«Gleichstellung ist eine Revolution»

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1 ProLitteris / Rauber Urs / NZZ am Sonntag; ; Seite 76; Nummer 9 Gesellschaft «Gleichstellung ist eine Revolution» Ein halbes Jahrhundert liegt zwischen der früheren und der heutigen Präsidentin der Frauenzentrale Zürich. Hulda Autenrieth-Gander (91) und Irène Meier (42) reden über ihre Jugend und ihr Frauwerden Urs Rauber NZZ am Sonntag: Frau Autenrieth, Sie wurden in den 1920er Jahren ins Knabengymnasium Schiers geschickt. Ziemlich ungewöhnlich für ein Mädchen! Hulda Autenrieth: Da muss ich kurz ausholen. Mein Vater, der am Anfang einer Karriere beim ACV in Basel stand, kam als Folge der Grippeepidemie 1918/19 ins Spital und erkrankte an Tuberkulose. Deshalb fand meine Mutter, dass wir alle nach Davos ziehen sollten. Dort wuchsen wir auf, und Schiers war das nächste Gymnasium. Dass meine Eltern mich dorthin schickten, hing vielleicht damit zusammen, dass meine Brüder etwas älter waren und die Eltern sich beim dritten Kind mehr leisten wollten. Hinzu kam, dass wir im gleichen Haus wie der Anwalt Dr. Moses Silberroth wohnten. Dieser hatte keine Kinder und sass oft bei uns zum Gespräch. Er sagte zu meinem Vater: «Lass das Mädchen studieren, dann sehen wir, was aus ihr wird.» Irène Meier: Zu meiner Zeit war das Studium selbstverständlicher. Ich bin die jüngere von zwei Töchtern, die ältere wurde Lehrerin, und es war klar, dass beide gleich behandelt wurden. Meine Mutter, die das Zeug zur Akademikerin hatte, aber die Ausbildung nicht machen konnte, hat mich sehr unterstützt. Autenrieth: Meine Mutter schaute, dass die Kirche im Dorf blieb. Wie meine Eltern die finanzielle Situation meisterten, weiss ich bis heute nicht, aber irgendwie ging es. Die Mutter stammte aus einer Lehrersfamilie und war es gewohnt, dass auch ihre Mutter die Familie über die Runden brachte. Die Grosseltern hatten einen Bauernbetrieb gekauft, den die Grossmutter zusammen mit meiner Mutter führte. Das trug zum Lebensunterhalt der Familie bei. Mit Lernen hatte ich kaum Schwierigkeiten; im Rechnen hatte ich eine Begabung, die irgendwie aus dem All auf mich heruntergekommen war. Meier: In der Schule erging es mir ähnlich, ich erlebte eine unbeschwerte Zeit, nur ab und zu war es langweilig. Wenn ich mich umsah, bemerkte ich, dass die Knaben ein abenteuerlicheres Leben führten: Sie hatten ihre Bandenkriege, die Pfadi, die frisierten Töffli - und durften nachts länger draussen bleiben. Allerdings störte es mich nicht stark, da ich ein sehr scheues Mädchen war. Kritisch wurde es erst in der Pubertät. file:///s /IMeier/Vorstand/Hulda%20Autenrieth/nzz%20am%20sonntag%2004.htm (1 von 5) :12:54

2 Autenrieth: Dann wurde es gefährlich, wir hatten noch keine Pille. Der Mann wollte sein Vergnügen, aber die Frau trug die Folgen. Meine Eltern kümmerten sich sehr um mich, auch in der Freizeit. Mein Vater ging mit uns zu Berg, im Winter gingen wir Ski fahren. Wir hatten ein schönes Leben - im Rahmen dessen, was möglich war. Durften Sie als Mädchen alleine ausgehen? Autenrieth: Nein, das war auch bei den Brüdern selten. Wir waren nicht gut mit Taschengeld versorgt; und wie kann man ohne Geld in den Ausgang? Sobald wir das Velofahren beherrschten, hat uns der Vater ein Fahrrad gekauft. Wir unternahmen viele Touren. Damals war der Kanton Graubünden noch für Autos gesperrt. So hatten wir die ganzen Bergpässe für uns. Das war wunderbar. Meier: Sport war auch für mich sehr bedeutsam, hier war ich ehrgeizig und engagiert, habe ab und zu den Sporttag gewonnen. Das war für mein Selbstbewusstsein sehr wichtig. Organisierte Freizeit mit den Eltern hingegen gab es bei uns nicht mehr, ausser die furchtbaren Sonntagsausflüge. Ich selbst habe Basketball gespielt, doch meine Kolleginnen betrieben kaum Mannschafts- oder Frauschaftssport; viele Mädchen gingen ins Ballett oder spielten Tennis. Wenn ich heute die Kolleginnen meines Sohnes sehe, die ganz selbstverständlich auch im Fussballklub mitmachen, muss ich sagen: Das gab es in meiner Jugend noch nicht. Autenrieth: Wir haben typische Männersportarten gar nicht als erstrebenswert angesehen. Ich fühlte mich diesbezüglich nicht eingeengt. Wir mussten in der Freizeit auch abwaschen, abtrocknen oder um das Haus herum putzen. Heute liegt das Helfen ja nicht mehr im Trend der Jungen. Meier: Ja, mein Partner und ich müssen uns gelegentlich an der Nase nehmen, dass wir nicht ganz vergessen, unserem Sohn ab und zu einen Auftrag im Haushalt zu geben... Was haben Sie beide als junge Mädchen gelesen? Autenrieth: Zu einem guten Teil lasen wir schlechte Literatur. Obwohl es zu Hause verboten war, hatten meine Brüder Krimihefte, die ich mit Begeisterung verschlang. Heute würde man sie als Schund bezeichnen, aber unter uns Kindern zirkulierten sie. Wir versteckten die Büchlein im WC hinter den Leitungen. Wenn man sich dorthin zurückzog, hatte man Lesestoff. In Schiers empfahl mir mein Deutschlehrer dann, nordische und schwedische Schriftsteller zu lesen. Meier: Ich war richtig süchtig nach Lesen; wenn ein Buch fertig war, musste gleich das nächste her. In Erinnerung blieb mir natürlich «Die rote Zora und ihre Bande». Das war eines der wenigen Identifikationsbilder für Mädchen. Auch «Die schwarzen Brüder» von Lisa Tetzner, diese soziale Tragödie, bewegte mich sehr. Meine erste grosse Liebe in der file:///s /IMeier/Vorstand/Hulda%20Autenrieth/nzz%20am%20sonntag%2004.htm (2 von 5) :12:54

3 Literatur war allerdings ein Indianerhäuptling. Autenrieth:... ja, Karl May spielte auch bei uns eine grosse Rolle. Meier: Nein, bei mir war es nicht Karl May. Doch Indianerbücher bedeuteten eine grosse Welt für mich. Ich vergoss viele Tränen, als «mein» Häuptling im Kampf gegen die Weissen fiel. Wurde Ihre Freude am Lesen also eher durch billige als «aufbauende» Literatur geweckt? Autenrieth: Ein Pièce de Résistance war bei uns zu Hause die von Albert Anker illustrierte Ausgabe von Jeremias Gotthelfs Werken. Ich erinnere mich, dass meine Eltern jeweils am Sonntagabend einen Band davon hervornahmen und daraus vorlasen. Meier: Bei uns hat man am Sonntagabend gejasst. Ich erinnere mich, dass mich in diesen Büchern die Ungerechtigkeit der Weissen gegenüber den Indianern so richtig empört hat. Hier begann bei mir etwas zu brodeln. Autenrieth: Wahrscheinlich waren in all diesen Büchern auch ganz vernünftige Haltungen versteckt. Aber es war nicht das, was uns Jugendliche lockte. Ob die sogenannt gute Literatur auf Jugendliche eine positive Wirkung entfaltet, steht ja wohl nicht eindeutig fest. In den 1930er Jahren studierten Sie Jurisprudenz an der Uni Zürich - als einzige Frau unter vielen Männern? Autenrieth: Nein, wir waren bereits eine ansehnliche kleine Schar Frauen. Geblieben ist mir vor allem, dass der berühmte Professor Fleiner uns Frauen nie begrüsste. Er begann seine Staatsrechtsvorlesungen mit der Anrede: «Meine Herren...» Er war dagegen, dass Frauen studierten. Doch im Bürgertum wurde es allmählich üblich, dass Mädchen studieren durften, abgeschlossen haben dann allerdings nur wenige. Meist studierten die Frauen schöne Literatur. Wir aber hatten einen kleinen Kreis von Studentinnen, die auf die Prüfungen lernten und sich gegenseitig bestärkten. Meier: Bis in die 1980er Jahre floss natürlich viel Wasser die Limmat hinunter. Bei den Naturwissenschaften an der Uni Zürich gab es zwar weniger Frauen als in anderen Fachrichtungen, doch etwa ein Viertel waren wir schon. Und auch wir mussten uns in jenen Jahren noch mit sexistischen Dozenten auseinandersetzen. Wie hielten Sie es mit der Berufstätigkeit, als Sie beide Ihre Familie gründeten? Autenrieth: Wir sprachen darüber, wie wir die Ehe führen wollten. Ich war nicht dagegen, den Haushalt zu übernehmen, sagte aber meinem Mann, dass ich weiterhin beruflich tätig sein wolle; denn ich habe doktoriert und den Anwalt gemacht. In der Frauenbewegung sah ich dazu eine Möglichkeit. Mein Mann arbeitete als Jurist am file:///s /IMeier/Vorstand/Hulda%20Autenrieth/nzz%20am%20sonntag%2004.htm (3 von 5) :12:54

4 Gericht, und so teilten wir uns die Aufgaben. Zudem leisteten wir uns Haushalthilfen, damit gewann ich ein Stück Freiheit. Meier: Ich teile Ihre Meinung: Bevor Kinder da sind, sollte man sich in einer Partnerschaft darüber verständigen, wer im Beruf und im Haushalt wie viel arbeitet. Sonst läuft es in den alten Gleisen weiter. Autenrieth: Heute findet man vor allem keine jungen Frauen als Haushalthilfen mehr. Hier sehe ich einen grossen Nachteil. Ich denke, mancher jungen Frau täte es gut, eine Zeitlang in einem Haushalt zu sein und sich mit Kindern abzugeben. Meier: Auch den jungen Männern - wenn schon! Autenrieth: Ja, beiden. Aber ich finde, die Frauen müssen aufpassen, dass sie hier nicht ganz aussteigen, denn da spielten sie über Jahrhunderte eine wichtige Rolle. Meier: Für mich war es ausgeschlossen, aus meinem Studium oder dem Beruf ganz auszusteigen, nur weil ich ein Kind wollte. Ich hatte den Ehrgeiz, auch dort etwas zu erreichen. Mein Mann studierte ebenfalls, und wir hatten von Anfang an ein Jobsharing zu Hause. Als unser Sohn sechs Monate alt war, reduzierte mein Partner seine Arbeitszeit auf 60 Prozent, und ich arbeitete ebenso viel. Einen Tag pro Woche kam die Gotte des Kleinen, sie war unsere Tagesmutter. Dadurch hatten wir gleichwertige Voraussetzungen, uns zu Hause wie im Beruf zu engagieren. Autenrieth: Das ist ein gutes Beispiel für die Zukunft. Doch die grosse Mehrheit folgt nicht diesem Schema. Meier: Sie selbst haben ja einmal erklärt, die Gleichstellung der Geschlechter sei eine revolutionäre Tat. Mich fasziniert, dass die Motivation in der Frauenbewegung über all die Jahre die gleiche geblieben ist. Es ist auch der Zweck meines politischen und beruflichen Handelns, einen Beitrag zu leisten, um die Französische Revolution zu Ende zu denken - Freiheit, Gleichheit und Partnerschaftlichkeit. Autenrieth: Die Suche nach dem Platz für die Frau ist tatsächlich die grösste Revolution. Aber ich weiss nicht, ob Mann und Frau je fähig zu einer gerechten Aufgabenteilung sind. Meier: Ich bin optimistisch, wenn ich die jüngere Frauengeneration sehe. Autenrieth: Wir Frauen haben die bisherige Rollenverteilung einfach im Blut, da sie über Jahrtausende geformt wurde. Es gibt wohl nur eine Änderung, wenn sich auch bei uns die Blutzusammensetzung ändert. file:///s /IMeier/Vorstand/Hulda%20Autenrieth/nzz%20am%20sonntag%2004.htm (4 von 5) :12:54

5 Mädchenjahre - gestern und heute Der 8. März ist Internationaler Frauentag. Anlass für die «NZZ am Sonntag», sich mit zwei Kämpferinnen für die Sache der Frau über ihre Jugend und Ausbildung zu unterhalten. Beide wuchsen zu unter schiedlichen Zeiten auf und leiteten die 1914 gegründete Zürcher Frauenzentrale: Hulda Autenrieth , Irène Meier seit Sommer Der überparteiliche, konfessionell neutrale Dachverband ver tritt die Interessen von 150 Frauenorgani sationen und 700 Einzelmitgliedern. Hulda Autenrieth-Gander (1913) ver lebte ihre Jugend in Davos, promovierte in Zürich als Juristin und erwarb das An waltspatent. Sie war Mitgründerin des Konsumentinnenforums und wurde als erste Frau in den Kirchenrat des Kantons Zürich gewählt. Die Mutter von drei Kin dern und Grossmutter ist verwitwet und steht politisch der FDP nahe. Irène Meier (1962), ausgebildete Geografin und Umweltökonomin (dipl. phil. II), war Mitinhaberin einer Beratungs firma, bevor sie geschäftsführende Präsi dentin der Frauenzentrale wurde. Sie war Kantonsrätin der Grünen Par tei des Kantons Zürich und lebt mit ihrem Lebenspartner und dem gemeinsamen Sohn in Küsnacht. (ura.) file:///s /IMeier/Vorstand/Hulda%20Autenrieth/nzz%20am%20sonntag%2004.htm (5 von 5) :12:54