetzt wird, ist die Hirnhälfte. Von oben betrachtet wird das Gehirn scheinbar in zwei durch Seite 6/21

7 einen tiefen Einschnitt voneinander getrennte Hälften geteilt. Dieser Schein trügt jedoch, denn die Verbindung besteht über den sogenannten Balken, im medizinischen Bereich als Corpus Callosum bezeichnet. Auf diese Weise sind viele Teile des Groß- und Kleinhirns doppelt angelegt. Dies ermöglicht auch halbseitige Lähmungen, die nach Unfällen mit Gehirnschädigungen auftreten können. Eine erwähnenswerte Eigenschaft ist außerdem die generell kreuzweise erfolgende Zuordnung des Hirns zum Körper. Dies bedeutet beispielsweise eine Ansteuerung des rechten Arms durch die linke Gehirnhälfte. Mit zunehmendem Alter eines Menschen wurde in wissenschaftlichen Untersuchungen eine eindeutige Arbeitsteilung zwischen den Hirnhälften gezeigt. Diese ist zwar nicht bei allen Menschen gleich, die folgende Auflistung zeigt aber eine sehr häufige Kombination [Vester 1978]. Linke Hälfte Rationales Denken, analytisches Denken, Logik von Ursache und Wirkung, Deduktive Schlussfolgerungen, Arbeiten mit Zahlen, Begriffen und Quantitäten Administratives, kontrolliertes, sequentielles Vorgehen Bedarf nach Ordnung und Struktur Liebe zum Detail Vertikales Denken Rechte Hälfte Einsatz von Phantasie und Intuition Ganzheitliches Denken, das auf Details und Vollständigkeit verzichtet Akausales Denken, das Widersprüchlichkeit und Paradoxie toleriert Analoge Schlußfolgerungen Mustererkennung und bildhafter Vergleich Entwirft Konzepte Bezieht Gefühle, Empfindungen und Unwägbares mit ein Unklare Beschreibung Fuzzyness Laterales Denken Seite 7/21

8 3.1.7 Die fötale Entwicklung des Gehirns Die Entdeckungen über die fötale Entwicklung des Gehirns sind zum Teil sehr überraschend. Man stellte fest, dass das Gehirn die Außenwelt benutzt, um sich selbst zu formen. Weiters durchläuft es kritische Entwicklungsabschnitte, in denen spezialisierte Zellen ausgebildet werden. Zu diesem Zeitpunkt sind besondere Reize wie beispielsweise akustische Reize für die Sprachfähigkeit notwendig. Grundsätzlich sind zunächst die Gene mit ihren Erbinformationen für das Zustandekommen der Hirnstruktur zuständig. Die individuelle Gestaltung hängt dann aber im Wesentlichen von der Umgebung des Menschen ab. So bilden sich in den ersten Wochen der Entwicklung Milliarden von Hirnzellen. Die Hälfte davon stirbt jedoch wieder ab, sobald die Hormone des menschlichen Körpers die geschlechtsspezifische Gestaltung übernehmen. Nach der Geburt entstehen die Verbindungen im Gehirn, die je nach Umgebung und den damit verknüpften Sinneseindrücken mehr oder weniger ausgeprägt werden. Zwischen dem vierten und zehnten Lebensjahr setzen schließlich weitere Lernprozesse ein, die bestehende Verbindungen verstärken und neue hinzufügen [Kotulak 1998]. Doch die Auswirkungen des Alters werden bereits am Ende der Kindheit sichtbar, die physiologischen Strukturen des Hirns verändern sich immer weniger. Der Lernvorgang wird von der Hardware des Gehirns zur Software verlagert - die Verwendung der gebotenen Systeme setzt ein Der Unterschied zwischen Mann und Frau Kognitive Unterschiede bestehen auch zwischen Mann und Frau. Laut Doreen Kimura [Kimura 1994] ist es wichtig festzuhalten, dass die Geschlechter sich zwar in spezifischen Fähigkeiten wesentlich unterscheiden, nicht aber in der Gesamtintelligenz. Frauen im Vorteil Wahrnehmungsgeschwindigkeit Erkennen zusammenpassender Objekte Höhere verbale Gewandtheit, Wortflüssigkeit Manuelle Präzisionsaufgaben Rechenaufgaben Männer im Vorteil Räumliches Vorstellungsvermögen Mathematische Schlußfolgerungen Seite 8/21

9 Bessere motorische Fertigkeiten wie zielen oder werfen Erkennen einfacher Formen und Strukturen Orientierung auf einem Weg oder einer Karte Wie aber kommt es zu solchen Unterschieden, wenn alle Menschen die gleiche genetische Basis haben? Höchstwahrscheinlich sind hormonelle Einflüsse auf das sich entwickelnde Gehirn die Ursache, genau wie beim restlichen Körper. Schlußendlich muss natürlich wieder die Evolution herhalten. Aufgrund der Spezialisierung des Mannes auf Jagd und Orientierung sowie der Frauen auf feinmotorische Fähigkeiten und genaue Wahrnehmung im Bereich der Kinder wurden bereits sehr früh die Grundsteine gelegt, die den Aufbau des Denkapparats noch heute beeinflussen. 3.2 Der Mikrobereich Wie am Anfang schon erwähnt, besteht das Gehirn aus Milliarden von Nervenzellen mit einer noch höheren Zahl von Querverbindungen zur Kommunikation. Doch wie ist so eine Nervenzelle überhaupt aufgebaut, was kann sie und wie macht sie das? Diese Frage beschäftigt nicht nur die Biologen und Mediziner, sie zieht auch die sogennanten Bioniker in ihren Bann. Deren Ziel ist es, die neuronalen Netze für Automatisierungsaufgaben oder auch zur Steigerung von maschineller Rechenleistung einzusetzen. Um dieses Thema jedoch verstehen zu können, müssen zuerst die biologischen Grundlagen geklärt werden. Nach derzeitigen biophysiologischen Erkenntnissen sind die Neuronen durch ein Fasernetz miteinander verbunden und stehen über einen derzeit unbekannten Code miteinander in einer Art Resonanz. Die Nervenzellen erscheinen als eine graue Masse, von der sich die weiße Gehirnmasse deutlich abhebt. Diese wiederum dient zur Isolation der Axone, der Nervenfasern. Hier sollten die zahlreichen Krankheiten erwähnt werden, die bei einer Zerstörung dieser Isolierschicht und den daraus folgenden Kurzschlüssen auftreten können. Es sind dies unter anderem epileptische Anfälle sowie Delirium tremens beim Alkoholiker [Vester 1978]. Jede Nervenzelle hat bis zu 1000 Verbindungen zu anderen Nervenzellen, wovon aber nur sehr wenige fest verschmolzene, direkte Leitungen sind. Der weitaus größere Teil ist über spezielle und sehr komplexe Schnittstellen, den sogenannten Synapsen, ans Neuron angebunden und steht so mit diesem in Kontakt. Man kann die Synapsen auch als kleine, knopfartige Schalter ansehen, die den Kontakt herstellen oder unterbrechen. Dies wird durch die Überbrückung des winzigen Spalts zwischen Synapse und Neuron anhand von Transmitterstoffen erklärt [Abb. 3]. Die dafür notwendigen natürlichen chemischen Substanzen sind unter anderem Acetylcholin, Dopamin und Noradrenalin. Seite 9/21

10 Abbildung 3: Eine Synapse mit dem deutlich sichtbaren synaptischen Spalt. Transmitterstoffe, die den Weg für die Ionenströme frei machen [Wojiechowski 2005]. Doch welche Aufgaben haben diese Synapsen nun? Man unterscheidet zwei Teile, nämlich die Signalübermittlung sowie die Informationsspeicherung des Gedächtnisses. Jede Nervenzelle besteht aus einer Sendeeinheit, dem sogenannten Axon, und mehreren Empfangseinheiten, den Dendriten. Wie bereits erwähnt werden über das schwanzähnliche Axon die Nachrichten an andere Nervenzellen anhand von elektrischen Signalen weitergeleitet. Dort werden diese an chemische Boten übergeben, welche den synaptischen Spalt überbrücken müssen. Jede Nervenzelle benutzt zur Übertragung von Nachrichten nur einen bestimmten Transmitterstoff. Dieser durchquert den Spalt und lagert sich an den Andockstellen, den Rezeptoren, der empfangenden Nervenzelle an. Wenn nun beispielsweise Acetylcholin mit einem solchen Rezeptor in Kontakt tritt, werden Ionenkanäle geöffnet. Durch diese strömen positiv geladene Natriumionen in die Nervenzelle und erzeugen ein Aktionspotenzial. Dies entspricht einem elektrischen Signal, welches bei ausreichender Stärke an andere Nervenzellen weitergeleitet wird. Man bezeichnet dieses Aussenden eines Signals als feuern der Nervenzelle [Abb. 4]. Benutzt die Sendezelle einen hemmenden Botenstoff wie etwas Dopamin, verfällt die Empfangszelle in eine Art Ruhezustand, in dem die Entstehung eines Aktionspotenzials gehemmt wird [Eccles 2000]. Obwohl dieses Prinzip für eine einzelne Nervenzelle relativ einfach klingt, wird das Zusammenspiel bei der Kommunikation einer Nervenzelle mit tausenden anderen sehr komplex. Seite 10/21

11 Abbildung 4: Das Feuern eines Neurons über das schwanzähnliche Axon und die dadurch angeregten Synapsen anderer Neuronen [Pädag. Institut Bozen 2005]. 4 Anwendungsgebiete des Gehirns - die Software Ein Lernvorgang hängt definitiv nicht nur vom Vorhanden sein der Neuronen ab, man kann hier vom Anwenden der gebotenen Strukturen reden. Nach langer Forschung wurde eine Erklärung dafür gefunden, wie bestimmte Informationen vom Gehirn aufgenommen, manche verworfen und einige sogar verdrängt werden. 4.1 Der Vorgang der Informationsspeicherung Das Ultrakurzzeit-Gedächtnis Als erste Stufe des biologischen Mechanismus der Informationsspeicherung dient das Ultrakurzzeit-Gedächtnis. Dieses ist für Soforthandlungen zuständig, wie Wissenschaftler in zahlreichen Versuchen belegen konnten. Es kann aus diesem Grund nur das für längere Zeit speichern, was vor Abklingen der Informationen im Ultrakurzzeit-Gedächtnis, also innerhalb von etwa zwanzig Sekunden, bewusst abgerufen wird. Frederic Vester [Vester 1978] bringt hierfür ein anschauliches Beispiel vor. Ein Spieler bei einem Fußballspiel ist auf Sofortreaktionen eingestellt, die augenblicklich verarbeitet, dann aber wieder vergessen werden. Wenn er gefoult wird, kann er gleich danach genau sagen, wie das passiert ist. Wird er jedoch erst einige Zeit nach dem Vorfall befragt, kann er sich nicht mehr erinnern - die Information wurde nicht abgerufen und somit nicht in die nächste Stufe der Informationsspeicherung übernommen. Obwohl diese Art des Vergessens oft ein großes Ärgernis für die betroffene Person ist, ist sie doch eine sehr sinnvolle Implementation eines selektiven Filters. Wenn ein Sinneseindruck wie Straßenlärm keine Aufmerksamkeit auf sich Seite 11/21

12 zieht, wird er nach zwanzig Sekunden einfach aus dem Ultrakurzzeit-Gedächtnis verworfen. Diese Eigenschaft ist sehr wichtig, denn eine Speicherung jeder einzelnen Begebenheit des Lebens würde das Gehirn schlicht überfordern. Und um ehrlich zu sein - wer möchte schon wissen, ob ein vor zehn Jahren vorbeifahrendes Auto Lärm gemacht hat oder nicht? Dieser Gedanke führt zu einer weiteren Eigenschaft dieser ersten Speicherstufe. Sie ermöglicht es uns, bestimmte Sachen unbewusst und im Hintergrund durchzuführen. Ein Beispiel hierfür wäre das Autofahren, bei dem man sich einerseits bewusst auf den Verkehr konzentriert, andererseits jedoch unbewusst das Auto steuert und die Schaltung verwendet. Die dazu notwendigen Bewegungen laufen automatisch ab, ohne Zutun. Bis es jedoch soweit ist, müssen diese Dinge oft wiederholt, also geübt werden. Durch diesen Vorgang werden im Gehirn immer wieder die gleichen Bahnen durchlaufen, welche dadurch exakt und sicher werden. So wird das menschliche Steuerzentrum entlastet und kann sich um andere Dinge kümmern [Vester 1978]. Um nun Informationen längerfristig zu speichern, muss eine Art Foto vom Inhalt des Ultrakurzzeit-Gedächtnisses gemacht werden. Dabei werden Signale elektrischer Natur in solche stofflicher Natur umgewandelt Das Kurzzeit-Gedächtnis Das Ablegen von Informationen im Gehirn als stofflich nachweisbares Gedankengut erfolgt in der zweiten Stufe der Informationsspeicherung, dem Kurzzeit- Gedächtnis. Eigentlich kann man von einer Übergangsphase sprechen, die in etwa zwanzig Minuten dauert und in der alle notwendigen biochemischen Vorgänge bis zur Langzeit-Speicherung ablaufen. Diesen Effekt erkennt man beispielsweise sehr deutlich bei schweren Unfällen, bei denen die Beteiligten oft an retrograder Amnesie leiden. Dieses rückwirkende Vergessen erklärt sich durch eine Blockade des Übergangs vom Kurz- ins Langzeit-Gedächtnis, verursacht durch Schreck oder Schock. Die länger als zwanzig Minuten zurückliegenden Ereignisse bleiben erhalten, vom Unfall selbst gibt es aber keine Erinnerungen. Das längere Festhalten von Sinneseindrücken ist mit einem Eingravieren vergleichbar. Dieser Sachverhalt zeigte sich in Experimenten, in denen Elektroschocks durchgeführt wurden. Würde die Informationsspeicherung nur aus Ionenströmen wie beim Ultrakurzzeit-Gedächtnis bestehen, müssten dabei alle im Gehirn gespeicherten Informationen verloren gehen - das ist jedoch nicht der Fall. Interessanterweise stellte man jedoch fest, wie man durch Eingriffe in den Stoffwechsel den Übergang ins Langzeit-Gedächtnis verhindern kann. Die augenblickliche Lernfähigkeit von Labortieren wurde durch das Stoppen der Eiweiß- Synthese durch chemische Mittel zwar nicht vermindert, aber das Erlernte wurde nach spätestens einer Stunde wieder vergessen [Vester 1978]. Seite 12/21

13 Doch wie funktioniert diese stoffliche Speicherung nun? Jede Zelle des menschlichen Körpers hat in ihrem Kern eine Art Gedächtnis, nämlich die in den Genen gespeicherte Erbinformation. Diese Informationen werden in den Nukleinsäuren der Zellkerne festgehalten, den sogenannten DNA - Doppelspiralen. Molekularbiologen vermuteten schon lange eine Speicherung der alltäglichen Erlebnisse in den Gehirnzellen auf ähnliche Art wie bei den uralten Erbinformationen. Und tatsächlich konnte in verschiedenen Versuchen gezeigt werden, dass auch beim Lernvorgang im Gehirn von bestimmten Abschnitten der DNA Abdrücke gebildet werden. Mit Hilfe eines Enzyms werden diese Teile schließlich zu einer Kette zusammengefügt. Dieser Vorgang wurde von Frederic Vester [Vester 1978] sehr verständlich beschrieben. [Abb. 5] mit Beschreibung stammt von ihm. Im Kern jeder Nervenzelle lagern die Gen- Pakete von DNA-Doppelspiralen (achtzehnmillionenfach vergrößert). Bei einem Lernvorgang faltet sich die Spirale, angeregt durch Wahrnehmungsimpulse, an bestimmten Stellen auseinander. Diese Stellen der DNA dienen als Matrize, an der sich Abdruck (RNA) bilden - einer hinter dem anderen. Damit ist die Information im Kurzzeit- Gedächtnis. Der erste RNA-Abdruck löst sich von der Matrize. Inzwischen rollen schon die nächsten darauf ab - wie auf einer Rotationspresse. Seite 13/21

14 Die Abdrucke wandern aus dem Zellkern zu einem von vielen hunderttausend Ribosomen (rechts im Bild), winzigen Knüpfmaschinen im Zellplasma. Hier schaffen Transportstoffe Aminosäuremoleküle heran und ordnen sie auf dem RNA-Streifen seinem Code entsprechend an. Die Information ist auf dem Weg ins Langzeit-Gedächtnis. Beim Durchgang durch das Ribosom werden die aufgereihten Aminosäuremoleküle zu einem langen Proteinmolekül verknüpft. Die neuen Proteinketten trennen sich nach der Wanderung durch das Ribosom von ihrer RNA-Matrize... und falten sich zu einem Knäuel zusammen. So werden sie als ruhende Informationsspeicher eingelagert, wobei sie die Zellmembran und damit auch die spätere Impulsweitergabe verändern. Der ursprüngliche Wahrnehmungsimpuls ist so im Langzeit-Gedächtnis verankert - aus Information ist Materie geworden, von der später... bei einem Erinnerungsvorgang die gespeicherte Information durch Aktivierung der Zelle wieder abgerufen werden kann. Dies allerdings im Zusammenspiel vieler über das Gehirn verteilter Neuronen, die sich zu einer Art Informationsmuster verknüpfen. Abbildung 5: Die Bilderserie zeigt die stoffliche Speicherung von Information in den Nervenzellen [Vester 1978]. Seite 14/21

15 Normale Körperzellen stellen nun mit diesen RNA Matrizen entsprechend aufgebaute Proteine her, die dann die eigentliche Arbeit der Zelle verrichten. Da sich Gehirnzellen aber nicht mehr teilen und nur an wenigen Stoffwechselreaktionen beteiligt sind, werden die Proteine hier an bestimmten Stellen des Neurons und seiner Fortsätze abgelagert. Durch diese Erkennungsmarken ist es ankommenden Signalen nun möglich, sich innerhalb des Neurons und seiner vielfältigen Verzweigungen zu orientieren Das Langzeit-Gedächtnis Die Speicherung im Langzeit-Gedächtnis, der dritten und letzten Stufe der Informationsverarbeitung, wurde nun geklärt. Die im Laufe eines Lebens gespeicherten Daten müssen jedoch auch wieder abgerufen werden können, was oft nicht so einfach ist. Der Grund dafür liegt beim Lernvorgang, der sehr stark vom wiederholt gleichen Denkvorgang abhängt. Je öfter ein elektrischer Impuls über eine Synapse ins Neuron gelangt, desto niedriger wird die notwenige Energie zum Übergang auf die Empfängerzelle. So kann auch eine Eigenart erklärt werden, die wohl jeder schon erlebt hat. Man sucht in seinen eigenen Gedanken nach einem bestimmten Namen und findet ein ähnliches, oft verwendetes Wort. Trotz größter Bemühungen ist es dann oft nicht mehr möglich, sich an den gesuchten Namen zu erinnern. Erst nach einer Denkpause, einem längeren Abschalten der Suche, kommt man dann schließlich zum Ziel. Dieser Vorgang lässt sich genau durch den Lernprozess des Wiederholens erklären. Die Energieschwelle zum bereits bekannten Wort ist sehr niedrig, die Nervenbahn sehr ausgeprägt. Die Ströme haben also einen Weg mit geringem Widerstand gefunden, den sie so schnell nicht mehr verlassen [Vester 1978]. 4.2 Die Arten des Vergessens In engem Zusammenhang mit dem Langzeit-Gedächtnis stehen auch die zwei Arten des Vergessens. Eigentlich stellt dies nur eine Zusammenfassung dar, denn aus dem bisherigen Text sind bereits alle nötigen Informationen herauslesbar. Das völlige, unwiderrufliche Vergessen ist an das Abklingen der Ionenströme im Ultrakurzzeit-Gedächtnis sowie an den Zerfall der RNA im Kurzzeit-Gedächtnis gebunden. Dies stellt einerseits eine Filterfunktion dar, durch die nur relevante Sinneseindrücke für längere Zeit gespeichert werden. Andererseits wird durch Schreck oder Schock sowie durch nachlassende Protein-Synthese im Alter ein Festhalten der Informationen verhindert. Die zweite Art besteht im Nicht-Wiederfinden von eigentlich irgendwo im Gehirn vorhandenen Erinnerungen. Durch traumatische Erlebnisse blockierte Synapsen können genau so wie jahrelang nicht abgerufene Informationsmuster Seite 15/21

16 und dadurch verkümmerte Nervenbahnen daran schuld sein. Oftmals können solche Erinnerungen unter Hypnose wieder zugänglich gemacht werden. Psychologisch betrachtet war dann der bewusste Zugriff gestört [Vester 1978]. 4.3 Denkblockaden Im vorherigen Kapitel wurde bereits über die Synapsen gesprochen, die den gesamten Informationsfluss im Gehirn regeln. In Stresssituationen, zu denen auch Angst, Schreck, Hektik oder Schmerz zählen, wird die Funktion solcher Synapsen gestört und es kommt zu Denkblockaden. Überlegungen zum Hormonhaushalt des Körpers und des Gehirns führen zu einer plausiblen Erklärung. Bei Stress werden die Hormone Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet, welche als Gegenspiel bestimmter Transmitter gelten. Zur Erinnerung: Transmitter sind diejenigen Substanzen, die für die Weiterleitung der an der Synapse anliegenden Signale verantwortlich sind. Noradrenalin ist dabei sogar selbst ein Transmitter, jedoch für hemmende Synapsen. Somit werden viele Impulse im Gehirn nicht mehr weitergeleitet, sobald der Adrenalin und Noradrenalin Gehalt im Gehirn ansteigt. Das ist der Moment, wo uns auf Biegen oder Brechen etwas nicht einfällt, in der Prüfungsangst oder in einer Panik. Es mag gerade noch zu einem einmaligen Feuern der Synapsen - einem Gedankenblitz - kommen, und der Sender wird schweigen. Die Information kann nicht an ihren Bestimmungsort gelangen, und wir haben es je nachdem mit Denkblockaden, Sinnesstörungen oder Gedächtnislücken zu tun - ganz gleich, wie fest man etwas gelernt hat oder wie intelligent man ist., so Frederic Vester [Vester 1978]. 4.4 Träume Ein weiterer interessanter Vorgang im Gehirn ist das Träumen. Vermutlich wird dabei eine Art Kontrolle der genetischen Buchhaltung durchgeführt. Somit wird im Schlafzustand der Urvorrat an Erinnerungen durch unkontrollierte RNA- Synthese entlang den Genmatrizen durchlaufen. Natürlich löst dies eine Menge von gedanklichen Assoziationen in der Hirnrinde aus, die dann vom Menschen als zusammenhängende Geschichte empfunden werden - ein Traum entsteht. Doch wieso kann man sich meistens nicht an die eigenen Träume erinnern? Auch dies ist leicht erklärbar: die Informationen werden anscheinend nicht durch eine Proteinsynthese fixiert und zerfallen deshalb nach etwa zwanzig Minuten. Wenn die träumende Person also in der Nacht kurz wach wird, wird ein Teil der gerade ablaufenden Bilder verankert und sie kann auch am nächsten Morgen noch darüber erzählen [Vester 1978]. Seite 16/21

17 4.5 Die Kunst der Konzentration Die Schwierigkeit, sich in einer unruhigen oder starken Änderungen unterworfenen Umgebung auf eine bestimmte Sache zu konzentrieren, kennt wohl jeder. Bei Kindern fällt diese Eigenschaft jedoch besonders auf, da die Fähigkeit des Gehirns, die wichtigen Sachen aus der Umgebung herauszufiltern, noch nicht ausgereift ist. Charmaine Liebertz [Liebertz 2005] beschreibt dies in der Zeitschrift Gehirn und Geist als Schwachstelle der Reizfilter im Gehirn, des Thalamus und des limbischen Systems. Diese Schwachstelle macht sich auch die Fernsehwerbung zu Nutze. Durch Manipulationen der Darstellung wie schnellen Bildschnitt und rasche Bewegungen versucht sie, die Filterfunktion unserer Wahrnehmung zu umgehen. Im Alltag täuscht man sich dabei oft selbst. Beim Autofahren Radio zu hören und sich eventuell noch mit dem Beifahrer zu unterhalten wird als echtes Multitasking gewertet, was aber laut Ernst Pöppel, dem Leiter des Instituts für Medizinische Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität in München, vom menschlichen Gehirn gar nicht beherrscht wird. Es kann sich nach seinen Forschungsergebnissen zwar gleichzeitig auf einen bestimmten Sachverhalt konzentrieren und im Hintergrund kurze Zeit Nebengeräusche wie Sprache oder Musik aufnehmen, aber diese können nicht in den Speicher aufgenommen werden oder anders gesagt zu nachhaltigen Informationen verarbeitet werden. Ein wichtiger Aspekt der Konzentrationsfähigkeit ist auch der hohe Energieverbrauch, den ein hart arbeitendes Gehirn aufweist. Da der Hauptnährstoff des Gehirn Glucose ist, fördert dessen Zufuhr in lang anhaltender Form anhand von Obst oder für kürzere Zeitspannen durch Süßigkeiten in hohem Maße die Aufmerksamkeit [Liebertz 2005]. 4.6 Visuelle Wahrnehmung Um dem Menschen das Sehen zu ermöglichen, müssen Auge und Gehirn sehr gut zusammenarbeiten. Die Hauptarbeit dabei liegt jedoch beim Gehirn, das die auf der Netzhaut abgebildeten Informationen in verarbeitbare Signale umwandelt und diese im sogenannten visuellen Kortex abrufbereit macht. Die visuelle Wahrnehmung beginnt also bei der Netzhaut oder Retina und folgt einem höchst komplexen Ablauf. Zuerst wird das durchs Auge einfallende Licht in den zapfen- und stäbchenförmigen Nervenzellen in elektrochemische Signale gewandelt. Diese werden dann über die Sehnerven in den optischen Hirntrakt und von dort weiter an den Kern des lateralen Kniehöckers geleitet. Dieser Kern fungiert als eine Art Durchgangsstation, die über eine Schleife von Nervensträngen - Gratiolet-Sehstrahlung genannt - die Impulse an die entsprechenden Speicherzellen im visuellen Kortex übermittelt. Diese im hinteren Teil des Schädels angeordnete Region besteht aus sehr spezialisierten Zellen und hat die Seite 17/21

18 Aufgabe, die ankommenden Signale zu speichern, zu registrieren und zu verfeinern. Die unterschiedlichen Zellformationen reagieren dann auf ganz bestimmte visuelle Reize wie etwa Linien mit verschiedenen Einfallswinkeln [Kotulak 1998]. Ein weiterer interessanter Aspekt ist die Stabilität des vom Auge aufgenommenen Bildes. Beim Drehen des Kopfs oder dem Durchqueren eines Raums vollführt das Auge ständig Bildsprünge, außerdem bewegen sich oft viele Objekte in der Umgebung. Trotzdem kann das Gehirn die Sinneseindrücke zusammenfügen und für den Menschen verständlich aufbereiten. Die Verarbeitung von Sinnesinformationen im Gehirn hebt die dauerhaften Eigenschaften der Dinge hervor und vernachlässigt die flüchtigen., argumentiert Jaques Ninio, Biologe an der École normale supérieure in Paris [Ninio 2005]. Diese Suche nach Konstanz bemerkt man besonders bei der Größenschätzung von Objekten. Darstellungen mit perspektivischer Tiefe können deshalb sehr gut für optische Täuschungen herangezogen werden, wie in [Abb. 6] zu sehen ist. Abbildung 6: Müller Lyer sche Täuschung: Die Linien a-b und c-d scheinen unterschiedlich lang zu sein, sind aber in Wirklichkeit identisch [Ninio 2005]. Seite 18/21

19 Das stereokopische Sehen mit zwei Augen ist für das Gehirn ebenfalls sehr wichtig. Es ermöglicht ihm den Vergleich von zwei Abbildungen des gleichen Gegenstands aus verschiedenen Blickwinkeln. Obwohl der Unterschied gering ist, können damit dreidimensionale Formen sowie Bewegungen im Raum wahrgenommen werden. So viel steht immerhin heute schon fest: Optische Illusionen sind keine Defizite unserer Wahrnehmung, sondern das Ergebnis verdeckter Verarbeitungsprozesse im Gehirn. Ihr Studium kann viel zur Aufklärung der zu Grunde liegenden Prinzipien beitragen. Auch wenn die Ursachen und neuronalen Grundlagen der meisten geometrischen Täuschungen heute noch weitgehend unerforscht sind, bleibt uns doch immerhin eines: das Staunen. [Ninio 2005] 5 Künstliche Intelligenz Kann es der Wissenschaft gelingen, aufgrund des Wissens über das Gehirn und das menschliche Nervensystem künstliche Intelligenz zu erzeugen? An dieser Frage spalten sich die Meinungen von verschiedensten Hirnforscher, Philosophen und Psychologen. Es muss nämlich zuerst eindeutig geklärt werden, was das menschliche Bewusstsein eigentlich ausmacht. Derzeit können Bewusstsein und Intelligenz nicht hinlänglich bewiesen werden. Oft wird zur Beantwortung dieser Frage der Turing Test aus dem Jahr 1951 angeführt, der in groben Grundzügen auf der schriftlichen Kommunikation zwischen Mensch und Maschine beruht. Sobald der Mensch nicht mehr herausfinden kann, ob er mit einer Maschine oder mit einem Menschen kommuniziert, kann man nach Turing von künstlicher Intelligenz sprechen. Es gibt jedoch auch kritische Stimmen [Churchland et al. 1994], die diesen Test für zu einfach halten und ihm vorwerfen, Dinge als intelligente Wesen durchgehen zu lassen, die überhaupt nicht intelligent sind. Im Gegensatz dazu wurden in der Vergangenheit auch schon menschliche Versuchspersonen für Maschinen gehalten. Ein weiterer Schwachpunkt des Systems ist, daß der Test in seiner derzeitigen Form zu eng gefaßt ist, weil intelligente Wesen ohne Sprachfähigkeiten ausgeschlossen bleiben. Aus all diesen Gründen wird darauf gedrängt, den Test auf ein breites Spektrum von Verhaltenstypen zu erweitern und damit die Zugangsvoraussetzungen zu verschärfen - unklar bleibt jedoch, unter welchen Gesichtspunkten dies geschehen soll. Paul M. Churchland [Churchland et al. 1994] ist als bekannter Vertreter seiner Fachrichtung Philosophie von der Möglichkeit künstlicher Intelligenz sehr überzeugt. Da Menschen durch ein parallel arbeitendes und ausreichend komplexes Netzwerk Intelligenz erwerben, könnte ein Computer theoretisch auch dazu in der Lage sein. Es ist derzeit schon eindeutig möglich, durch Geräte neurochemische und neurophysiologische Vorgänge im Körper zu simulieren. Seite 19/21

20 Abbildung 7: Links ist eine künstliche Netzhaut in Verbindung mit einem Bio- Chip zu sehen, rechts ein künstliches Innenohr [Pädag. Institut Bozen 2005]. Dies geht beispielsweise aus Experimenten zur künstlichen Nachbildung einer Netzhaut und einer Innenohrschnecke anhand von höchstintegrierten Schaltungen hervor [Abb. 7]. Auf dieser Basis kann man davon ausgehen, dass etwas Ähnliches vielleicht auch bei vielen der höheren Gehirnzentren gelingen könnte. Die Frage, ob ein solches elektronisches Gehirn wirklich Bewusstsein besitzt, kann momentan nur theoretisch beantwortet werden. Künstliche Intelligenz in einer nicht-biologischen, aber massiv parallelen Maschine bleibt eine fesselnde und realistische Perspektive., so Churchland. 6 Zusammenfassung und Ausblick Obwohl in den diversen Neurowissenschaften wesentliche Abläufe des Hirns erforscht wurden, bleiben noch relativ viele wichtige Funktionalitäten verborgen. Es ist in der heutigen Zeit also möglich, anhand von farbigen Bildern und Diagrammen die verwendeten Hirnregionen darzustellen, was sehr eindrucksvoll ist. Auch der Aufbau, die Physiologie der Nervenzellen und ihre Kommunikation zur Außenwelt über Synapsen ist sehr genau erforscht. Zwischen diesen Aspekten klafft aber eine große Lücke, wie Dietrich Dörner [Dörner 2004] von der Universität Bamberg anmerkt: Niemand weiß, auf welche Weise neuronale Netze und Zellverbände zum Beispiel Angst hervorbringen oder Denken oder einen genialen Einfall. Hier muss angesetzt werden; dies wird der Schwerpunkt der künftigen Forschung sein. Ein weiterer wichtiger Punkt wird jedoch die Neuroethik werden, die sich vor allem mit den Grenzen der Hirnforschung im gesellschaftlichen Bereich sowie in späterer Folge auch mit der Erstellung eines neuen Menschenbilds beschäftigen muss. Wissen ist Macht, schrieb bereits 1507 der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Francis Bacon. Es bleibt zu Hoffen, dass diese Macht in die richtigen Hände fällt und sich nicht irgendwann gegen die Menschheit selbst wendet. Seite 20/21

21 Literaturverzeichnis [Vester 1978] Vester, F.: Denken, Lernen, Vergessen ; Deutscher Taschenbuch Verlag, München (1978). [Eccles 2000] Eccles, J.C.: Das Gehirn des Menschen ; Seehamer Verlag, Weyarn (2000). [Kotulak 1998] Kotulak, R.: Die Reise ins Innere des Gehirns ; Jungfermannsche Verlagsbuchhandlung, Paderborn (1998). [Singer 1994] Singer, W.: Einführung ; Buch Gehirn und Bewußtsein, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg/Berlin/Oxford (1994), VII-IX. [Churchland et al. 1994] Churchland, P.M., Churchland, P.S.: Ist eine denkende Maschine möglich? ; Buch Gehirn und Bewußtsein, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg/Berlin/Oxford (1994), [Kimura 1994] Kimura, D.: Weibliches und männliches Gehirn ; Buch Gehirn und Bewußtsein, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg/Berlin/Oxford (1994), [Liebertz 2005] Liebertz, C.: Alle Mal Aufpassen! ; Gehirn&Geist, 1-2 (2005), [Ninio 2005] Ninio, J.: Der gute Knick in der Optik ; Gehirn&Geist, 1-2 (2005), [Dörner 2004] Dörner, D.: Man muss wissen, wonach man sucht ; Gehirn&Geist, 7 (2004), [Koch et al. 1990] Koch, C., Luhmann, H., Malsburg, C., Menzel, R., Friederici, A.D., Eler, C.E., Singer, W., Scheich, H., Roth, G., Rösler, F., Monyer, H.: Das Manifest ; Gehirn&Geist, 6 (2004), [Chudler 2005] und faculty.washington.edu/chudler/nobel.html( , Chudler, E.H.) [Wojiechowski 2005] online-sem/synapse/sld007.htm ( , Wojiechowski, T.) [Pädag. Institut Bozen 2005] modellmathe/ma0615.htm und angebote/neurotechnologie/ne264.htm ( , Pädagogisches Institut für die deutsche Sprachgruppe - Bozen) [Universität Zürich 2005] innenansichten.html ( , Pressestelle der Universität Zürich) Seite 21/21