Der Verlust unserer Schweizer Identität an unseren Schulen

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1 DAS Schulleiter/in Abteilung Schulleitung und Schulentwicklung Pädagogische Hochschule Luzern Abschlussjahr: 2024 Eingereicht bei: Lic. Phil. Psychologe und Mediator, Beat Lichtsteiner, Studiengangsleitung: Meinrad Leffin Meine Analyse, Erkenntnisse und Vorschläge DAS Diplomarbeit Wohin führt der Weg von Helvetia? Vorgelegt von: Primo Cirrincione Gentenwisstrasse 4b 8332 Russikon Russikon,

2 Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis... III 1 Abstract Persönliche Einführung Die Präambel Fragestellung Zielsetzung Die verschiedenen Aspekte der Schweizer Identität Die Schweiz verstehen Merkmale: Religionen, Brauchtum, Kultur Bewegung bei der Schweizer Identität Definition der Polarisierung Zunehmende Polarisierung in unserem Land Traditionen, Brauchtum und Kultur Was Traditionen bedeuten Wozu Traditionen gut sind Arbeitsfreie Feiertage Heilige Zeiten Sozialität Was beinhalten christliche Traditionen und Bräuche? Die Geschichte des Schweizer Schulwesens Die Traditionen im Kontext der Schule Christliche Traditionen an unseren Schulen Gründe, die für einen schulischen Religionsunterricht sprechen Religionsunterricht gehört in die Schule Die öffentliche Schule und die Religionen Zwei bedeutende Herausforderungen: Die Lehrplanvorgabe und die Schulbetriebsregelung Die zu berücksichtigenden rechtlichen Koordinaten Die Zielkonflikte anerkennen Die Integration von Wertebildung und religiöser Bildung in den Lehrplan Die Essenz unserer grundlegenden gesellschaftlichen Werte vermitteln Religionen in das Wertesystem integrieren Die Möglichkeit bieten, dass Kinder und Jugendliche individuell mit den Konzepten "Glauben" und "Wissen" in Berührung kommen und sich damit auseinandersetzen können Herausforderungen bei der Ausübung von religiösen Bräuchen Absenzen an religiösen Feiertagen Feiern mit christlichem Hintergrund Schwimm- und Sportunterricht PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 II

3 4.5.4 Schulanlässe, die eine Übernachtung ausserhalb des gewöhnlichen Schulbetriebs erfordern, sowie eintägige Ausflüge und Exkursionen Tragen von Religiösen Symbolen Praktischer Teil meiner Arbeit Thomas Minder Präsident der VSLCH Thomas Schmid Schulleiter Primarstufe Binningen (BL) Thomas Oetiker Rektor der Sekundarschule Binningen (BL) Reflexion Erkenntnisse und Antworten auf die grundlegende Frage Erkenntnis_1: Wir verlieren die alte ID und gewinnen eine Neue Erkenntnis_2: Wir leben in einer Zeit des Normenverlustes Erkenntnis_3: Diese Verunsicherung führt zur sogenannten Polarisierung Erkenntnis_4: Wir brauchen Schulleiter der Mitte Erkenntnis_5: Wir brauchen Schulleiter mit Profil und einer klaren Haltung Erkenntnis_6: Die Grundlage des Lehrplans ist die Bundesverfassung Erkenntnis_7: Es braucht immer noch den Religionsunterricht an Schulen! Eine «Bibel» für moderne Schulleitungen Suche dir Gemeinschaft und den Austausch auf! Reflektieren Sie über sich selbst und erwägen Sie, ein Coaching zu besuchen! Der Schulleiter Seelsorger Fazit Der Schweizerpsalm Literaturverzeichnis Anhang Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Europa-Barometer GfS Bern Abbildung 2: Europa-Barometer GfS Bern Abbildung 3: Kernen & Moser-Léchot, 2021, S Abbildung 4: BFS VZ ( ), Strukturerhebung (SE, ) 13 Abbildung 5: BFS Bundesamt für Statistik, Strukturerhebung (SE) 13 Abbildung 6: Abbildung 6: Nau.ch 20. Oktober Abbildung 7: 20min/Taddeo Cerletti 25 PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 III

4 1 Abstract In dieser Arbeit führe ich die Lesenden zuerst mit einer persönlichen Betrachtung ins Thema ein und präsentiere die Fragestellung (1.2) und Zielsetzung (1.3) derselben. (Kapitel 1) Im Kapitel 2 gehe ich auf die verschiedenen Aspekte ein, die die Schweizer Identität ausmachen. Dabei werden Themen wie Religionen, Brauchtum und Kulturen behandelt. Weiter untersuche ich den Einfluss der Globalisierung auf die Identität, die Verschiebung der Gewichtung der Wohngemeinde auf das Land Schweiz als solches sowie die zunehmende Polarisierung in der Bevölkerung. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Traditionen findet im Kapitel 3 statt. Hier setze ich den Fokus auf die christlichen Traditionen und weise auf die Gründungsgeschichte unseres Schulsystems hin. Wie nun diese christlichen Traditionen den Kontext der Schweizer Schulen beeinflussen, behandle ich im Kapitel 4. Hier setze ich mich mit den aktuellen Herausforderungen auseinander. Das Kapitel 5 beinhaltet den praktischen Teil dieser Arbeit. Hier zeichne ich 3 Interviews mit Schulleitern auf. Die drei Schulleiter repräsentieren einerseits den Schweizer Verband der Schulleiter und Schulleiterinnen und andererseits die verschiedenen Schulstufen: Thomas Minder als Vertreter aller Schulleiter in der Schweiz (Präsident des VSLCH), Thomas Schmid als Vertreter für Kindergarten und Primarstufe sowie Thomas Oetiker für die Oberstufe. Somit sind die verschiedenen Perspektiven abgedeckt. In der Reflexion (Kapitel 6) erläutere ich meine Erkenntnisse. Diese kommen einerseits aus der persönlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Schweizer Identitätsverlust an den Schulen, aber auch aus den Gesprächen mit den drei Schulleitern. Weiter sind mein Fazit und ein abschliessendes persönliches Wort von mir als Theologe in diesem Kapitel integriert. 1.1 Persönliche Einführung Die Präambel Im Namen Gottes des Allmächtigen. Au nom de Dieu Tout-Puissant! In nome die Dio Onnipotente! En num da Dieu il Tutpussant! So startet die Bundesverfassung der Schweiz. Aus heutiger Sicht mag die Präambel etwas veraltet und übertrieben klingen. Die Schweiz von heute präsentiert sich jedoch ganz anders. Sie gilt als ausgeprägt pluralistisch in ihrem Denken. Unser Land ist mehrsprachig und multikulturell. Es besteht aus verschiedenen Regionen mit unterschiedlichen Traditionen, Sprachen und kulturellen Hintergründen. Die Gesellschaft in der Schweiz ist bekannt für ihre Vielfalt und ihre Bereitschaft, unterschiedliche Perspektiven und Meinungen anzuerkennen. Das pluralistische Denken kann dazu beitragen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, indem es den Dialog, den Respekt und das Verständnis zwischen verschiedenen Identitäten fördert. Der Pluralismus spielt in demokratischen Staaten wie die Schweiz eine ganz wichtige Rolle Er beinhaltet Achtung und Respekt vor allen Menschen, die in einem Staat leben, ungeachtet ihrer Meinungen, Interessen, Ziele und Hoffnungen. Niemand darf anderen seine politische oder religiöse Überzeugung aufzwingen. Das Schweizer Bildungssystem ist PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 1

5 föderalistisch organisiert. Folglich hat jeder Kanton seine eigenen Bildungsgesetze und Richtlinien. Wie oben erläutert, ist der Pluralismus per se als positiv zu betrachten. Jedoch birgt die stetige Verstärkung desselben auch Herausforderungen. Weil im Pluralismus eine Vielzahl von Werten integriert und akzeptiert werden, kann dies eine Verwässerung der ursprünglichen Werte zur Folge haben. Dies wirft u.a. folgende Fragen auf: In welche Richtung entwickeln wir uns? Wie können wir unsere Schweizer Identität behalten, bewahren und weitergeben? In der Analyse der schweizerischen Identität spielen verschiedene Aspekte eine wichtige Rolle. Ich möchte einen bestimmten Aspekt hervorheben und ihn im Zusammenhang mit dem schulischen Umfeld untersuchen: Die christlichen Traditionen. Historisch gesehen hat das Christentum nachweislich die Schweizer Traditionen und Werte stark geprägt. Diese Werte und Traditionen haben ihrerseits über Jahrhunderte hinweg die Schweizer Kultur, Identität und somit auch die Bildung beeinflusst. Dennoch hat sich die religiöse Landschaft in der Schweiz im Laufe der Zeit verändert und aktuell entsteht eine zunehmende Pluralität der religiösen Überzeugungen und Praktiken. Die Herausforderungen, denen wir uns im Zusammenhang mit den christlichen Traditionen in der Schule stellen müssen, sind vielfältig. Einerseits müssen wir einen angemessenen Umgang mit der religiösen Vielfalt finden und sicherstellen, dass alle Schülerinnen und Schüler respektiert und gleichbehandelt werden, unabhängig von ihrer religiösen Ausrichtung. Andererseits stellt sich die Frage, wie die christlichen Traditionen in einem multireligiösen und säkularen Umfeld vermittelt werden können, um die Werte und das kulturelle Erbe zu bewahren, ohne andere religiöse oder nichtreligiöse Überzeugungen zu vernachlässigen oder zu diskriminieren. Für Schulleiterinnen und Schulleiter bedeutet dies, dass sie das Gleichgewicht zwischen der Anerkennung und Wertschätzung der christlichen Traditionen und der Förderung einer offenen und inklusiven Lernumgebung finden müssen. Dies erfordert Sensibilität, interkulturelle Kompetenz und die Bereitschaft, verschiedene religiöse Perspektiven zu verstehen und zu respektieren. Es ist auch wichtig, den Dialog und die Zusammenarbeit mit den Eltern, der lokalen Gemeinschaft und den religiösen Organisationen zu fördern, um ein gegenseitiges Verständnis und eine kooperative Atmosphäre zu schaffen. In meiner 20jährigen Tätigkeit als Religionslehrperson war ich in etlichen Diskussionen involviert und habe verschiedenes erlebt, was mich im Zusammenhang mit der Zunkunft unserer Schweizer Kultur zum Nachdenken gebracht hat. Immer wieder wurde ich mit den Fragen konfrontiert, ob der Religionsunterricht überhaupt noch Platz in unseren modernen Schulen haben sollte. Ob das nicht Kaffee von gestern sei und ob unsere zukünftige junge Generation überhaupt noch eine religiöse Erziehung brauchen werde. Mit der Befürchtung, dass das Fach Religion aus den Schulen verbannt werden könnte, stelle ich mir als Theologe folgende Frage: Steht unser Schweizer Schulsystem etwa in Gefahr, dass es durch das wachsende pluralistische Denken, die nationale Authentizität und somit auch die Schweizer Identität verwässert oder gar verliert? PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 2

6 1.2 Fragestellung Steht unser Schweizer Schulsystem etwa in Gefahr, dass es durch das wachsende pluralistische Denken, die nationale Authentizität und somit auch die Schweizer Identität verwässert oder gar verliert? 1.3 Zielsetzung Die vorliegende Diplomarbeit soll aufzeigen, in welche Richtung uns die momentane Entwicklung an unseren Schulen führen kann, welches die Herausforderungen bei der Ausübung der christlichen Traditionen im Schweizer Schulunterricht sind und wie der Umgang der Schulleitungen mit problematischen Situationen in Zusammenhang mit christlichen Ritualen aussieht. Dabei werden folgende Aspekte beleuchtet: Die verschiedenen Aspekte der Schweizer Identität: Ich analysiere die verschiedenen Elemente der Schweizer Identität, wie z.b. Sprachen, Kulturen, Traditionen, Werte und Geschichte. Traditionen, Brauchtum und Kultur: Ich untersuche die christlichen Traditionen anhand der Geschichte des Schweizer Bildungswesen. Dies beinhaltet die Identifizierung und Analyse der verschiedenen Riten, Feiertage, Bräuche und Praktiken im Zusammenhang mit dem Christentum. Die Traditionen im Kontext der Schule: Ich erarbeite, wie sich die christlichen Traditionen in der schulischen Umgebung manifestieren und welchen Einfluss sie auf den Lehrplan, den Schulalltag und die Bildungspolitik haben. Ich analysiere die aktuellen Herausforderungen, die mit der Ausübung von christlichen Traditionen in der Schule verbunden sind. Dazu gehören mögliche Konflikte mit religiöser Vielfalt, säkulare Ansichten, rechtliche Bestimmungen und die Bedürfnisse verschiedener Interessengruppen. Im praktischen Teil führe ich Interviews mit verschiedenen Schulleitern aus unterschiedlichen Positionen durch, um weitere Erkenntnisse zu meiner Fragestellung zu gewinnen. Hilfreiche Tipps für Schulleitungen: Basierend auf meinen Erkenntnissen kann ich praktische Anleitungen und Empfehlungen für Schulleiter entwickeln, um die Herausforderungen im Umgang mit christlichen Traditionen zu bewältigen. PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 3

7 2 Die verschiedenen Aspekte der Schweizer Identität Welche Merkmale prägen die Identität einer Schweizerin oder eines Schweizers? Was macht die Identität einer Nation überhaupt aus? Welches Bild erzeugt der Begriff Schweizer bzw. Schweizerin? Als ich mich im Jahr 2000 in der Schweiz einbürgern liess, musste ich einen Einbürgerungstest bestehen. In diesem Test wurden bestimmte Kenntnisse über die Schweiz abgefragt. Dazu gehörten, unter anderem, Informationen über die schweizerische Geografie, Geschichte, Sprache, Kultur, Politik, Wirtschaft, Recht und Soziales. Das Ziel war, dass ich ein grundlegendes Verständnis für das Land und seine Menschen sowie die Fähigkeit zur Integration in die Schweizer Gesellschaft vorweisen konnte. Das Handbuch "Die Schweiz verstehen" von Kernen, U. & Moser-Léchot (2021) diente als Informationsquelle. Es vermittelte ein umfassendes Bild von typischen Merkmalen der Schweizer Kultur. Im Anhang dieser Arbeit steht eine Zusammenfassung aller Merkmale, wobei ich insbesondere das Merkmal "Religionen, Brauchtum und Kultur" hier beleuchten werde. Nach zwei Jahren und zehn Monaten Wartezeit sowie unter Einsatz von Geduld, Fleiss und finanziellen Mitteln erhielt ich schliesslich die schweizerische Staatsbürgerschaft. 2.1 Die Schweiz verstehen Merkmale: Religionen, Brauchtum, Kultur Wie bereits erwähnt, zeichnet sich die Geschichte der Schweiz durch die Vielfalt von Kultur, Sprachen und Traditionen aus. Es besteht zwar Religionsfreiheit, aber es sind die christlichen Werte, die hauptsächlich die Traditionen und Feste prägen. Kirchliche Feste und lokale Bräuche bereichern den Jahreskalender. Die römisch-katholische Kirche hat in der Schweiz die meisten Mitglieder, danach folgen die evangelisch-reformierten Kirchen. Die christliche Kultur des Landes zeigt sich in den zahlreichen Kirchenbauten, der Sonntagsruhe und den Festtagen, die grösstenteils auf christlichen Traditionen basieren. Neben den christlich geprägten Feierlichkeiten gibt es im ganzen Land eine Vielzahl von lokalen Festen und Bräuchen, die oft mit landwirtschaftlichen Arbeiten oder dem Wechsel der Jahreszeiten in Verbindung stehen. Wichtige Vereine wie der Turn- oder Schützenverband feiern regelmässig ihre nationalen Feste. Hornussen und Schwingen sind zwei Sportarten, die exklusiv in der Schweiz zu finden sind. Die Schweizer Küche bietet bekannte Gerichte wie Rösti, Raclette, Fondue und Birchermüesli. Schokolade und Käse sind ebenso kulinarische Markenzeichen der Schweiz. Die kulturelle Vielfalt des Landes spiegelt sich auch in den ländlichen Hausbauten wider, die je nach Region grosse Unterschiede aufweisen. Die Schweiz beherbergt zahlreiche mittelalterliche Stadt- und Dorfkerne, die unter Denkmalschutz stehen. Darüber hinaus kann man in allen Regionen beeindruckende Werke moderner Architektur bewundern. Viele Schweizer Künstler und Kulturschaffende haben ihren Blick auf das Ausland gerichtet, was sich in ihren Werken zeigt, die häufig von ausländischen Einflüssen geprägt sind. 1 1 Vgl. Kernen & Moser-Léchot, 2021, S. 28 PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 4

8 Zusammengefasst ist die Schweiz vergleichbar mit einer Insel, die an verschiedene Nationen angrenzt und gleichzeitig eine Quelle des Lebens darstellt. Sie hat oft Flüchtlingen Schutz, Sicherheit und Verpflegung geboten. Das Politsystem ist offen und partizipativ, mit Föderalismus und direkter Demokratie sowie Gewaltentrennung. Rechte und Pflichten basieren auf der Bundesverfassung. Die Wirtschaft ist stabil und die Arbeitslosenquote niedrig. Bildung ist nicht nur zugänglich, sondern auch Pflicht (11 Jahre). Versicherungen und Altersvorsorge sind gut organisiert. Dieses Land zeichnet sich durch ein stark pluralistisches Denken in Geschichte, Geografie und Struktur aus. Die Schweiz ist eine Einheit, geschmiedet aus sprachlicher und kultureller Vielfalt, mit Freiheit als verbindendem Wert (Kernen & Moser-Léchot, S. 16). Rhiannon Erdal schreibt dazu: Die Schöpfung einer nationalen Identität ist ein soziales Konstrukt auf Grundlage von Gemeinsamkeiten der Individuen, die zusammen eine Nation bilden: eine Geschichte, eine Sprache und eine gemeinsame Kultur, aber auch das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe, die sich von anderen Gruppen unterscheidet (Erdal & Von Ricarda Häusler, 2019). 2.2 Bewegung bei der Schweizer Identität 2 In Zeiten des schnellen Wandels und der Globalisierung verliert die Wohngemeinde immer mehr an Bedeutung für die Bevölkerung. Laut einer Studie identifizieren sich die Menschen nicht mehr in erster Linie mit ihrer Wohngemeinde, sondern mit der Schweiz als Land, welches als Garant für Stabilität gilt. Das zeigt das erste Europa-Barometer auf. Das Forschungsinstitut GfS Bern hat ihn mit dem Europa Forum Luzern eben veröffentlicht in Zusammenarbeit mit dem Europa Forum Luzern. Die Studie basiert auf Daten des Credit-Suisse-Sorgenbarometers von Abbildung 1: Europa-Barometer GfS Bern 2017 Die Identität der Schweiz, die einst stark mit dem Land und seinen Bergen verbunden war, hat sich gewandelt. Früher galt "Swissness" als hauptsächlich rechtsbürgerliches Konzept, aber mittlerweile ist der Stolz auf die Schweiz auch in linken Kreisen spürbar. Die Berge bleiben 2 Vgl. Netz, 2020 PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 5

9 jedoch ein Symbol für Heimat und Identität, das von Menschen unterschiedlicher politischer Ausrichtung, Altersgruppen und Wohnorte geteilt wird. Trotz des Erfolgs dieses Modells gibt es Herausforderungen. Die Identität der Schweiz ist nicht nur von externen Faktoren wie den Problemen mit der EU bedroht, sondern auch von internen Aspekten. Insbesondere die zunehmend wahrnehmbare Polarisierung im Land wird als ernsthafte Gefahr für die Identität eingestuft. Während im Jahr 2010 nur 45 Prozent die Polarisierung als Bedrohung ansahen, ist dieser Wert mittlerweile auf 79 Prozent gestiegen. «Das ist erstaunlich», sagt Cloé Jans (Politikwissenschafterin und Leiterin operatives Geschäft gfs.bern). «Polarisierung galt bisher eher als theoretisch-politisches Konzept.» Jetzt aber realisiere man, dass sich die Parteien nicht mehr einigen könnten, fügt Jans hinzu. Abbildung 2: Europa-Barometer GfS Bern Definition der Polarisierung 3 Polarisierung bedeutet die Herausbildung zweier Pole in der Sozialgeographie meint man damit die Herausbildung einer homo- und heterogenen sozialgesellschaftlichen Gruppe in zwei sich gegenüberstehende Teilgruppen. Ein Beispiel dafür ist die sprichwörtliche Schere, die immer weiter auseinandergeht: die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer. 2.3 Zunehmende Polarisierung in unserem Land 4 Die Untersuchung des Mercator-Forums Migration und Demokratie an der Technischen Universität Dresden untersuchte den Stadt-Land-Graben in Europa. Die Studie (Erhebung im Herbst 2022) ergab, dass selbsternannte «aufgeschlossene» Personen politische Meinungen am wenigsten akzeptieren und zur Polarisierung beitragen. Insgesamt wurden Personen in zehn europäischen Ländern zu Themen wie Klimawandel, Zuwanderung, Covid, Gleichstellung, sexuelle Minderheiten, Ukraine-Konflikt und Sozialleistungen befragt. Die Ergebnisse widersprechen dem gängigen Klischee, dass Menschen in städtischen Gebieten toleranter und offener seien, als Menschen auf dem Land. Überraschenderweise belegt die Studie sogar, dass konservative Menschen mit geringerem Einkommen und weniger Bildung grosszügiger und toleranter seien. 3 Vgl. Polarisierung, o. D. 4 Vgl. Weltwoche Verlags AG, 2023 PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 6

10 3 Traditionen, Brauchtum und Kultur Nach einer ersten Untersuchung der Merkmale der Schweizer Identität und ihrer heutigen Ausprägungen, werden wir uns nun auf dietraditionen, Bräuche und Kultur konzentrieren. Unser Fokus liegt dabei auf der christlichen Religion. 3.1 Was Traditionen bedeuten Das Fremdwort "Tradition" lässt sich mit Begriffen wie "Überlieferung, Herkommen, Brauch und Gepflogenheit" übersetzen. Es wurde im 16. Jahrhundert aus dem Lateinischen entlehnt. Das zugrunde liegende Hauptwort "traditio" bedeutet "Übergabe" oder "Überlieferung". Das zugehörige Verbum lautet "tradere" und bedeutet folglich "übergeben" oder "überliefern". Der Begriff "Tradition", den wir allgemein verwenden, beschreibt daher die regelmässige Ausübung von Gepflogenheiten zu bestimmten Anlässen innerhalb einer Gemeinschaft. Diese Gepflogenheiten werden oft als "Bräuche" bezeichnet und können auch als "Handlungsmuster" betrachtet werden. (Vgl. Seefelder, 2014, S. 13) 3.2 Wozu Traditionen gut sind 5 Traditionen sind von Menschen erfunden, in der Gemeinschaft gepflegt und von Generation zu Generation weitergegeben worden. Traditionen leben und integrieren ist Teil unserer Identität als Volk. Sich als Teil einer Kultur zu fühlen gehört zur Lebensqualität eines Menschen Arbeitsfreie Feiertage Unsere christliche Kultur beschert uns mit Weihnachten, Ostern und Pfingsten, Hochfeste und Festzeiten mit Feiertagen. Damit gehen Ferien für die Schulkinder und arbeitsfreie Tage für die Erwachsenen einher. Die Feiertage sollen uns an traditionell festgelegten Zeiten im Jahr an bestimmte Ereignisse erinnern, welche wir meist in der Familie und/oder kirchlichen Gemeinschaft zusammen feiern. Es sind überlieferte kulturelle Verhaltensmuster, von denen wir geistig und körperlich profitieren (Seefelder, 2014, S. 28). Vom Schriftsteller Martin Kessel stammt der kluge Satz: «Nicht in der Nachahmung der Tradition, sondern der Auseinandersetzung mit ihr liegt der Gewinn.» (Seefelder, 2014, S. 14). Abbildung 3: Kernen & Moser-Léchot, 2021, S Vgl. Seefelder, 2014 PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 7

11 3.2.2 Heilige Zeiten Traditionen bringen uns «Heilige Zeiten» indem sie uns vor allem geistige Zäsuren bescheren: Sie schaffen Zeit und Raum zum Innehalten und zur Ruhe für alle, die sich darauf einlassen. Im Wort «heilig» steckt «heil», und das wollen wir alle sein: heil an Leib und Seele. Allerdings ist der Mensch das nicht automatisch: Genauso wie wir auf unsere Gesundheit achten und unseren Körper fit halten, damit er heil bleibt, bedarf auch der Geist des Trainings, damit wir seelisch ausgeglichen sind (Seefelder, 2014, S. 28). Umgerechnet auf die Fünf-Tage-Woche, schenkt uns die christliche Religion zwei ganze Arbeitswochen im Jahr. Die 52 Sonntage haben wir ihr ebenfalls zu verdanken (Seefelder, 2014, S. 36). Bräuchte man einen Beweis, dass Traditionen uns Menschen zum Wohl dienen, wäre dies allein schon Beweis genug Sozialität Gemeinschaftliche Aktivitäten sind ein zentraler Bestandteil von Traditionen. An kirchlichen und persönlichen Fest- und Feiertagen versammeln sich Gemeinschaften, Familienmitglieder, Verwandte und Freunde. In diesen Momenten wird gemeinsam gefeiert, festliche Mahlzeiten werden eingenommen, und es kommt zu Begegnungen und Gesprächen. Der Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker drückte dies in folgenden Worten aus: "Tradition ist das Bewahren von Fortschritt, und Fortschritt wiederum ist die Fortsetzung von Tradition.» (Seefelder, 2014, S. 15) 3.3 Was beinhalten christliche Traditionen und Bräuche? 6 Christliche Traditionen umfassen eine Vielzahl von Praktiken, Riten und Gewohnheiten, die im Laufe der Zeit von Christen entwickelt wurden, um ihren Glauben zu praktizieren und ihre spirituelle Verbindung zu Gott zu stärken. Diese Traditionen haben eine lange historische Entwicklung und werden von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Im Folgenden werden einige bekannte Beispiele für christliche Traditionen aufgeführt: Gottesdienste - Gläubige treffen sich regelmässig zu Gottesdiensten, bei denen sie gemeinsam beten, Lieder singen, biblische Texte und Predigten hören. Sakramente (Def. Der Ausdruck stammt aus dem Lateinischen sacramentum und bedeutet Heilszeichen. Die katholische Kirche feiert 7 Sakramente: Taufe, Kommunion, Firmung, Ehe, Versöhnung, Krankensalbung und Priesterweihe) - Die Sakramente spielen eine bedeutende Rolle in vielen christlichen Traditionen und umfassen eine Reihe wichtiger Rituale. Gebet (Def. Gebet ist Gespräch mit Gott) - Das Gebet nimmt eine zentrale Stellung im christlichen Glauben ein. Christen praktizieren sowohl individuelles als auch gemeinschaftliches Gebet. Fasten - Das Fasten ist eine Praxis, die von Christen angewendet wird, bei der sie für einen bestimmten Zeitraum auf Nahrung oder bestimmte Nahrungsmittel verzichten. 6 (Wikipedia-Autoren, 2005) PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 8

12 Feiertage (Def. Ein vom Alltag besonders abgesetzter Tag, an dem man an ein Ereignis, eine Person oder einen besonderen Umstand gedenkt.) - Im christlichen Kalender spielen Feiertage wie Weihnachten (die Geburt Christi), Ostern (die Auferstehung Christi), Himmelfahrt (die Auffahrt Jesu) und Pfingsten (die Aussendung des Heiligen Geistes) eine bedeutende Rolle und sind wichtige Traditionen. Wallfahrten - Als Ausdruck ihrer Hingabe und zur Vertiefung ihrer Verbindung zu Gott begeben sich Gläubige auf Pilgerreisen zu heiligen Stätten oder Orten von spiritueller Bedeutung. 3.4 Die Geschichte des Schweizer Schulwesens Unter dem Begriff Schulwesen versteht man einerseits die institutionellen Strukturen, in denen der Schulunterricht erteilt wird, aber anderseits auch die organisierte Vermittlung von Wissen durch eine Lehrperson an einzelne Schüler oder an eine Gruppe von Schülern. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war das Schulwesen generell vor allem eine kirchliche Aufgabe, bis dann der Staat sich im 19. Jahrhundert der Volksbildung annahm und den Einfluss der Kirche zurückdrängte (Schulwesen, 2012, S 01). So wurden in der Schweiz im Mittelalter die Schulen hauptsächlich von kirchlichen Institutionen gegründet, die vor allem die Ausbildung des Klerus im Fokus hatten. Klosterschulen und später auch Dom- und Stiftsschulen in Städten wie Basel, Zürich, Bern, Luzern, Lausanne und Solothurn übernahmen die Verantwortung für die Bildung. Der Unterricht begann mit Lesen, Schreiben und Grammatik sowie Logik. Latein wurde vor allem anhand von biblischen Texten gelehrt. Das Lehrprogramm der «sieben freien Künste»* entwickelte sich ab dem 12. Jahrhundert. Mit dem Aufstieg der Städte im 13. Jahrhundert entstanden auch städtische Schulsysteme. Die städtischen Behörden erlaubten die Gründung von Schulen, in denen in der Landessprache gelesen, geschrieben und gerechnet wurde. Diese Schulen legten den Grundstein für die später folgenden Volksschulen. Für weiterführende Studien mussten die Schüler auswärtige Universitäten besuchen. Im Jahr 1460 wurde in Basel die erste Universität der Schweiz gegründet. In der frühen Neuzeit wurde das Schulwesen in der Schweiz von verschiedenen geistigen Strömungen beeinflusst. 7 Die Renaissance brachte eine grundlegende Veränderung des Menschenbildes mit sich und prägte die Geschichte nachhaltig. Während des Mittelalters herrschte die Vorstellung einer von Gott gegebenen Ordnung vor, wie sie von der Kirche verkündet wurde. Die Kirche war auch für die Bildung zuständig und erklärte alles anhand der Bibel. Jedoch begannen die Menschen in der Renaissance, ihre eigene Sichtweise auf die Welt zu entwickeln und neue Ideen und Konzepte zu erforschen, die sich an den antiken Griechen orientierten. Der Verstand gewann an Bedeutung und trat in den Vordergrund, während die Religion weiterhin Einfluss behielt. Im Zuge dieser Veränderungen rückte der Mensch immer stärker in den Mittelpunkt, insbesondere in der Kunst. Der Mensch wurde zum Massstab aller Dinge. Ab dem 16. Jahrhundert beeinflusste der Humanismus auch das Schulwesen und führte zu entsprechenden Umwandlungen in den Schulen (MrWissen2go Geschichte, Terra X, 2017a). 7 Vgl. Schulwesen, 2012 PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 9

13 Die Reformation und die Katholische Reform im 16. Jahrhundert haben in der Schweiz weiter die Umgestaltung im Schulwesen vorangetrieben und einer breiteren Bevölkerungsschicht den Zugang zur Bildung ermöglicht. Wichtige Ziele waren die religiöse Erziehung und die Alphabetisierung durch das Lesen der Bibel, insbesondere der Psalmen. Unter dem Einfluss von Johannes Calvin führte Genf im Jahr 1536 die Schulpflicht ein. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war die Alphabetisierung in Genf nahezu abgeschlossen. Der Schwerpunkt des Unterrichts lag zunächst auf dem Lesen und Schreiben. Lesen wurde durch Buchstabieren und Lautieren erlernt. Weit verbreitet war das mechanische Auswendiglernen von Lehrbüchern wie dem Katechismus und der Bibel, insbesondere der Psalmen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts gab es Bemühungen um pädagogische Reformen, die zu einer Erneuerung des Schulwesens führten. Die Schulen sollten echte Religiosität fördern, gute Staatsbürger formen, Unterrichtsmethoden an die Bedürfnisse der Jugend anpassen und den Lehrstoff auf das praktische Leben ausrichten. Der Einzelunterricht und das mechanische Auswendiglernen wurden durch die Einführung von Klassen und neuen Lehrmethoden wie dem Frontalunterricht abgelöst. Während der kurzen Zeit der Helvetik ( ) erhielt das Schulwesen in der Schweiz einen weiteren Impuls. Es gab Reformen in der Lehrerausbildung, die Einführung eines Volksschulgesetzes sowie die Etablierung von Erziehungsräten und Schulinspektoren. In der Zeit der Regeneration ( ) wurden bedeutende Schulreformen umgesetzt, die darauf abzielten, alle Kinder umfassend zu bilden. Trotz der Unterschiede zwischen den kantonalen Schulsystemen, entwickelten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts gewisse Gemeinsamkeiten auf der Ebene der Volksschule. Es wurde festgelegt, dass der Primarschulunterricht für alle Kinder obligatorisch, ausreichend, kostenlos und unabhängig von religiösen Bekenntnissen sein sollte. Der kirchliche Einfluss auf das Schulwesen wurde insbesondere im Kulturkampf* zurückgedrängt. Heute existieren in der Schweiz immer noch 26 kantonale Schulsysteme, die in gewissem Masse unabhängig voneinander sind und Unterschiede aufweisen. 8 4 Die Traditionen im Kontext der Schule Historisch gesehen war die Geschichte des schweizerischen Bildungssystems eng mit den christlichen Traditionen und der Religion verbunden. Die Bemühungen galten nicht nur der Bereitstellung von Bildung für alle, sondern auch der Weitervermittlung der christlichen Werte und Lehren. Die Frage, die sich heute stellt, betrifft die Präsenz und den Einfluss dieser christlichen Traditionen in unseren Schulen. Wie manifestieren sich diese Traditionen in der heutigen schulischen Umgebung? 4.1 Christliche Traditionen an unseren Schulen Im Anschluss werden mögliche Ansätze präsentiert, wie christliche Traditionen im Schweizer Schulwesen umgesetzt werden könnten. 8 Vgl. Schulwesen, 2012 PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 10

14 1. Feiertage: In der Schweiz sind christliche Feiertage wie Weihnachten und Karfreitag landesweit anerkannte Feiertage. Schulen könnten diesen Feiertagen Aufmerksamkeit schenken, indem sie darüber informieren oder möglicherweise spezielle Aktivitäten oder Projekte im Zusammenhang mit diesen Feiertagen organisieren. 2. Ethik- und Wertebildung: Christliche Werte und Ethik könnten in Schulen als Teil der allgemeinen Wertebildung behandelt werden. Dies kann im Kontext von Fächern wie Ethik, Philosophie oder Sozialkunde geschehen. In einigen Kantonen ist der kirchliche Religionsunterricht Teil des schulischen Lehrplans. 3. Kulturelle Aktivitäten: Einige christliche Traditionen könnten im schulischen Kontext als kulturelle oder historische Elemente betrachtet werden. Dies könnte beispielsweise das Singen von Weihnachtsliedern oder das Erlernen die Ostertraditionen einschliessen. 4.2 Gründe, die für einen schulischen Religionsunterricht sprechen 9 Der schulische Religionsunterricht ist eine systematische Form der religiösen Bildung, die innerhalb schulischer Stundenpläne und/oder Räumlichkeiten jahrgangsweise organisiert wird. Die Ausgestaltung kann je nach Kanton und Gemeinde variieren und in unterschiedlichem Masse ins schulische Leben oder in die Tätigkeiten der örtlichen Pfarrei integriert sein. Die pädagogische Begründung des Religionsunterrichts ist von Bedeutung und basiert auf drei etablierten Argumentationssträngen, die im Synodenpapier "Der Religionsunterricht an der Schule" von 1974 auf Seite 25 festgehalten wurden. Kulturgeschichtliche Begründung "Es muss demnach Religionsunterricht in der Schule geben, weil die Schule den jungen Menschen mit den geistigen Überlieferungen vertraut machen soll, die unsere kulturelle Situation geprägt haben, und weil das Christentum in seinen Konfessionen zu unseren prägenden geistigen Überlieferungen gehört." Anthropologische Begründung "... weil die Schule dem jungen Menschen zur Selbstwerdung verhelfen soll und weil der Religionsunterricht durch sein Fragen nach dem Sinn-Grund dazu hilft, die eigene Rolle und Aufgabe in der Gemeinschaft und im Leben angemessen zu sehen und wahrzunehmen." Gesellschaftlich-ethische Begründung "...weil die Schule sich nicht zufrieden geben kann mit der Anpassung des Schülers an die verwaltete Welt und weil der Religionsunterricht auf die Relativierung unberechtigter Absolutheitsansprüche angelegt ist, auf Proteste gegen Unstimmigkeiten und auf verändernde Taten." 4.3 Religionsunterricht gehört in die Schule 10 Der Religionsunterricht muss seine Position nach zwei Seiten klären: einerseits gegenüber dem bekenntnisunabhängigen Fachbereich Ethik, Religionen, Gemeinschaft (ERG) des schulischen Lehrplans und andererseits gegenüber der Katechese im Kontext der Gemeindepastoral. 9 (Vgl. Luzern, o. D.) 10 (Vgl. Reli_redakteur, 2018) PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 11

15 Der Religionsunterricht hat mit ERG den Lernort Schule als Gemeinsamkeit. Das gemeinsame Ziel ist die Förderung und Befähigung heranwachsender Kinder und Jugendlicher zu mündigen Menschen (bzw. Christen), die ihr Leben eigenständig und in Verantwortung gegenüber der sozialen und ökologischen Mitwelt (bzw. und gegenüber Gott) gestalten können. Religionsunterricht und Katechese werden in der Schweiz vielerorts nicht unterschieden. Vielmehr findet die Katechese in der Schule oder der Religionsunterricht im Pfarreiheim statt. Das ist vielleicht ein weiterer Grund, warum der Religionsunterricht hier im Unterschied zu Deutschland viel an schulischer Anerkennung verloren hat. Während die Katechese die persönliche Verbundenheit mit Christus und das Reifen des christlichen Lebens fördert, vermittelt der schulische Unterricht den Schülern Wissen über das Wesen des Christentums und das christliche Leben. (Kongregation für das Bildungswesen 74) 4.4 Die öffentliche Schule und die Religionen 11 Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurde das öffentliche Bildungssystem oft mit "die Kirche im Dorf" assoziiert. Die offiziellen christlichen Landeskirchen betrachteten den Religionsunterricht als integralen Bestandteil des öffentlichen Bildungsauftrags. Der konfessionelle Religionsunterricht wurde in den Stundenplan integriert. Das Schuljahr begann vielerorts mit einem Gottesdienst, es gab morgendliche Schulgebete, wöchentliche Schulgottesdienste und Kruzifixe an den Wänden der Klassenzimmer. Die christlichen Feiertage wurden in der Schule nicht nur als kulturhistorisches Bildungsthema behandelt, sondern auch gefeiert, ähnlich wie es in einer gläubigen Familie der Fall ist. Die Situation in Bezug auf die religiöse Zugehörigkeit der Bevölkerung hat sich in den letzten rund 50 Jahren stark verändert. Ein grosser Teil (fast 30 %) bezeichnet sich mittlerweile als religionsfrei. Dass die Tendenz dazu steigend ist, zeigt die neuste Erhebung des Bundesamts für Statistik. Weiter praktizieren viele ihre Religion nur noch in geringem Masse und/oder widersprechen in wichtigen Glaubensfragen der Lehre ihrer Kirche. Diese Entwicklung hat zum bedeutenden Wandel der Rolle der Religion im öffentlichen Bildungswesen beigetragen. 11 Vgl. LCH Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer, 2008 PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 12

16 Entwicklung der Religionslandschaft Ständige Wohnbevölkerung ab 15 Jahren 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Römisch-katholisch Evangelisch-reformiert Andere christliche Glaubensgemeinschaften Jüdische Glaubensgemeinschaften Muslimische und aus dem Islam hervorgegangene Gemeinschaften Andere Religionsgemeinschaften Ohne Religionszugehörigkeit Religionszugehörigkeit unbekannt Quellen: BFS VZ ( ), Strukturerhebung (SE, ) BFS 2023 Abbildung 4: BFS VZ ( ) Strukturerhebung (SE, ) Abbildung 5: BFS Bundesamt für Statistik, Strukturerhebung (SE) Zwei bedeutende Herausforderungen: Die Lehrplanvorgabe und die Schulbetriebsregelung. Die so entstandene neue Situation wirft zwei Fragen auf: 1. Bleibt religiöse Bildung auch zukünftig Teil des öffentlichen Bildungsauftrags? Wenn ja, wie sollte das Verhältnis zwischen der Vermittlung christlicher Werte und nicht konfessionellen gesellschaftlichen Werten neugestaltet werden? Wie sollten Glaubensangebote und Wissensvermittlung miteinander in Beziehung stehen? 2. Wie sollte der Umgang mit den spezifischen Bedürfnissen gläubiger Kinder und Jugendlicher sowie ihrer Eltern im Schulalltag aussehen, wenn ihre religiös begründeten Verhaltensregeln mit schulischen Veranstaltungen und Regeln in Konflikt geraten? Die zu berücksichtigenden rechtlichen Koordinaten Die schweizerische Bundesverfassung beinhaltet mehrere Artikel, welche hier relevant sind: Art. 2: Chancengleichheit unter den Bürgerinnen und Bürger (Swissrights, o. D.). Art. 7: Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen (Swissrights, o. D.). Art. 8: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich (Swissrights, o. D.). Art. 10 & 11: Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit (Swissrights, o. D.). Art. 15: Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet (Swissrights, o. D.). Art. 36: Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage (Swissrights, o. D.). Art. 62: Für das Schulwesen sind die Kantone zuständig (Swissrights, o. D.). PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 13

17 Aus dem Zivilgesetzbuch (2023) Art. 301: Die Eltern leiten im Blick auf das Wohl des Kindes seine Pflege und Erziehung (Swissrights, o. D.). Art. 302: Die Eltern haben das Kind zu erziehen und seine körperliche, geistige und sittliche Entfaltung zu fördern und zu schützen (Swissrights, o. D.). Art. 303: Die Eltern verfügen über die religiöse Erziehung bis zum 16. Altersjahr (Swissrights, o. D.) Die Zielkonflikte anerkennen Folgende Regelungen schaffen gewisse Zielkonflikte Die öffentliche Schule ist zur konfessionellen Neutralität verpflichtet. Das Gebot der Glaubens- und Gewissensfreiheit verlangt Toleranz. Die individuellen Persönlichkeitsrechte und das Recht der Eltern bezüglich der Erziehung ihrer Kinder erlaubt die Pflege des familiären Wertesystems. Das Gesetz verlangt den Respekt vor konfessionellen Überzeugungen und verbietet deren Einschränkung Die Integration von Wertebildung und religiöser Bildung in den Lehrplan Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass konfessionelle Bildung, die auf den Lehren der Kirche basiert, nicht zum Hauptauftrag der öffentlichen Schulen gehört. Wenn der Träger des öffentlichen Bildungswesens jedoch den Kirchen Räumlichkeiten und Zeitstrukturen für ihre freiwilligen Angebote zur Verfügung stellen möchte, kann er dies tun. Andererseits besteht eine drohende wachsende Ignoranz, was unsere Traditionen, Bräuche und Werte angeht. Im Lehrplan wird somit ein Bereich «Werte und Religionen» reserviert, der als obligatorischer Grundausbildung einen dreifachen Auftrag hat: Die Essenz unserer grundlegenden gesellschaftlichen Werte vermitteln Diese Werte umfassen die Freiheit des Individuums und von Staaten, die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger vor dem Gesetz sowie das Prinzip der Chancengleichheit. Dazu gehören auch das Prinzip der Solidarität und der Ausgleich zwischen Bedürftigkeit und Überfluss, das Recht auf Eigentum, die Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit einschliesslich der Pressefreiheit, der Schutz des Lebens, insbesondere die Sicherung der körperlichen und seelischen Unversehrtheit, die Prinzipien der Subsidiarität, der Nichtwillkürlichkeit und der Verhältnismässigkeit im staatlichen Handeln. Diese Werte können von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, darunter politische Parteien, Kirchen und andere Interessenverbände, unterschiedlich priorisiert und als Grundlage ihres Handelns betrachtet werden. Dies geschieht in Anerkennung der wichtigen Rolle eines Mehrparteiensystems für eine demokratische Gesellschaft (Vgl. LCH Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer, 2008, S5) PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 14

18 Religionen in das Wertesystem integrieren. Ein notwendiges und realistisches Bildungsziel ist es, die grundlegenden Entstehungs- und Entwicklungsphasen der bedeutenden Religionen zu verstehen. Besonderes Augenmerk liegt auf den religiösen Traditionen, die sich von Abraham ableiten (Judentum, Christentum, Islam), sowie den grossen östlichen Religionen (Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus oder Daoismus) Die Möglichkeit bieten, dass Kinder und Jugendliche individuell mit den Konzepten "Glauben" und "Wissen" in Berührung kommen und sich damit auseinandersetzen können. Dies bezieht sich auf die philosophische und erkenntnistheoretische Dimension des menschlichen Daseins. Es geht darum, auf verschiedenen Stufen die Grundlagen unseres Wissens zu erkunden, die Bedeutung von Glaubensquellen und empirischen Quellen für die Gestaltung unseres persönlichen Lebens zu hinterfragen und die Implikationen für das gesellschaftliche und politische Leben zu verstehen Herausforderungen bei der Ausübung von religiösen Bräuchen Im schulischen Umfeld ergeben sich gelegentlich Herausforderungen bezüglich der Handhabung von schulischen Veranstaltungen, die von einigen als religiös provokativ angesehen werden könnten. Einige Angehörige bestimmter Glaubensrichtungen beantragen Dispensationen, da sie sich durch diese schulischen Veranstaltungen in ihrer Glaubensausübung beeinträchtigt fühlen. Im schulischen Alltag streben wir danach, nach Regeln zu leben, die auf gegenseitiger Toleranz und Unterstützung basieren und für alle gelten. Respekt gegenüber verschiedenen Kulturen, Sprachen und Religionen sowie die Gleichstellung der Geschlechter sind Werte, die auf den Menschenrechten beruhen und die wir vermitteln und leben wollen. Es ist von grosser Bedeutung, ein schulisches und klassenbezogenes Umfeld zu schaffen, in dem sich alle Schülerinnen und Schüler respektiert fühlen. Die pädagogische Arbeit unserer Lehrkräfte zeichnet sich durch Toleranz, Hilfsbereitschaft und Empathie aus. Es ist jedoch auch notwendig, klare Grenzen für negatives Verhalten aufzuzeigen, um den Schülern bei der Entwicklung einer differenzierten Selbstwahrnehmung zu helfen und den Integrationsprozess zu fördern. Ein deutliches Verhalten trägt auch dazu bei, das Vertrauen der Eltern in die Schule zu stärken. 15 In der Folge werden mögliche Situationen, die im Zusammenhang mit der Ausübung religiöser Bräuche im Schulalltag auftreten können erwähnt. Ebenso wird der Umgang damit erläutert: 13 (Vgl. LCH Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer, 2008, S5) 14 (Vgl. LCH Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer, 2008, S5) 15 (Vgl. Zappatore et al., 2015, S3) PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 15

19 4.5.1 Absenzen an religiösen Feiertagen 16 Kinder und Jugendliche aus allen Glaubensrichtungen haben das Recht, auf Verlangen ihrer Erziehungsberechtigten an ihren wichtigen religiösen Feiertagen vom Unterricht befreit zu werden. Die Abwesenheit der Schülerinnen und Schüler an diesen Tagen sollte in der Regel durch eine zu Beginn des Schuljahres abgegebene Erklärung begründet werden. Die betroffenen Schülerinnen und Schüler sind in der Regel dafür verantwortlich, den versäumten Unterrichtsstoff selbstständig vor- oder nachzuarbeiten Feiern mit christlichem Hintergrund 17 Feiern mit einem christlichen Bezug, wie zum Beispiel Weihnachten, sind gestattet. Diese Feierlichkeiten sollten jedoch folgende Ziele verfolgen: Die Aufklärung über die Bedeutung eines bedeutenden religiösen Festes und seinen Wertehintergrund fördern Das Verständnis für wichtige kulturelle Phänomene in unserer Gesellschaft vertiefen Ein gemeinsames Erlebnis für die gesamte Klasse ermöglichen Dabei so behutsam gestaltet sein, dass die religiösen Gefühle von Kindern und Jugendlichen, die anderen Glaubensrichtungen angehören, nicht verletzt werden Um das Gleichgewicht sicherzustellen, sollten auch Feiertage und Feste anderer in der Klasse präsenten Religionen berücksichtigt und behandelt werden Schwimm- und Sportunterricht 18 Die Teilnahme am Schwimmunterricht ist verpflichtend, wenn dieser im Rahmen des Sportunterrichts stattfindet und im Lehrplan vorgesehen ist. Im Allgemeinen können keine Dispensationen aus religiösen Gründen gewährt werden. In Einzelfällen können jedoch Lösungen gefunden werden, die für alle Seiten akzeptabel sind, beispielsweise in Bezug auf angemessene Badebekleidung, geschlechtergetrennten Unterricht oder separate Duschmöglichkeiten. Es besteht jedoch kein rechtlicher Anspruch darauf. Es ist wichtig, dass die Klassen in Fällen, in denen spezielle Lösungen gefunden werden, sachlich und respektvoll über die religiösen Hintergründe informiert werden, um Ausgrenzung zu vermeiden Schulanlässe, die eine Übernachtung ausserhalb des gewöhnlichen Schulbetriebs erfordern, sowie eintägige Ausflüge und Exkursionen. 19 Schulanlässe wie Schulkolonien, Klassenlager und Sportwochen sind wichtige Bestandteile des schulischen Programms. Sie dienen der allgemeinen Bildung, dem sozialen Lernen und der Förderung der Gesundheit. Diese Veranstaltungen fördern die Gemeinschaft und tragen erheblich zur Integration und pädagogischen Entwicklung der Schülerinnen und Schüler bei. 16 (Vgl. Zappatore et al., 2015) 17 (Vgl. Zappatore et al., 2015) 18 (Vgl. Zappatore et al., 2015) 19 (Vgl. Zappatore et al., 2015) PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 16

20 Soweit sie im Rahmen des gesetzlichen Bildungsauftrags stattfinden, sind solche Anlässe obligatorisch. Bei Veranstaltungen, die eine Übernachtung ausserhalb des Schulgeländes beinhalten, sind folgende Punkte zu beachten und zu kommunizieren: Die Schlafunterkünfte sind nach Geschlechtern getrennt, und es ist nicht gestattet, dass Jungen Zugang zu den Schlafbereichen der Mädchen haben und umgekehrt. An jedem Lager oder ähnlichen Veranstaltungen nehmen sowohl männliche als auch weibliche Aufsichtspersonen teil. Es sind separate Duschmöglichkeiten vorhanden, entweder mit Vorhängen oder Türen, oder die Schülerinnen und Schüler können zeitlich gestaffelt und/oder räumlich getrennt duschen. Soweit es die Umstände erlauben, wird den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit geboten, religiöse Handlungen wie Gebete zu bestimmten Zeiten durchzuführen. Eltern und Schülerinnen und Schüler können Vertrauen zu den Lehrkräften fassen, wenn vor einem Lager darauf hingewiesen wird, dass man sich der besonderen diätetischen Vorschriften bewusst ist und diese im Rahmen des Zumutbaren berücksichtigt (z. B. Bereitstellung eines alternativen vegetarischen Menüs). Es ist auch sinnvoll, den Mitschülerinnen und Mitschülern die strengeren diätetischen Vorschriften des Judentums und des Islams zu erläutern. Ein klares Verhalten in diesen Fragen kann Ängste mindern. Bei eintägigen Ausflügen und Exkursionen gelten diese Richtlinien sinngemäss Tragen von Religiösen Symbolen 20 Das Tragen von religiösen Symbolen in Schweizer Schulen ist erlaubt. Dennoch ist zu beachten, dass die Kleidung sachdienlich und dem schulischen Umfeld angemessen sein sollte. Das bedeutet, sie sollte weder die Kommunikation noch die Arbeitsabläufe stören oder eine Sicherheitsgefahr darstellen. Das Gebot der Neutralität und Toleranz gilt auch für die Trägerinnen und Träger religiöser Symbole. Diese dürfen die Symbole nicht dazu verwenden, um religiöse Provokationen oder Indoktrinationen zu fördern. Gleichzeitig ist es den Schulen nicht gestattet, die Trägerinnen und Träger religiöser Symbole zu provozieren oder sozial auszuschliessen. Verstösse gegen die Toleranz werden, weil sie den sozialen Frieden gefährden, pädagogisch angegangen und gegebenenfalls disziplinarisch behandelt. Auch Lehrpersonen dürfen religiöse Symbole tragen und unterliegen denselben Regeln. Aufgrund ihrer besonderen Rolle als Vorbilder und Vorgesetzte sollten Lehrkräfte jedoch besondere Zurückhaltung und Diskretion beim Tragen religiöser Symbole zeigen. 20 (Vgl. Zappatore et al., 2015) PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 17

21 5 Praktischer Teil meiner Arbeit Um mir ein besseres Bild vom Alltag eines Schulleiters im Zusammenhang mit meiner Fragestellung zu machen, habe ich Interviews mit drei Schulleitern aus unterschiedlichen Perspektiven und Schulstufen geführt. Thomas Minder Präsident der VSLCH aus der Sichtweise der Schulleiter. Thomas Schmid Schulleiter der Primarstufe in Binningen aus der Perspektive der Primarstufe. Thomas Oetiker Rektor der Sekundarschule in Binningen aus der Betrachtungsweise der Oberstufe. Diese Interviews sollten mir dabei helfen, einen ganzheitlichen Einblick in die täglichen Herausforderungen und Aufgaben eines Schulleiters in verschiedenen schulischen Kontexten zu gewinnen. Zusätzlich wollte ich herausfinden, ob die Gefahr des Identitätsverlustes an Schweizer Schulen besteht und dies auf allen Stufen. 5.1 Thomas Minder Präsident der VSLCH Am 21. August 2023 führte ich ein Interview mit Thomas Minder im Schulhaus Wallenwil. Thomas Minder (Jg. 1976) ist seit 2019 der Präsident des Verbands der Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz (VSLCH). Zuvor war er als Sekundarlehrer tätig und seit 2007 ist er Schulleiter in Eschlikon. Darüber hinaus war er auch der Präsident des SLV-Thurgau. Wie wird die schweizerische Kultur und Identität an unseren Schulen vermittelt? Zu dieser Frage liegen uns zwar keine erfassten Daten vor, dennoch möchte ich aus persönlicher Sicht sprechen. An unseren Schulen werden zahlreiche Rituale praktiziert, wie beispielsweise das Adventsritual. Es soll die Schülerinnen und Schüler während der Weihnachtszeit in eine bewusste Besinnung und Atmosphäre der Ruhe führen. Hierbei versuchen wir, den Kindern den Hintergrund der Advents- und Weihnachtszeit näherzubringen. Auch das Singen von Weihnachtsliedern gehört dazu, wobei es gelegentlich Kinder gibt, die Lieder mit religiösen Bezügen nicht mitsingen möchten. Die schweizerische Identität wird selbstverständlich auch über das Fach Geschichte vermittelt. Dabei lernen die Schülerinnen und Schüler, wie die Schweiz entstanden ist. Zudem gibt es spezielle Projektwochen, in denen verschiedene Kulturen vorgestellt und präsentiert werden. Unsere Schulgemeinschaft ist vielfältig und geprägt von verschiedenen kulturellen Einflüssen. Haben sich während Ihrer 16-jährigen Amtszeit als Schulleiter Veränderungen in Bezug auf die Vermittlung von Kultur ergeben? Nein, es hat sich in dieser Hinsicht nicht wesentlich verändert. Es gab immer wieder punktuelle Diskussionen, beispielsweise die Frage, ob eine Lehrperson mit Kopftuch eingestellt werden darf. Hierbei prallen unterschiedliche Wertevorstellungen aufeinander. Dennoch haben wir diese Diskussionen geführt und Wege gefunden, die zu einem guten Ergebnis geführt haben. Es ist jedoch absehbar, dass in Zukunft vermehrt solche Diskussionen aufkommen werden. Die Heterogenität der Gesellschaft nimmt zu, und der Zeitgeist tendiert in eine konservativere, nationalistischere Richtung (wie wir es auch in der Politik beobachten können). Spüren Sie auch die Auswirkungen der Unsicherheit durch den Verfall von Normen? Ja, teilweise spüre ich das definitiv! Ein Beispiel dafür ist die Gender-Thematik, die langfristig zu einer unverständlichen Sprache führen kann, wie meine Kinder es als Argument anführen. PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 18

22 Es ist klar, dass wir für das Individuum sorgen sollten, es unterstützen und wertschätzen müssen, ohne es blosszustellen. Allerdings kann ich gut nachvollziehen, wenn die Unverständlichkeit unserer Sprache aufgrund dieser Entwicklung zunimmt. Würde dies zwangsläufig zu einer Radikalisierung im rechten Spektrum führen? Nein, es betrifft nicht nur die Radikalisierung im rechten Spektrum. Es gibt auch eine Radikalisierung auf der linken Seite. Dies führt zu einer Polarisierung der Gesellschaft. Kürzlich äusserte sich Thomas Aeschi, Fraktionspräsident der SVP im Nationalrat, mit den Worten: "Könnte ein Grüner Bundeskanzler werden? Es kann nicht sein, dass jemand aus einer linksextremen Partei Bundeskanzler wird." Diese Aussage ist inakzeptabel. Man spürt die zunehmende Aggressivität auch in der politischen Landschaft. Dies kann auf die Zeit der 90er Jahre zurückgeführt werden, insbesondere auf das Abstimmungsklima während des EWR-Referendums in der Schweiz, das zu einer aggressiveren und intoleranteren Stimmung geführt hat. (Wir wechseln während des Gesprächs auf die Du-Form) In dieser Zeit der Polarisierung agiert der heutige Schulleiter wie ein Vermittler, der versucht, zwischen den verschiedenen Parteien zu schlichten. Diese Verunsicherung ist spürbar. Ist das auch deine Erfahrung im Verband der Schulleiter? Ist das ein Thema? Ja, das ist absolut zutreffend. Du triffst den Kern der Sache. In meiner Rolle als Schulleiter und Verbandspräsident, beeinflusst durch meine persönliche Geschichte, in der ich zwischen meinen Eltern vermitteln musste, sehe ich mich als "man in the middle". Dies verstärkte sich offensichtlich während der Corona-Zeit. In dieser Phase hat sich eine deutliche Polarisierung entwickelt: Einige fanden, dass die getroffenen Massnahmen nicht weit genug gingen, während andere meinten, sie gingen zu weit. In beiden Fällen erhielt ich Briefe mit Anschuldigungen - teils unschöne Dinge. In diesen Momenten griff ich jeweils zum Telefon, um die Position der Schule zu erklären und zu erläutern, warum wir bestimmte Entscheidungen getroffen haben. Auch bei Medienauftritten habe ich versucht, einen Ausgleich zu schaffen - sowohl auf eine als auch auf die andere Seite. Diese Balance ist mir wichtig. Ich sehe mich als eine Person in der Mitte. Es geht darum, dass es für alle stimmig ist. Daher habe ich Schwierigkeiten mit dieser Polarisierung und den starken Extremen. Das heisst, ein Schulleiter darf nicht extrem sein! Ja, das stimmt. Ein Schulleiter sollte sich von extremen Positionen fernhalten. Es ist wichtig, eine ausgewogene und ausgleichende Haltung einzunehmen, um die Bedürfnisse und Anliegen aller Beteiligten angemessen zu berücksichtigen. Extreme Positionen können oft zu Spaltung und Konflikten führen, was der Schule und ihrer Entwicklung nicht förderlich ist. Stattdessen sollte ein Schulleiter bestrebt sein, einen respektvollen und offenen Dialog zu fördern, der das Erreichen gemeinsamer Ziele ermöglicht und positive Veränderungen voranbringt. Siehst du in der aktuellen Situation auch einen Verfall von Normen? Ja, ich bin ebenfalls der Meinung, dass wir uns in Richtung eines Normenverfalls bewegen. Wenn Menschen aufgrund des Nachlassens von Normen ihre Orientierung verlieren, neigen sie dazu, sich an anderen Menschen zu orientieren. Das birgt Gefahren! Man kann es mit den 1920er Jahren vergleichen (die bereits 100 Jahre zurückliegen und sich zu wiederholen PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 19

23 scheinen), in denen eine Situation der Exzesse, des moralischen Zerfalls und der Wirtschaftskrise herrschte. In solchen Zeiten tauchte ein "Heilsbringer" und Verführer auf, der sagte: "Ich habe die Antworten, folgt mir!" (wie es bei Adolf Hitler der Fall war), und die Menschen orientierten sich an ihm! Heutzutage sehen wir in der Weltpolitik ähnliche Muster mit Diktatoren wie Putin, Xi Jinping oder Erdogan, die im Vordergrund stehen, Mechanismen umkehren und Verfassungen ändern. Ich empfinde diese Situation als äusserst anspruchsvoll! Mein Ansatz zur Bewältigung besteht darin, die Partizipation zu fördern. Obwohl in der Schweiz die Demokratie äusserst geschätzt wird, findet an unseren Schulen nur sehr wenig demokratischer Prozess statt. Partizipation muss erarbeitet werden. Als Schulleiter kann man sie nicht einfach in der Schule "anordnen". Um den Wert der Partizipation deutlich zu machen, braucht es Überzeugungskraft. Danach müssen wir herausfinden, wie wir dies in der Schule umsetzen können. Es ist wichtig, zu erfragen, wie Schülerinnen und Schüler an der Schule teilnehmen können. Ein kontinuierliches Partizipationssystem muss in der ganzen Schulentwicklung durchgezogen werden. Die Art und Weise, wie der Schulleiter sein Lehrpersonal leitet, sollte dem Modell entsprechen, wie das Lehrpersonal die Schülerinnen und Schüler führt. Diese Frage beschäftigt mich als Schulleiter immer wieder: Wie kann ich Partizipation in der gesamten Schule verankern? Dieser Ansatz findet sogar in den Qualitätskriterien von Schulnetz 21, dem Nachfolger von "Gesunde Schulen", Erwähnung. Wenn wir eine gesunde Schule anstreben, müssen wir sie abholen und sie in den Prozess einbinden. Ich bin davon überzeugt, dass ein demokratisches System letztendlich einem autoritären System überlegen ist. Welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es für Schulleiter in dieser Zeit? Die Mitgliedschaft im Schweizerischen Schulleiterverband kann eine wertvolle Hilfe sein, um mit den aktuellen Herausforderungen umzugehen. Sie fördert die notwendige Solidarität unter den Schulleitern. Gemeinsame Treffen ermöglichen den Austausch von Anliegen und erleichtern somit den Zugang zu Hilfe. Darüber hinaus bietet die Verbandsmitgliedschaft eine Rechtsschutzversicherung, die in bestimmten Situationen äusserst nützlich sein kann. 5.2 Thomas Schmid Schulleiter Primarstufe Binningen (BL) Thomas Schmid (Jg. 1965) ist in Binningen aufgewachsen und lebt derzeit in Oberwil. Seit Sommer 2020 ist er Mitglied der Schulleitung von Binningen. Zuvor hatte er acht Jahre lang die Position des Schulleiters in anderen Gemeinden im Kanton Basel-Landschaft inne. Am 22. August 2023 führte ich das Interview durch. Wie wird die schweizerische Kultur und Identität an unseren Schulen vermittelt? Basierend auf meinen persönlichen Erfahrungen in den von mir besuchten Schulen, möchte ich darauf hinweisen, dass diese Thematik stark von den Lehrpersonen abhängt, ob sie solche Werte schätzen und aktiv vermitteln möchten. Implizit werden diese Werte oft durch die Feiertage wie Weihnachten und Ostern vermittelt, bei denen kulturelle Lieder gesungen, gebastelt oder spezielle Aktivitäten wie Krippenspiele durchgeführt werden. Dennoch ist eine klare Tendenz zur Abnahme dieser Praktiken zu erkennen. Warum nehmen diese Werte und Anlässe ab? Hierzu habe ich zwei Vermutungen: PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 20

24 1. Veränderte Grundlage: Eine mögliche Ursache könnte in der veränderten Grundlage liegen. In der heutigen Zeit gibt es viele Lehrpersonen, die nicht mehr mit den christlichen Werten aufgewachsen sind oder diese Werte nicht aktiv gelebt haben. Dies kann daran liegen, dass sie nicht religiös sind oder in einem Umfeld aufgewachsen sind, in dem religiöse Werte keine grosse Rolle spielen. 2. Kulturelle Vielfalt: Ein weiterer Faktor könnte die zunehmende kulturelle Vielfalt sein. Mit der wachsenden Anzahl von "Secondos" - Menschen, die in der Schweiz aufgewachsen sind, aber in einer anderen religiösen oder kulturellen Umgebung verwurzelt sind - ist die Vielfalt der kulturellen Hintergründe in den Schulen grösser geworden. Dies könnte dazu führen, dass bestimmte religiöse oder kulturelle Traditionen weniger betont werden, um niemanden auszugrenzen oder zu benachteiligen. Verlieren wir dadurch nicht einen Teil unserer Schweizer Identität? Ja, wir verlieren sicherlich einen Teil unserer Identität, jedoch gewinnen wir auch neue Aspekte dazu. Es ist unbestreitbar, dass solche traditionellen Werte und Praktiken verloren gehen, was sich beispielsweise in der Umnutzung von Kirchen zeigt - sie werden zu Cafés, Restaurants, Kulturzentren oder sogar Garagen umgestaltet. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass die Mitgliederzahlen in Kirchen abnehmen, was für diese finanzielle Schwierigkeiten mit sich bringt. Dennoch ist anzumerken, dass der Verlust von bestimmten Traditionen und Werten nicht zwangsläufig den Verlust der gesamten Identität bedeutet. Identität ist ein vielschichtiger und sich wandelnder Begriff. Während traditionelle Elemente an Bedeutung verlieren mögen, gewinnen gleichzeitig neue kulturelle Einflüsse und Werte an Relevanz. Die Schweizer Identität kann somit durch den Einfluss verschiedener Kulturen und Ansichten bereichert werden. Ja, bei uns wird derzeit diskutiert, den Religionsunterricht aus finanziellen Gründen abzuschaffen. Allerdings geht es hierbei weniger um ideologische Aspekte, sondern vielmehr um finanzielle Überlegungen. Wie sieht das bei Euch in der Schule aus? Momentan halten wir an der aktuellen Vorgehensweise fest und sind froh darüber, dass wir den Halbklassenunterricht mit den Religionslehrpersonen aufrechterhalten können. Der Religionsunterricht hat für uns auch ethisch einen Wert, der nicht zu unterschätzen ist. Persönlich finde ich, dass dies von Bedeutung ist. Andernfalls müssten wir unsere Lehrkräfte im Bereich Ethik weiterbilden. Das gesamte Christentum ist für uns Mitteleuropäer jedoch von grosser Bedeutung, um unsere Kultur und Geschichte besser zu verstehen. Wird es somit eine Zukunft ohne Religionsunterricht in der Schule geben? Ich hege sogar die Besorgnis, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet. Auf der einen Seite haben wir die Evangelikalen und modernen Kirchen, die an Popularität gewinnen, und auf der anderen Seite sehen wir muslimische Gemeinschaften, die ihre Kinder in spezifische Schulen schicken, um sie dort zu unterrichten. Dies führt zu einer Spaltung der Gesellschaft, was äusserst problematisch ist. Andererseits darf es nicht sein, dass die Kirche (katholisch/protestantisch) für den gesellschaftlichen Zusammenhalt verantwortlich ist. Wie gehen wir als Schulleitung mit diesem Normenzerfall um? Menschen müssen einfach lernen, selbstständig zu denken. Die Schule hat die Verantwortung, Fakten zu vermitteln, um unabhängiges Denken zu fördern. Das Gegenteil davon wäre standardisiertes Denken, bei dem vorgegeben wird, "wie man denken sollte" und was die PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 21

25 Normen sind. Diese ethischen Werte basieren derzeit grösstenteils auf christlichen Prinzipien. Sogar unsere Bundesverfassung stützt sich auf diese Werte, und unser Bildungssystem gründet auf christlich-ethischen Grundlagen. Diese Grundlagen lassen sich nicht einfach verdrängen, aber wir müssen sie in einer anderen Form transformieren. Diese Aufgabe ist äusserst herausfordernd, und wir können sie nicht an andere delegieren. Wir müssen die Verantwortung dafür übernehmen sowohl für uns selbst als auch für die Welt. Spürst du diese Verunsicherungen bei der Schulleitung und wie hilfst du ihnen? Es ist unerlässlich, qualifizierte Individuen zu haben! Eine Methode, die ich anwende, ist das wöchentliche Verfassen eines Textes in unserem Info-Mail. Dabei versuche ich, ethische Werte zu vermitteln und ermutige das Lehrpersonal, dies ebenfalls zu tun. Das Ziel ist es, dass unsere Lehrkräfte zu Menschen werden und bleiben, die sich intensiv mit diesen Werten auseinandersetzen und sie kontinuierlich reflektieren. Diese Aufgabe liegt bei der Schulleitung, die den Raum für persönliche Entwicklung ermöglicht. Dieser Prozess kulminiert schliesslich in der Leitbildentwicklung für die Schule. 5.3 Thomas Oetiker Rektor der Sekundarschule Binningen (BL) Thomas Oetiker (Jg. 1982) ist seit 2005 Lehrkraft an der Sekundarschule Binningen, seit 2014 Schulleiter und seit 2022 Rektor der Oberstufe. Am 4. September 2023 führte ich das Interview durch. Wie fördert/schult ihr an der Sekundarstufe Binningen die Schweizer Identität? Es ist richtig, dass unser Bildungssystem auf der Schweizer Identität und der Schweizer Bundesverfassung basiert, und dies ist ein grundlegender Bestandteil unseres Bildungssystems, den wir bewahren und respektieren. Die Frage nach den Werten, die wir heute noch leben, ist jedoch von grosser Bedeutung. In dieser Hinsicht spielt unser Leitbild eine entscheidende Rolle. Es betont Werte wie Respekt, sorgsames Zusammenleben und die Ablehnung von Diskriminierung. Diese Werte sind nicht nur in unserer Schulgemeinschaft wichtig, sondern auch in der Gesellschaft insgesamt. Indem wir diese Werte aktiv fördern und in unserem schulischen Alltag leben, tragen wir dazu bei, dass sie weiterhin eine bedeutende Rolle in unserer Gemeinschaft spielen. Dies ermöglicht es unseren Schülern, nicht nur Wissen und Fähigkeiten zu erwerben, sondern auch ein starkes Wertebewusstsein zu entwickeln, das sie in ihrem Leben und in der Gesellschaft anwenden können. Bemerken du, dass sich unsere Werte im Wandel befinden? Es ist in der Tat eine interessante Frage, ob sich die Gesellschaft verändert oder wir uns ändern. Es ist möglich, dass beides gleichzeitig geschieht. Dies zeigt sich im Sprachgebrauch, zum Beispiel in der Art und Weise, wie wir unsere Schülerinnen und Schüler ansprechen, sowie in den Lehrmaterialien, die möglicherweise diskriminierende Texte oder Inhalte enthalten. Es besteht eine deutliche Verunsicherung und ein starkes Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit. In Zeiten der Verunsicherung ist es entscheidend, dass du jemand bist, der in dieser Komplexität Klarheit schaffen kann. Klarheit entsteht durch eine weise Positionierung. Du kannst nicht erfolgreich führen, wenn du selbst nicht klar siehst. Verlieren wir durch diese Veränderung unserer Werte unsere schweizerische Identität? PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 22

26 Ja, das würde ich schon sagen! Wir verlieren unsere Schweizer Werte und auch unsere Positionen. Es ist bedauerlich, dass wir bei kontroversen Themen nicht den Mut haben, zu unseren Standpunkten zu stehen. Wir werden dadurch sehr schnell angreifbar. Zudem verfügen wir im Leitungsteam über zu wenige Ressourcen, um uns mit Angriffen und Anklagen auseinanderzusetzen. Das lähmt uns und wir haben nicht die Kraft, den Angriffen standzuhalten. Hier fehlt ein professioneller Apparat, der uns in dieser Hinsicht unterstützen könnte. Ich weiss nicht, in welche Richtung wir mit unserer Schweiz steuern. Andererseits kann ich auch nicht behaupten, dass unser Land im Niedergang ist. Dennoch wünsche ich mir, dass wir die christlichen Werte und Traditionen, die auch in unserem Lehrplan festgelegt sind, frei und offen leben können. Was ist dir als Schulleiter in dieser Position eine Hilfe? Ich weiss auf jeden Fall, was ich nicht will. Es gibt Dinge und Themen, die ich auf jeden Fall nicht überschreiten oder ausloten möchte. Da erhebe ich Einspruch, wenn sie übertreten werden. Das ist meine Grundhaltung. Was mir als Führungsperson hilft, sind die christlichen Werte und mein Glaube an Gott. Ich diskutiere mit Gott über schwierige Themen oder Probleme. Andererseits habe ich einen Freundeskreis, mit dem ich mich regelmässig am Donnerstagvormittag treffe, um mich auszutauschen und gemeinsam zu beten. Das sind grosse Unterstützungen für mich. Ich bin selbst im Vorstand der Schulleiter Baselland und erlebe eine grosse Fluktuation unter den Schulleitern. Meine Beobachtung ist die, dass Schulleitungen, die sich trauen, eine Meinung zu haben und für ihre Überzeugungen einzustehen, am erfolgreichsten sind. Ich erlebe Schulleitungen, die keinen klaren Standpunkt haben, als zum Scheitern vorprogrammiert. Es ist eine Herausforderung, Schulleiter zu finden, die einerseits nicht selbstsüchtig sind, aber andererseits eine klare Meinung und Haltung vertreten. 6 Reflexion 6.1 Erkenntnisse und Antworten auf die grundlegende Frage Durch meine Einbürgerung im Jahr 2000 habe ich die Merkmale der schweizerischen Identität erlernt und in mein Leben integriert. Dabei spielte die Religion eine bedeutende Rolle, die mein Leben und meine berufliche Karriere geprägt hat. Schliesslich verband meine ursprünglich italienische Kultur mit ihrer katholischen Religion sich mit der neu entdeckten protestantischen Schweizer Religion. Während meiner Tätigkeit als Katechet an öffentlichen Schulen fühlte ich mich einerseits beruflich bedroht, da der Religionsunterricht zunehmend aus dem Lehrplan gestrichen wurde. Andererseits erlebte ich den Rückgang des Religionsunterrichts an Schulen als schrittweisen Abbau meiner neu erworbenen schweizerischen Identität. So komme ich zu meiner grundlegenden Frage für diese Diplomarbeit: Steht unser Schweizer Schulsystem etwa in Gefahr, dass es durch das wachsende pluralistische Denken, die nationale Authentizität und somit auch die Schweizer Identität verwässert oder gar verliert? PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 23

27 6.1.1 Erkenntnis_1: Wir verlieren die alte ID und gewinnen eine Neue Ja, die Gefahr des Identitätsverlusts an Schulen besteht definitiv. Sie ist nicht nur in Gefahr! Wir sind auf dem besten Weg, unsere Identität zu verlieren oder wie es Thomas Schmid im Interview sagte: «Ja, wir verlieren sicherlich einen Teil unserer Identität, jedoch gewinnen wir auch neue Aspekte dazu.» Meine Befürchtung, dass der Religionsunterricht abgeschafft wird, hat sich bestätigt. Jedoch nicht, weil die Menschen etwas gegen die Religion haben (obwohl die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche nicht gerade förderlich sind), sondern weil wir in einer Zeit leben, in der sich Normen und Werte verändern und verschieben Erkenntnis_2: Wir leben in einer Zeit des Normenverlustes In diesem Zusammenhang spielte die Predigt von Martin Benz 21 eine entscheidende Rolle bei meiner «Horizonterweiterung». Das war für mich eine der grössten Erkenntnisse dieser Arbeit. Die Abschaffung des Religionsunterrichts an unseren Schulen liegt nicht nur an einer Abneigung gegen die Kirche, sondern vor allem auch am sogenannten «Verlust der Normen», in dem wir uns derzeit befinden. Es herrscht eine zunehmende Verunsicherung in der Bevölkerung und im eigenen Leben. Die Globalisierung und die Komplexität der Welt und vieler Zusammenhänge lassen immer mehr Menschen ratlos und zum Teil sogar hilflos zurück. Die Digitalisierung, die sozialen Medien und nicht zuletzt ebenso der unaufhaltsame Vormarsch von künstlicher Intelligenz tragen weiter zu dieser Verunsicherung bei. Auch der Krieg an den Rändern Europas ist ein Phänomen, von dem wir dachten, dass wir das in Europa überwunden hätten. Ich glaube, ein Aspekt, den viele Menschen aktuell als verunsichernd und sehr anstrengend erleben ist das, was ich den «Verlust der Normalität» nenne würde. Normalität, oder wie es Rhiannon Erdal zu Beginn beschrieb, Gemeinsamkeiten, bezeichnet in der Soziologie das Selbstverständliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt und über das nicht mehr entschieden werden muss. Diese Selbstverständlichkeit betrifft soziale Normen und konkrete Verhaltensweisen von Menschen, die durch Erziehung und Sozialisation vermittelt werden. Lange Zeit gab es in unserer Kultur und Gesellschaft ein Lebensumfeld mit breiter Normalität. Vieles in einer Gesellschaft und damit in unserem Leben, war geklärt, galt als normal, als üblich. Man musste nicht ständig überlegen, was das richtige Verhalten ist und wie man in der Norm bleibt. Denn das, was die Norm ist, bestimmt die Normalität. Man konnte eine Menge Dinge aufzählen, die normal und gesellschaftlich akzeptiert waren, die einem normalen Verhalten entsprachen. Normalität wird gewöhnlich nicht hinterfragt, weil ein gesellschaftlicher Konsens dazu besteht. In diesem Feld der Normalität kann man sich relativ unbeschwert bewegen, es braucht dafür verhältnismässig wenig Energie oder Entscheidungsaufwand, weil in diesem Bereich so viel geklärt ist, weil mir dort viele Entscheidungen abgenommen sind, weil es eine klare Norm gibt. 21 (ELIA Gemeinde Erlangen, 2023) PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 24

28 6.1.3 Erkenntnis_3: Diese Verunsicherung führt zur sogenannten Polarisierung Seit Jahren erleben wir, wie das Feld der Normalität immer kleiner wird und damit die Verunsicherung immer grösser. Normen gehen verloren. Die Schnittmenge der Gesellschaft wird kleiner, weil die Diversität der Gesellschaft grösser wird und was während Jahrzehnten als geklärt galt, wird plötzlich wieder ganz neu verhandelt. Verunsicherungen betreffen verschiedene Bereiche, wie die Sprache (Gender-Debatte), die eigene Kultur oder Nationalität (z. B. Indianerverkleidungen an Fasnacht oder das Vorhandensein von Kreuzen in Schulzimmern). Und diese Verunsicherung und dieser Energieaufwand hat Konsequenzen! Eine Konsequenz ist die wachsende Sehnsucht vieler Menschen nach der alten Normalität. Und jeder, der die Rückkehr zu den alten Normen verspricht, egal ob radikale Partei oder fundamentalistische Religion, erlebt Zulauf mit der Verheissung, wieder in das Feld des Geklärten zurückzuführen. Eine weitere Konsequenz ist der Rückzug in die eigenen vier Wände, in die Sicherheit der eigenen Gedankenwelt und dadurch die Abkehr von der Verunsicherung da draussen. Es wächst das Zugehörigkeitsgefühl zu denen, die den Verlust an Normalität ebenfalls beklagen und die eigene Gedankenwelt teilen und gleichzeitig eine deutliche Abgrenzung denen gegenüber, die diese neuen Klärungen einfordern oder die eigene Gedankenwelt nicht teilen. Diese beiden Entwicklungen führen, wie bereits im ersten Kapitel erwähnt, zu einer Polarisierung der Gesellschaft. Der Wunsch nach Rückkehr zur Normalität treibt viele Menschen dazu, radikalere Ansichten zu vertreten, in der Hoffnung, die alte Normalität wiederherzustellen. Im Jahr 2019 verzeichneten die Grünen bei den Wahlen einen Zuwachs. Der Klimawandel verunsicherte die Schweizer Bevölkerung, und immer mehr Menschen setzten sich für grüne Politik ein. Die letzten vier Jahre waren von erheblichen Erschütterungen geprägt, darunter die COVID-19-Pandemie, der Konflikt in der Ukraine und Naturkatastrophen, die die Menschen verunsicherten. Abbildung 6: Nau.ch 20. Oktober 2019 Abbildung 7: 20min/Taddeo Cerletti Ende Oktober 2023 stehen neue Wahlen bevor, und sowohl meine persönliche Einschätzung als auch statistische Daten deuten darauf hin, dass rechtspopulistische Parteien an Einfluss gewinnen werden. PHLU, Weiterbildung, DAS Schulleiter/in: Diplomarbeit 23/24 25