Anmerkungen zur Rücknahme des Flüchtlingsstatus

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1 Anmerkungen zur Rücknahme des Flüchtlingsstatus Inhalt Seite I. EINLEITUNG 2 II. ALLGEMEINE ÜBERLEGUNGEN UND RECHTSGRUNDSÄTZE 3 A. Allgemeine Überlegungen 3 B. Allgemeine Rechtsgrundsätze 3 C. Einleitung des Rücknahmeverfahrens 5 III. GRÜNDE FÜR DIE RÜCKNAHME DES FLÜCHTLINGSSTATUS 5 A. Inhaltliche Kriterien für die Rücknahme des Flüchtlingsstatus 6 B. Kriterien für die Aufhebung rechtskräftiger Verwaltungsentscheidungen 7 Betrug durch den/die Antragstellende/n 7 Anderes ordnungswidriges Verhalten des/der Antragstellenden 8 Aufhebung aufgrund eines Fehlers der Prüfbehörde 8 IV. BEWEISAUFLAGEN 10 A. Erforderliche Beweismittel für das Vorliegen eines Rücknahmegrundes 10 B. Beweislast und Beweisstandard 10 C. Andere Beweisfragen 11 V. RÜCKNAHME ERMESSENSSACHE ODER VERPFLICHTUNG? 12 VI. VERFAHRENSFRAGEN 12 VII. WIRKSAMKEIT UND FOLGEN 13 Protection Policy and Legal Advice Section Department of International Protection Genf, 22. November 2004 Deutsche Übersetzung: UNHCR Österreich Mai 2005

2 I. EINLEITUNG 1. Nach geltenden Rechtsgrundsätzen und -standards kann eine Person, die von einem Staat gemäß dem Abkommen von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und dessen Protokoll von 1967 (im Folgenden als Genfer Flüchtlingskonvention bezeichnet) als Flüchtling anerkannt und/oder von UNHCR als Mandatsflüchtling eingestuft wurde, den Flüchtlingsstatus nur unter bestimmten Voraussetzungen verlieren. In diesem Zusammenhang ist zwischen den folgenden drei Kategorien zu unterscheiden: (i) Rücknahme * : die Entscheidung, die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus, die ursprünglich nicht hätte gewährt werden sollen, außer Kraft zu setzen. Die Rücknahme betrifft Entscheidungen, die bereits Rechtskraft erlangt haben, d. h. gegen die kein Rechtsmittel mehr zulässig bzw. keine gerichtliche Überprüfung mehr möglich ist. Sie bewirkt, dass der Flüchtlingsstatus mit Wirkung des Tages, an dem die ursprüngliche Feststellung erfolgte, null und nichtig ist (ab initio oder ex tunc von Anfang an oder seit damals). 1 (ii) Widerruf: Rücknahme des Flüchtlingsstatus in Situationen, in denen eine als Flüchtling anerkannte Person Handlungen vornimmt, die in den Anwendungsbereich des Artikels 1 F (a) oder 1 F (c) der Genfer Flüchtlingskonvention fallen. Hier bezieht sich die Wirkung auf die Zukunft (ex nunc von nun an). 2 (iii) Beendigung ** : das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Artikel 1 C der Genfer Flüchtlingskonvention, da internationaler Schutz aufgrund bestimmter freiwilliger Handlungen der betreffenden Person oder einer grundlegenden Änderung der Lage im Herkunftsland nicht länger erforderlich oder gerechtfertigt ist. Die Beendigung wirkt in die Zukunft (ex nunc). 3 * Anmerkung der Übersetzer: Der im englischen Original benutzte Begriff ist cancellation, der in bisherigen deutschen Übersetzungen uneinheitlich übersetzt wurde. Um diesen Begriff mit der deutschen und österreichischen Terminologie in Einklang zu bringen, wurde nunmehr der Begriff Rücknahme gewählt. 1 Siehe UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 1979, Neuauflage Januar 1992 (im Folgenden als UNHCR-Handbuch bezeichnet), Absatz 117. Siehe auch S. Kapferer, Cancellation of Refugee Status, UNHCR Legal and Protection Policy Research Series, Department of International Protection, PPLA/2003/02, März Siehe UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Anwendung der Ausschlussklauseln: Artikel 1 F des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, HCR/GIP/03/05, 19. August 2003 (im Folgenden als Ausschlussrichtlinien bezeichnet ) samt angeschlossener Hintergrundinformation über die Anwendung der Ausschlussklauseln (im Folgenden als Hintergrundinformation über den Ausschluss bezeichnet ), insbesondere Absätze 11 und 17 des letztgenannten Dokuments. ** Anmerkung der Übersetzer: Der im englischen Original benutzte Begriff ist cessation. Werden Tatbestände des Artikels 1 C als Grundlage für eine entsprechende Verwaltungshandlung zur Beendigung des Flüchtlingsstatus herangezogen, spricht man nach der deutschen verwaltungsverfahrensrechtlichen Terminologie auch hier von Widerruf. 3 Siehe UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Beendigung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Artikels 1 C (5) und (6) des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ( Wegfall der Umstände"-Klausel), HCR/GIP/03/03, 10. Februar 2003; UNHCR: Die Ausschlussklauseln: Richtlinien für ihre Anwendung, 26. April 1999; UNHCR, Note on the Cessation Clauses, 30. Mai 1997; UNHCR, Discussion Note on the Application of the Ceased Circumstances Cessation Clauses in the 1951 Convention, 20. Dezember

3 2. Die oben genannten Gründe für die Beendigung des internationalen Flüchtlingsschutzes dürfen nicht mit der Ausweisung nach Artikel 32 und auch nicht mit dem Verlust des Schutzes vor Refoulement nach Artikel 33 (2) der Genfer Flüchtlingskonvention verwechselt werden. Keine dieser Bestimmungen sieht den Verlust der Flüchtlingseigenschaft einer Person vor, die zum Zeitpunkt der ursprünglichen Statusfeststellung die Anspruchskriterien der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllte Die vorliegenden Anmerkungen legen die rechtlichen Parameter für die Rücknahme der durch einen Staat gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention zuerkannten Flüchtlingseigenschaft fest. In den gesamten Anmerkungen werden die Begriffe Rücknahme und Widerruf gemäß der in Absatz 1 enthaltenen Definition verwendet. Die Voraussetzungen und Kriterien für die Beendigung der Flüchtlingseigenschaft sind Gegenstand der UNHCR-Beendigungsrichtlinien 5, jene für den Widerruf sind in den UNHCR-Ausschlussrichtlinien 6 dargelegt. II. ALLGEMEINE ÜBERLEGUNGEN UND RECHTSGRUNDSÄTZE A. Allgemeine Überlegungen 4. Die Frage der Rücknahme stellt sich, wenn sich Gründe für die Annahme ergeben, dass einer nach der Genfer Flüchtlingskonvention als Flüchtling anerkannten Person dieser Status zum Zeitpunkt der Zuerkennung nicht hätte gewährt werden sollen. Das ist bei Vorliegen von Hinweisen der Fall, dass der/die Antragstellende zum Zeitpunkt der ursprünglichen Entscheidung die Einbeziehungskriterien der Genfer Flüchtlingskonvention nicht erfüllte oder dass auf ihn/sie eine Ausschlussklausel der Konvention anzuwenden gewesen wäre Grundsätzlich können Personen, die zum Zeitpunkt der Gewährung des Flüchtlingsstatus keinen Anspruch auf internationalen Schutz hatten, das Erleiden eines Schadens durch die Rücknahme eines Status, der ihnen nicht hätte gewährt werden dürfen, nicht geltend machen. Die Genfer Flüchtlingskonvention hat nicht den Zweck, Personen unter internationalen Schutz zu stellen, die diesen nicht benötigen oder nicht verdienen. Die auf einem Fehler beruhende Anerkennung muss richtig gestellt werden, um die Integrität der Flüchtlingsdefinition zu bewahren. Dies zeigt, dass die Rücknahme voll und ganz dem Sinn und Zweck der Genfer Flüchtlingskonvention entspricht, auch wenn sie darin nicht ausdrücklich vorgesehen ist. Wie in den folgenden Abschnitten ausgeführt, ist eine Rücknahme jedoch nur bei Erfüllung bestimmter Kriterien rechtmäßig. B. Allgemeine Rechtsgrundsätze 6. Da die Frage der Rücknahme im Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 nicht konkret angesprochen wird, kommen allgemeine Rechtsgrundsätze zur Anwendung. Obwohl einige Unterschiede im Detail zwischen Common Law und Civil Law Rechtsordnungen und überdies innerhalb dieser Rechtssysteme von einem 4 Siehe auch Hintergrundinformation über den Ausschluss, Fußnote 2, Absatz Siehe Fußnote 3. 6 Siehe Fußnote 2. 7 Siehe Absätze 15 und 16. 3

4 Land zum anderen bestehen, sind die allgemein auf die Rücknahme anwendbaren rechtlichen Kriterien und Erfordernisse doch sehr ähnlich. Der vom internationalen Flüchtlingsrecht und den anwendbaren allgemeinen Grundsätzen geschaffene rechtliche Rahmen grenzt die Bedingungen ab, unter denen die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus zurückgenommen werden kann, und stellt gleichzeitig den Schutz vor einer willkürlichen oder diskriminierenden Rücknahme des Status von Personen sicher, die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention geltend machen. 7. Wenn eine gerichtliche oder administrative Entscheidung fehlerhaft ist, wird sie in den meisten Fällen dennoch rechtskräftig und bindend. Die Befugnis, eine solche Entscheidung neu aufzurollen, stellt eine Ausnahme von der Regel dar, wonach eine rechtskräftige Feststellung zwangsläufig eine endgültige und bindende Entscheidung (res judicata) ist. Dieser Grundsatz, der im Recht und in der Rechtsprechung vieler Staaten seinen Niederschlag gefunden hat, besagt, dass eine Angelegenheit, die Gegenstand einer gerichtlichen Entscheidung war, abgesehen von ausdrücklich im Gesetz vorgesehenen besonderen Umständen nicht neu aufgerollt und erneut geprüft werden kann. Während res judicata auch für rechtskräftige Verwaltungsentscheidungen gilt, ist die im anwendbaren innerstaatlichen Recht und/oder in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen festgelegte Schwelle für die Wiederaufnahme von Verwaltungsentscheidungen in der Regel niedriger als für Gerichtsentscheide. In Civil Law Systemen sollen die gesetzlich vorgesehenen Gründe für die Wiederaufnahme die Rechtsgültigkeit rechtskräftiger Verwaltungsakte durchbrechen, die ansonsten einer neuerlichen Prüfung der Angelegenheit entgegenstehen würde. In Common Law Rechtsordnungen muss res judicata auch hinter der Lehrmeinung zurückstehen, dass Beschlüsse einer außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs (ultra vires) handelnden Behörde als nichtig anzusehen sind und jederzeit außer Kraft gesetzt werden können. Die vorliegenden Anmerkungen legen die Bedingungen und Kriterien für die Rücknahme der durch Verwaltungsentscheidung zuerkannten Flüchtlingsstatus fest. 8. Wann immer eine rechtskräftige Verwaltungsentscheidung im Hinblick auf ihre mögliche Außerkraftsetzung wieder aufgenommen wird, müssen die allgemeinen Grundsätze der Rechtssicherheit und des Schutzes gerechtfertigter Erwartungen oder erworbener Rechte in Einklang mit den Erfordernissen gebracht werden, die sich aus dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit ableiten. Letzterer besagt, dass Entscheidungsträger an das Gesetz gebunden und rechtswidrige Situationen zu berichtigen sind, während die Anwendung der beiden erstgenannten Grundsätze Staaten gegebenenfalls an der Aufhebung einer fehlerhaften Verwaltungsentscheidung hindert, wenn deren eigene Organe für den Fehler verantwortlich sind. 8 Außerdem verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Folgen der Aufhebung einer fehlerhaften Entscheidung für die betroffene Person in Betracht zu ziehen sind. 9 Ferner sind auch die mit einem fairen Verfahren verbundenen Garantien und Schutzmechanismen anzuwenden. 9. Zusammenfassend sei festgestellt, dass die Annullierung des Flüchtlingsstatus ab initio unabhängig von den Gründen für die Wiederaufnahme des Feststellungsverfahrens eines Flüchtlings nur dann rechtmäßig sein kann, wenn durch angemessene Beweise untermauerte Gründe für die Rücknahme vorliegen, wenn die Folgen der Rücknahme für die betroffene Person eindeutig nicht 8 Siehe auch Absatz Siehe auch Absatz 29. 4

5 unverhältnismäßig sind und keinen erheblichen Nachteil für sie darstellen und wenn die Rücknahmeentscheidung unter gebührender Beachtung der mit einem fairen Verfahren verbundenen Garantien und Absicherungen getroffen wird. C. Einleitung des Rücknahmeverfahrens 10. Die Wiederaufnahme eines rechtskräftig entschiedenen Feststellungsverfahrens durch die Behörde, die die Entscheidung getroffen hat, durch ein übergeordnetes Organ derselben Verwaltungsbehörde oder durch ein Gericht bedarf stets einer Rechtsgrundlage. Abhängig vom jeweiligen Rechtssystem kann diese gesetzlich festgelegt oder aus geltenden allgemeinen Rechtsgrundsätzen abgeleitet sein. 11. Innerstaatliches Flüchtlingsrecht oder geltendes Verwaltungsrecht sieht für die Wiederaufnahme eines rechtskräftig entschiedenen Asylverfahrens oft Fristen vor, die sich über einige Monate bis zu mehreren Jahren ab dem Datum der Entscheidung erstrecken können. Dies gilt gewöhnlich nicht für Entscheidungen, die durch Betrug oder andere strafbare Handlungen erreicht wurden; diese können jederzeit wieder aufgerollt werden, wobei es allerdings Verfahrensregeln geben kann, die die Wiederaufnahme einer Entscheidung auf einen bestimmten Zeitraum ab jenem Zeitpunkt beschränken, zu dem die Behörde von eine neuerliche Prüfung rechtfertigenden Elementen Kenntnis erlangt. Selbst wenn das Gesetz keine konkreten Fristen für die Wiederaufnahme einer rechtskräftigen Entscheidung vorschreibt, kann eine unangemessene Verzögerung die Behörde aus Erwägungen der Verfahrensfairness an der Fortsetzung der Rücknahme hindern, wenn dem/der Betroffenen Nachteile aus der Verzögerung erwachsen. 12. Informationen, die Zweifel an einer positiv abgeschlossenen Statusfeststellung aufkommen lassen, können auf verschiedenste Weise ans Licht kommen von reinem Zufall bis zu einer im innerstaatlichen Flüchtlingsrecht vorgeschriebenen verpflichtenden Überprüfung. In der Praxis werden Rücknahmeüberlegungen oft durch offensichtliche Widersprüche in den Angaben von Flüchtlingen oder anderen Personen im Zuge eines späteren Verfahrens ausgelöst, etwa bei Anträgen auf ständigen Aufenthalt oder auf Familienzusammenführung. Informationen, die die mögliche Anwendung des Artikels 1 F der Genfer Flüchtlingskonvention nahe legen, können sich auch im Zuge strafrechtlicher Ermittlungen oder während eines Ausweisungsverfahrens ergeben. 13. Als allgemeine Regel gilt, dass Rücknahmeverfahren nicht eingeleitet werden sollten, es sei denn, es liegen triftige Gründe vor, die Korrektheit der ursprünglichen Entscheidung anzuzweifeln. III. GRÜNDE FÜR DIE RÜCKNAHME DES FLÜCHTLINGSSTATUS 14. Voraussetzung für die Aufhebung einer Verwaltungsentscheidung ist die Feststellung der inhaltlichen Unrichtigkeit des Beschlusses. Handelt es sich bei dem Verwaltungsakt um die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus, so sind die maßgeblichen inhaltlichen Kriterien jene, die die Anspruchsvoraussetzungen für den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention regeln (siehe Absätze 15 und 16). Die Bedingungen, unter denen die Entscheidung überprüft und vorausgesetzt, es wurde ein inhaltlicher Fehler festgestellt, außer Kraft gesetzt werden kann, können sich abhängig von den Umständen, die die Prüfbehörde zur 5

6 unkorrekten Entscheidung veranlassten, unterschiedlich sein. Die maßgeblichen Kriterien können sich aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen und dem innerstaatlichen Verwaltungsrecht herleiten (siehe Absätze 17-29). A. Inhaltliche Kriterien für die Rücknahme des Flüchtlingsstatus 15. Die Rücknahme eines zuerkannten Flüchtlingsstatus ist nur bei Nachweis der Unrichtigkeit der ursprünglichen Entscheidung gerechtfertigt, weil (i) die Einbeziehungskriterien aus Artikel 1 A (2) der Genfer Flüchtlingskonvention nicht erfüllt waren, 10 oder (ii) eine Ausschlussklausel der Genfer Flüchtlingskonvention auf den/die Antragstellende/n hätte angewendet werden sollen, da diese/r keinen internationalen Schutz benötigte, weil er/sie Schutz von einer Organisation oder Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme von UNHCR erhielt (Artikel 1 D der Genfer Flüchtlingskonvention) 11 oder weil er/sie von den zuständigen Behörden eines anderen Landes, in dem er/sie seinen/ihren Aufenthalt genommen hat, als eine Person anerkannt wurde, welche die Rechte und Pflichten hat, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind (Artikel 1 E der Genfer Flüchtlingskonvention); 12 oder keinen internationalen Schutz verdiente, weil schwerwiegende Gründe für die Annahme vorlagen, dass er/sie in den Anwendungsbereich von Artikel 1 F der Genfer Flüchtlingskonvention fallende Handlungen verübt hat Die Rücknahme auf der Grundlage einer der Ausschließungsklauseln der Genfer Flüchtlingskonvention kann nur dann rechtens sein, wenn alle Elemente der betreffenden Bestimmung (Artikel 1 D, 1 E oder 1 F) bereits zum Zeitpunkt der ursprünglichen Feststellung vorhanden waren. In der Praxis ergeben sich Rücknahmeüberlegungen im Zusammenhang mit einem Ausschluss oft in Bezug auf Artikel 1 F der Genfer Flüchtlingskonvention. Immer dann, wenn Informationen ans Licht kommen, die auf die mögliche Anwendung des Artikels 1 F zum Zeitpunkt der ursprünglichen Statusfeststellung hinweisen, muss eine vollständige Prüfung aller Aspekte des Antrags vorgenommen werden. Es muss nachgewiesen werden, dass die dem/der Antragstellenden zugeschriebenen Handlungen den Definitionen jener Taten entsprechen, die gemäß den maßgeblichen Rechtsnormen den Ausschluss nach sich ziehen, und dass glaubwürdige und verlässliche Informationen vorliegen, die die 10 Die in Artikel 1 A (2) der Genfer Flüchtlingskonvention enthaltene Flüchtlingsdefinition besagt, dass für die Zwecke dieses Abkommens der Begriff Flüchtling auf jede Person Anwendung findet, die [ ] aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will. 11 Siehe UNHCR, Anmerkungen über die Anwendbarkeit von Artikel 1 D des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge auf palästinensische Flüchtlinge, Oktober 2002 (im Folgenden als Anmerkungen zu Artikel 1 D bezeichnet). 12 Siehe UNHCR-Handbuch, Fußnote 1 oben, Absätze Siehe Hintergrundinformation über den Ausschluss, Fußnote 2 oben, insbesondere Absätze

7 persönliche Verantwortung des/der Antragstellenden für die betreffenden Handlungen belegen. Schließlich verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Folgen des Ausschlusses berücksichtigt und der Schwere der Straftat gegenübergestellt werden. 14 B. Kriterien für die Aufhebung rechtskräftiger Verwaltungsentscheidungen 17. Innerstaatliche Rechtsvorschriften lassen in der Regel die Aufhebung einer rechtskräftigen Verwaltungsentscheidung zu, wenn im Nachhinein festgestellt wird, dass sie zu Unrecht getroffen wurde. Die Voraussetzungen, unter denen ein Staat eine unkorrekte Verwaltungsentscheidung gegebenenfalls aufhebt, variieren abhängig davon, wodurch der Fehler verursacht wurde: (i) substanzieller Betrug durch den/die Antragstellende/n hinsichtlich wesentlicher Aspekte, die seinen/ihren Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus betreffen, (ii) (iii) anderes ordnungswidriges Verhalten des/der Antragstellenden, das die Frage seiner/ihrer Anspruchsberechtigung in wesentlichen Punkten beeinflusst, zum Beispiel Drohung oder Bestechung, ein Rechtsirrtum oder faktischer Fehler der Prüfbehörde. 18. In den folgenden Abschnitten wird beschrieben, wie diese Kriterien auf Fälle anzuwenden sind, in denen der Flüchtlingsstatus einer Person zuerkannt wurde, die zum Zeitpunkt der Zuerkennung nicht den anspruchsbegründenden Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention entsprach. Betrug durch den/die Antragstellende/n 19. Die Tatsache, dass eine durch betrügerische Mittel erreichte Verwaltungsentscheidung durch eben diesen Umstand hinfällig wird und jederzeit aufgehoben werden kann, ist ein allgemein akzeptiertes Prinzip. Es ist in vielen nationalen Flüchtlingsgesetzen, Rechtsvorschriften über allgemeine Verwaltungsverfahren, Rechtsprechungen und Lehrmeinungen sowie in politischen UNHCR-Dokumenten verankert. Es ist auch weithin anerkannt, dass eine durch betrügerische Mittel erlangte Entscheidung nicht die Grundlage für gerechtfertigte Erwartungen oder erworbene Rechte bilden kann. 20. Kommt Betrug als Grund für die Rücknahme in Frage, müssen laut den Rechtsvorschriften und der Rechtsprechung der Staaten übereinstimmend alle drei folgenden Elemente gegeben sein: (a) objektiv unrichtige Angaben des/der Antragstellenden (b) Kausalität zwischen diesen Angaben und der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft und (c) vorsätzliche Irreführung durch den/die Antragstellende/n 21. Welche Beweise eine Behörde zu erbringen hat, die behauptet, dass Angaben des/der Antragstellenden unrichtig gewesen seien, sind in den Absätzen aufgeführt. 14 Die Rechtsgrundsätze und -standards, die die Anwendung von Artikel 1 F der Genfer Flüchtlingskonvention regeln, sind den UNHCR-Richtlinien und der UNHCR-Hintergrundinformation über den Ausschluss zu entnehmen, Fußnote 2 oben. 7

8 22. Kausalität bedeutet, dass sich die falschen Angaben oder das Verschweigen durch den/die Antragstellenden auf maßgebliche oder rechtserhebliche Fakten beziehen müssen, d. h. auf Elemente, die für die Anerkennung eindeutig von ausschlaggebender Bedeutung waren. In der Praxis betreffen falsche Angaben oft die Identität und/oder die Staatsangehörigkeit des/der Antragstellenden, oder die wichtigsten Umstände, die ihn/sie zur Flucht veranlasst haben. Da falsche Angaben zu diesen Elementen wichtig sind und die allgemeine Glaubwürdigkeit eines Antrags in Frage stellen, sind sie grundsätzlich entscheidende Faktoren bei der Feststellung des Status eines/einer Antragstellenden. 23. Bei der Feststellung des Vorliegens einer vorsätzlichen Täuschung müssen sich EntscheidungsträgerInnen mit den besonderen Umständen auseinandersetzen, die mit Asylanträgen verbunden sind. Traumatische Erlebnisse, die inzwischen vergangene Zeit oder die Intensität zurückliegender Ereignisse machen es Antragstellenden oft schwer, offen zu sprechen und eine vollständige und sachliche Schilderung ohne Ungereimtheiten und Unklarheiten abzugeben. Kleinere Auslassungen oder Ungenauigkeiten, unklare oder unrichtige Angaben, die unbedeutend sind, sollten nicht ausschlaggebend für Zweifel an der Glaubwürdigkeit des/der Antragstellenden sein und vor allem nicht als ausreichender Nachweis für das Vorliegen von vorsätzlicher Täuschung angesehen werden. Die Verwendung gefälschter Dokumente sollte auch unter Berücksichtigung der Umstände des Falles beurteilt werden: In vielen Fällen müssen sich Asylsuchende gefälschter Dokumente bedienen, um vor Verfolgung zu fliehen. Die Verwendung gefälschter Dokumente bedeutet an und für sich noch nicht, dass ein Antrag in betrügerischer Absicht gestellt wurde, und sollte in keinem Fall automatisch die Rücknahme des Flüchtlingsstatus nach sich ziehen, vorausgesetzt, die wahre Identität und Staatsangehörigkeit der Person sind bekannt und waren die Grundlage der Zuerkennungsentscheidung. Hier sei auch angemerkt, dass die Rücknahme nicht als Bestrafung für unrichtige Angaben dienen darf. 24. Die Rücknahme aufgrund eines Ausschlussgrundes erfolgt oft wegen falscher Angaben oder Verschweigens durch den/die Antragstellende/n. In solchen Fällen kann der Flüchtlingsstatus aberkannt werden, wenn zum Zeitpunkt der ursprünglichen Entscheidung alle Kriterien für die Anwendung einer Ausschlussklausel erfüllt waren. Die Prüfbehörde muss in diesem Fall das Vorliegen von Betrugselementen nicht mehr nachweisen, obwohl das bedeuten kann, dass Fristen, nach deren Ablauf eine Entscheidung nicht mehr überprüft werden kann, zum Tragen kommen. Anderes ordnungswidriges Verhalten des/der Antragstellenden 25. Hat ein/e Antragstellende/r den Flüchtlingsstatus durch Bestechung oder Bedrohung des/der für die Entscheidung zuständigen BeamtIn erlangt, so stellt dies einen Grund für die Rücknahme dar, wenn dieses Verhalten maßgebend für die getroffene Entscheidung war und zur Anerkennung eines/einer Antragstellenden geführt hat, der/die nicht den Anspruchskriterien der Genfer Flüchtlingskonvention entsprach. Aufhebung aufgrund eines Fehlers der Prüfbehörde 26. Der positive Ausgang eines Asylverfahrens kann auf einen Fehler des/der EntscheidungsträgerIn zurückzuführen sein. Der Flüchtlingsstatus kann zu Unrecht zuerkannt worden sein, wenn der Prüfbehörde ein Fehler in der rechtlichen 8

9 Würdigung der ihr vorliegenden Fakten unterläuft, indem sie zum Beispiel zu Unrecht zu der Ansicht gelangt, dass der befürchtete Schaden eine Form der Verfolgung darstellt und/oder auf einem Konventionsgrund beruht, oder indem sie die Erfordernisse für die Anwendung einer Ausschlussklausel falsch interpretiert (Rechtsirrtum). Die Behörde kann es auch unterlassen haben, die richtigen Fakten des Falles festzustellen, zum Beispiel weil sie nicht die entsprechenden Ermittlungen durchgeführt hat oder diese vielleicht nicht durchführen konnte, da der wahre Sachverhalt erst bekannt wird, nachdem die Entscheidung getroffen wurde (Tatsachenirrtum). 27. Bei der Feststellung, ob ein/e Antragstellende/r die Kriterien der Flüchtlingsdefinition erfüllt, haben die für die Entscheidung zuständigen BeamtInnen in der Regel, vorbehaltlich einer gerichtlichen Überprüfung, freie Hand bei der Bewertung und Würdigung der ihnen vorliegenden Informationen. Ein Fehler bei der Würdigung der den Antrag betreffenden Beweismittel kann die Aufhebung der Entscheidung bewirken. Allerdings kann die positive Beurteilung der Anspruchsberechtigung eines/einer Antragstellenden nicht einfach deshalb rückgängig gemacht werden, weil im Nachhinein die Frage, ob begründete Furcht vorliegt, anders beurteilt wird oder eine Meinungsänderung in Bezug auf seine/ihre Glaubwürdigkeit eintritt Das geltende innerstaatliche Recht sieht in der Regel strenge Auflagen für die Aufhebung rechtskräftiger Verwaltungsentscheidungen vor, die zugunsten von Personen auf der Grundlage eines Irrtums getroffen wurden, der ausschließlich der Prüfbehörde zuzuschreiben ist. Oft sind Fristen vorgeschrieben, nach deren Ablauf selbst rechtswidrige Entscheidungen nicht mehr aufgehoben werden können. Wenn ein/e Antragstellende/r seinen/ihren Antrag in gutem Glauben gestellt hat und deshalb auf die Richtigkeit und Rechtsgültigkeit der Entscheidung vertrauen konnte, werden die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Schutzes berechtigter Erwartungen normalerweise schwerer wiegen als das Interesse des Staates an der Richtigstellung von Fehlern seiner Entscheidungsorgane. In solchen Fällen kann es der Behörde verwehrt sein, die Rücknahme auszusprechen, oder sie kann verpflichtet werden, die Betroffenen zu entschädigen. 29. In all diesen Fällen gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der die Abwägung des öffentlichen Interesses an der Berichtigung einer Fehlentscheidung gegen jenes der Betroffenen an ihrer Beibehaltung verlangt. 16 Alle maßgeblichen Umstände des Falles sollten berücksichtigt werden, einschließlich der Dauer des Aufenthalts der Person und des Ausmaßes ihrer sozialen und wirtschaftlichen Integration sowie möglicher Härten, die eine Rücknahmeentscheidung für sie bedeuten kann. Wo die Rücknahme im Zusammenhang mit Ausschluss angezeigt ist, ist die Schwere der betreffenden Handlung eine wichtige Überlegung bei der Einschätzung der Verhältnismäßigkeit. 15 Siehe auch Absatz Siehe auch Absatz 8. 9

10 IV. BEWEISAUFLAGEN A. Erforderliche Beweismittel für das Vorliegen eines Rücknahmegrundes 30. Das Vorliegen eines Rücknahmegrundes ist anhand von Beweismitteln zu belegen. Grundsätzlich kann, vorbehaltlich der nach innerstaatlichem Recht anwendbaren Beweisregeln, jede Art von Information im Rahmen der nachstehend beschriebenen Parameter als Nachweis herangezogen werden. 31. In jedem Fall muss es sich bei Beweismitteln für die Zwecke der Rücknahme um Informationen handeln, die sich auf Elemente beziehen, die im ursprünglichen, positiv abgeschlossenen Feststellungsverfahren rechtserheblich waren. Diese Informationen müssen das Vorliegen eines Grundes für die Ablehnung oder den Ausschluss zum Zeitpunkt der ursprünglichen Antragsprüfung nachweisen. Sie dürfen nicht mit Informationen über wesentliche Veränderungen in den Verhältnissen verwechselt werden, die zur Anwendung einer Beendigungsklausel führen können, noch mit Informationen über Aktivitäten eines anerkannten Flüchtlings, die den Widerruf, die Ausweisung oder den Verlust des Schutzes vor Refoulement rechtfertigen können. 32. In vielen Fällen steht und fällt die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus letzten Endes mit der Glaubwürdigkeit der Informationen, die Antragstellende zum Nachweis der von ihnen geltend gemachten begründeten Furcht vor Verfolgung liefern. Die Rücknahme kann niemals allein durch eine Meinungsänderung seitens der Behörde gerechtfertigt werden, die gegebenenfalls den Sachverhalt im Nachhinein in einem anderen Licht beurteilt. Eine Änderung in der Beurteilung der Glaubwürdigkeit wird die Rücknahme nur dann rechtfertigen, wenn die ursprüngliche Einschätzung der Glaubwürdigkeit von Kernaspekten in Bezug auf die Anspruchsberechtigung eines/einer Antragstellenden auf Flüchtlingsstatus durch Elemente in den Akten des Falls aus der Zeit der ursprünglichen Prüfung eindeutig in Frage gestellt wird oder im Widerspruch zu neuen, verlässlichen Informationen steht, die zu Fakten ans Licht gekommen sind, die für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit rechtserheblich waren. 33. In manchen Rechtsordnungen ist es staatlichen Behörden nicht gestattet, eine rechtskräftige Entscheidung aufgrund von Beweismitteln neu aufzurollen oder aufzuheben, die dem/der ursprünglichen EntscheidungsträgerIn vorlagen oder hätten vorliegen können, über die er/sie jedoch nicht verfügte, weil er/sie seiner/ihrer Pflicht, den genauen Sachverhalt zu ermitteln, nicht nachgekommen ist. Wo solche Einschränkungen bestehen, bedarf es für eine Rücknahme neuer Beweismittel, d. h. Informationen, die zum Zeitpunkt der ursprünglichen Entscheidung entweder nicht existierten oder der Prüfbehörde nicht bekannt waren. B. Beweislast und Beweisstandard 34. Einem allgemeinen Rechtsgrundsatz zufolge liegt die Beweislast grundsätzlich bei der Person, die eine Behauptung aufstellt. In Rücknahmeverfahren hat im Normalfall die die Entscheidung überprüfende Behörde nachzuweisen, dass der Flüchtlingsstatus abzuerkennen ist. Zur Umkehr der Beweislast kommt es bei Vorliegen von Beweisen, die eine widerlegbare Vermutung darstellen, zum Beispiel ein gültiger Reisepass, der zeigt, dass die Staatsangehörigkeit des/der Antragstellenden eine andere ist als die von ihm/ihr im Feststellungsverfahren behauptete. 10

11 35. Der Beweisstandard für die Rücknahme steht in enger Beziehung zu jenem, der für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erforderlich ist. In der Phase der Anspruchsprüfung muss der/die für die Entscheidung zuständige BeamtIn entscheiden, ob es die vom/von der Antragstellenden erbrachten Nachweise und gemachten Aussagen wahrscheinlich erscheinen lassen, dass der vom/von der Antragstellenden geltend gemachte Anspruch glaubwürdig ist. Der/Die Antragstellende muss einen Antrag gestellt haben, der kohärent und plausibel ist, keine Widersprüche zu allgemein bekannten Tatsachen enthält, und dem deshalb insgesamt Glauben geschenkt werden kann. Der/Die Antragstellende muss außerdem darlegen, dass seine/ihre Furcht vor Verfolgung begründet, also vernünftigerweise möglich ( reasonably possible ) ist Eine Rücknahme ist nur dann gerechtfertigt, wenn die (neuen) Beweismittel, wären sie der Prüfbehörde zum damaligen Zeitpunkt vorgelegen, eine negative Beurteilung der Glaubwürdigkeit und/oder der angeblich begründeten Furcht des/der Antragstellenden vor Verfolgung aus einem Konventionsgrund ergeben oder ausgereicht hätten, das Vorliegen eines Ausschlussgrundes der Genfer Flüchtlingskonvention nachzuweisen. In Fällen von Artikel 1 F müssen eindeutige und glaubwürdige Beweise vorliegen, dass aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass ein/e Antragstellende/r an Handlungen nach diesem Artikel beteiligt war. C. Andere Beweisfragen 37. Gemäß den in den meisten Ländern für Rücknahmeverfahren geltenden Rechtsvorschriften dürfen für die Entscheidung, ob einem Flüchtling der Flüchtlingsstatus zu Recht zuerkannt wurde, nur Informationen herangezogen werden, die dem/der EntscheidungsträgerIn zum Zeitpunkt des ursprünglichen Verfahrens vorlagen. Neue Elemente sind in Rücknahmeverfahren nur dann zulässig, wenn sie das Vorhandensein eines Grundes für die Annullierung der ursprünglichen Feststellungsentscheidung bestätigen oder verwerfen. 38. Selbst wenn (neue) Beweise vorliegen, die der ursprünglichen Feststellung teilweise die Grundlage entziehen, können andere Elemente bleiben, die sie untermauern. Zum Beispiel können falsche Angaben oder das Verschweigen von Informationen einige, jedoch nicht alle Aussagen des/der Antragstellenden in Frage stellen. In einigen Ländern schreiben die anwendbaren Rechtsvorschriften ausdrücklich vor, dass solche restlichen Beweise einer Prüfung zu unterziehen sind. Auch wenn keine derartige ausdrückliche Bestimmung existiert, muss die Behörde in jedem Fall prüfen, ob der/die Antragstellende auf der Grundlage der Informationen, die dem/der EntscheidungsträgerIn zum Zeitpunkt der ursprünglichen Feststellung vorlagen, Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus hatte. 18 Eine Entscheidung, den Flüchtlingsstatus zurückzunehmen, obwohl die restlichen Beweise die vom/von der Antragstellenden geltend gemachte begründete Furcht vor Verfolgung zum Zeitpunkt der ursprünglichen Entscheidung belegen, stünde im Widerspruch zur Genfer Flüchtlingskonvention. 17 Siehe UNHCR, Note on Burden and Standard of Proof in Refugee Claims, 16. Dezember So wurde zum Beispiel im Fall eines im Nahen Osten geborenen Staatenlosen, der fälschlicherweise behauptet hatte, in einem anderen Land geboren zu sein, von den Behörden des Landes, in dem er Asyl beantragt hatte, festgestellt, dass der/die ursprüngliche EntscheidungsträgerIn über ausreichende Beweise verfügt hatte, um zu dem Schluss zu kommen, dass seine ethnische Gruppe in seinem Geburtsland in einer Weise diskriminiert wurde, die als Verfolgung zu werten war. 11

12 V. RÜCKNAHME ERMESSENSSACHE ODER VERPFLICHTUNG? 39. Rücknahmeklauseln im innerstaatlichen Flüchtlingsrecht und allgemeinen Verwaltungsrecht überlassen die Einleitung eines Rücknahmeverfahrens und die Entscheidung der Rücknahme oft dem Ermessen der Behörden. Rücknahmeentscheidungen, die die Prüfbehörde zur Entscheidung nach eigenem Ermessen berechtigen und verpflichten, sind vorzuziehen, da sie eine umfassende Würdigung aller Umstände jedes einzelnen Falles in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen erlauben. 40. Wo die Rechtsvorschriften einer Behörde Ermessensspielraum einräumen, muss sie diesen im Sinne der Gesetze und des Zwecks, zu dem er eingeräumt wurde, vorbehaltlich der von übergeordneten Behörden oder den Gerichten ausgeübten Kontrolle, wahrnehmen. Allgemein gilt, dass ihre Entscheidungen in Bezug auf die vorliegenden Beweismittel angemessen sein müssen. So können die Behörden nach Prüfung aller relevanten Tatsachen entscheiden, trotz Vorliegens (neuer) Beweise kein Rücknahmeverfahren einzuleiten bzw. den Flüchtlingsstatus zu belassen, selbst wenn dieser ursprünglich nicht hätte zuerkannt werden dürfen. Ob dies in einer gegebenen Situation die richtige Entscheidung ist, hängt von den Umständen ab und muss von den Behörden selbst beurteilt werden. 41. In manchen Ländern ist die Rücknahme verpflichtend vorgeschrieben, wenn bestimmte Gründe meist Betrug nachgewiesen sind. In anderen herrscht die Ansicht vor, dass selbst im Fall von Betrug seitens des/der Antragstellenden die Person begründete Furcht vor Verfolgung haben kann und ihr Flüchtlingsstatus nicht automatisch aberkannt werden sollte. VI. VERFAHRENSFRAGEN 42. In Rücknahmeverfahren sind auch die Garantien und Schutzmechanismen des fairen Verfahrens gänzlich einzuhalten. Es steht außerordentlich viel auf dem Spiel, da in einem solchen Verfahren über den Anspruch einer Person auf Schutz vor Refoulement nach der Genfer Flüchtlingskonvention entschieden und ein Rechtsstatus in Frage gestellt wird, der ihr bereits zuerkannt wurde. 43. Die Mindestanforderungen für Verfahren sind Folgende: (i) Auf Rücknahme kann nur im Einzelfall entschieden werden, auch wenn die ursprüngliche Entscheidung im Zuge eines beschleunigten Verfahrens getroffen wurde, in dem die Umstände des jeweiligen Falles möglicherweise nicht gründlich geprüft wurden oder der Flüchtlingsstatus den Mitgliedern einer Gruppe auf Prima-facie-Basis zuerkannt wurde. Das Vorliegen von Gründen, die für die Rechtmäßigkeit und Angemessenheit der Rücknahme sprechen, muss in jedem einzelnen Fall nachgewiesen werden. (ii) Ein Flüchtling, dessen Status aberkannt werden kann, sollte über die Art des Verfahrens und die Beweise unterrichtet werden, die die Rücknahme rechtfertigen. Er/Sie sollte Gelegenheit erhalten, Eingaben zu machen und Vorhalte des Betrugs oder eines anderen ordnungswidrigen Verhaltens durch die 12

13 Vorlage von Beweismitteln zu widerlegen oder den Gegenbeweis zu jedem anderen Rücknahmegrund anzutreten, der laut Behörde bei ihm/ihr vorliegt. (iii) Wenn nötig sollte die Hilfe eines Dolmetschers/einer Dolmetscherin bereitgestellt werden. (iv) Die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand sollte gestattet sein. (v) Eine Befragung/Anhörung sollte stets Teil des Rücknahmeverfahrens sein. Der/Die Betroffene sollte die Möglichkeit haben, auf den Inhalt des Falls einzugehen. Die Befragung/Anhörung sollte rechtzeitig angekündigt werden, um eine Vorbereitung zu ermöglichen. Eine Rücknahme in Abwesenheit sollte nur unter außergewöhnlichen Umständen stattfinden, nachdem alles unternommen wurde, um die betroffene Person zu benachrichtigen. (vi) Das Recht, Rechtsmittel gegen Entscheidungen, mit denen der Flüchtlingsstatus aberkannt wird, einzulegen oder ihre Überprüfung zu verlangen, ist von größter Bedeutung. Das Rechtsmittel bzw. die Überprüfung sollte von einer anderen Person oder einer anders zusammengesetzten Kommission als jener, die die ursprüngliche Entscheidung getroffen hat, behandelt werden. Das Verfahren sollte Gelegenheit geben, die Rücknahme sowohl in Rechtsfragen als auch in Tatsachenfragen anzufechten. Es sollte aufschiebende Wirkung haben: Der Flüchtlingsstatus sollte aufrecht bleiben, bis eine Rücknahmeentscheidung Rechtskraft erlangt. VII. WIRKSAMKEIT UND FOLGEN 44. Die Rücknahme setzt eine unrichtige Entscheidung über den Flüchtlingsstatus ab initio außer Kraft, als hätte die ursprüngliche Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nie stattgefunden: Der/Die Antragstellende war zum Zeitpunkt der ursprünglichen Feststellung kein Flüchtling. 45. Grundsätzlich bedeutet der Verlust des Flüchtlingsstatus, dass die Betroffenen den rechtlichen Bestimmungen betreffend die Anwesenheit von Ausländern in dem betreffenden Land unterstehen. In einigen Ländern sind Flüchtlinge auch Inhaber von ständigen oder befristeten Aufenthaltsgenehmigungen, die in der Regel weiter gelten, sofern sie nicht in einem getrennten Verfahren ebenfalls für ungültig erklärt werden. In anderen Ländern können Personen, deren Flüchtlingsstatus aberkannt wurde, unverzüglich des Landes verwiesen werden. Abhängig vom anwendbaren Recht können Möglichkeiten zur Aussetzung der Außerlandesschaffung verfügbar sein. 46. Wird der Flüchtlingsstatus aberkannt, können die Staaten aus Gründen, die eine komplementäre Schutzform rechtfertigen oder aus humanitären Gründen den Verbleib in ihrem Hoheitsgebiet gestatten. Dies sollte in Erwägung gezogen werden und könnte eine geeignete Lösung insbesondere für Fälle darstellen, in denen die für die Entscheidung zuständige Behörde bei der Entscheidungsfindung über einen in gutem Glauben gestellten Antrag irrte oder die Rücknahme andernfalls unverhältnismäßig schwerwiegende Folgen nach sich ziehen oder besondere Härten verursachen würde. Betrifft die Rücknahme des Flüchtlingsstatus Kinder, sollten die Staaten im Sinne ihrer Verpflichtungen aus dem Übereinkommen von 1989 über die Rechte des Kindes die Gewährung eines solchen Schutzes in Erwägung ziehen, wenn dies dem Kindeswohl dient. Andere Formen des Schutzes, unter anderem vor Refoulement bis zu Folter oder unmenschlicher Behandlung wären weiter anwendbar. 13

14 47. Die Rücknahme des Flüchtlingsstatus führt regelmäßig auch zur Rücknahme eines daraus abgeleiteten Status, insbesondere jenes von Familienangehörigen. In solchen Fällen müssen die Betroffenen Gelegenheit erhalten, Asyl zu betragen, wenn sie dies wünschen, und nachzuweisen, dass sie für ihre Person als Flüchtlinge anerkannt werden sollten. 48. Die Rücknahme des Flüchtlingsstatus schließt einen späteren Antrag auf internationalen Schutz nicht aus. Eine Bestimmung, die besagt, dass die Rücknahme eines einst gewährten Flüchtlingsstatus einen späteren neuen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unzulässig macht, würde einen Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention darstellen, da Fälle, in denen die Person entweder zum Zeitpunkt des Rücknahmeverfahrens oder zu einem späteren Zeitpunkt begründete Furcht vor Verfolgung haben kann, nicht immer ausgeschlossen werden können. Über einen solchen Antrag sollte ein/e andere/r zuständige/r BeamtIn oder eine anders zusammengesetzte Kommission entscheiden. 14