Manuskript. ZÜNDFUNK Generator. Wie wollen wir in Zukunft lieben? Ein Besuch bei der Publizistin Antje Schrupp

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1 Manuskript ZÜNDFUNK Generator Titel: Autor/in: Wie wollen wir in Zukunft lieben? Ein Besuch bei der Publizistin Antje Schrupp Barbara Streidl Sendedatum: /Wiederholung vom 12. Februar 2017 Sendezeit: Uhr Redaktion: ZÜNDFUNK

2 ATMO Klingeln, Schritte, Treppenhaus AntjeSchrupp02 Ich bin hier in der Wohnung von der Publizistin, Politologin und Bloggerin Antje Schrupp: Antje, du hast viele Bücher geschrieben, über Politik und Macht, über die Freiheit von Frauen und die Zukunft der Gleichberechtigung. Eins wolltest du immer schreiben, hast es aber bislang nicht gemacht: Das ist ein Buch über die Liebe. Neben uns liegt eine dicke 300- Seiten-starke Kladde mit grünem Einband, wo du schon ganz viel Material gesammelt hast, aber du hast es nie geschrieben. Warum hast du es nie geschrieben? Vielleicht ist das Thema doch ein bisschen zu groß und zu komplex. Ich wollte schreiben über die Verbindung von Liebe und Freiheit, mich haben die Ideen der freien Liebe interessiert im 19. Jahrhundert und die Frage, Haben Liebe und Freiheit etwas gemeinsam oder bedingen sie sich gegenseitig? oder wie kann man das denken, weil sehr häufig wird Liebe mit Unfreiheit in Verbindung gesetzt. Wir haben das Bild des freien Cowboys, der wegreitet und als

3 Preis für die Freiheit aber nicht heiraten darf zum Beispiel. Oder das schreckliche Bild der Vorhängeschlösser, mit denen Paare ihre Liebe ausdrücken und ein Vorhängeschloss ist ja ein starkes Symbol gegen Freiheit, und diese Idee, dass Liebe und Freiheit nicht zusammenpassen, das finde ich fürchterlich, aber natürlich kann man auch nicht einfach behaupten, dass Liebe und Freiheit zusammengehören, aber ich hatte den Eindruck, das muss man durchdenken. Aber ich glaube, dass es unabdingbar ist, um die Liebe zu verstehen, dass sie ein Ausdruck von Freiheit ist. Und nicht ein Ausdruck von Unfreiheit. ((Beatles, All you need is love)) TITEL/SPR1 Wie wollen wir in Zukunft lieben? Ein Besuch bei der Publizistin Antje Schrupp Sendung von Barbara Streidl MOD 01 Ich bin ein romantischer Mensch. Ich habe als Teenie tatsächlich Liebesgedichte geschrieben und mochte Songs wie All you need is love. Diese Beatles-Nummer ist vor genau 50 Jahren erschienen. Alles was du brauchst, ist Liebe zieht das heute noch?

4 Frauen brauchen die Ehe längst nicht mehr zwingend, um das Wohl ihrer Kinder oder ihre eigene Existenz abzusichern rund jede zweite Ehe wird geschieden. Wir müssen uns auch nicht mehr auf einen Menschen festlegen: Parallel gelebte Partnerschaften mit Sex werden jetzt als Polyamorie bezeichnet. Und dann können wir jederzeit im Netz nach einem perfekten Match suchen, perfekt für eine Stunde, einen Urlaub aber nicht unbedingt für das ganze Leben. Wie kam das zufällig oder gewollt? Und wie wollen wir heute und in Zukunft lieben? Das wollte ich von Antje Schrupp wissen. Antje Schrupp hat viele Bücher geschrieben, politische und philosophische. Sie engagiert sich im Netzwerk Care Revolution, ist verheiratet und gibt die Zeitung Evangelisches Frankfurt heraus. SPR1 Gedicht Erich Fried, Was es ist Es ist Unsinn sagt die Vernunft Es ist was es ist sagt die Liebe AntjeSchrupp02a

5 Ich glaub ja, wir sind vielleicht an einer Wende. Einer gesellschaftlichen, gedanklichen, vielleicht auch an einer Wertewende. Weil die Gründe, warum Liebe früher genannt wurde, die hatten ja sehr viel damit zu tun, dass ein Ideal beschrieben wurde, z.b. das romantische Liebesideal, oder dass es einen Grund gab, warum kümmere ich mich jetzt gerade um die Kinder, um den Hund, usw. Und was natürlich auch noch ein Grund war: Wir lieben uns und deswegen dürfen wir miteinander ins Bett gehen. Diese Gründe sind im Wandel. Du nickst? Es ist erstaunlich, wir denken immer so etwas Überzeitliches, aber schon allein nur in der europäischen Geschichte kann man sagen, dass die Leute jedes Jahrhundert etwas anderes unter Liebe verstanden haben, und das ist natürlich sehr spannend. Vieles, was wir heute für selbstverständlich halten, weil wir eben sehr von der romantischen Liebe beeinflusst werden, dass Liebe etwas zwischen einem Mann und einer Frau ist. Das ist aber erst seit der Romantik so, vorher war Liebe auch ein Gefühl oder eine Beziehung, wie sie auch unter Männern praktiziert wurde. Z.B. die ganze Julius-Cäsarund-Brutus-Geschichte ist deswegen ein Drama, weil da auch Liebe im Spiel war. Von den alten Griechen zu schweigen, wo

6 ja auch Eros eine Beziehung unter Männern war. Das ganze Mittelalter war Liebe und Sexualität voneinander getrennt. Was im 12. Jahrhundert anfing, war die Idee der Minne, der Liebe als Sehnsucht, und die war sehr damit verknüpft, dass Liebe und Ehe nicht miteinander vereinbar sind. Dass Liebe und Ehe zusammengehören, ist eine neue Idee, lange Zeit war man der Auffassung, entweder man liebt sich oder man ist verheiratet. Die Romantik wird immer ein bisschen schlecht geredet, aber eigentlich war die Romantik die erste Art, über Liebe zu sprechen, die Frauen als eigenständige Subjekte ernst genommen hat. Weil die neue und damals unerhörte Idee der Romantik war: Männer können Frauen lieben, als richtige echte Menschen. Ja leider hat es sich sozusagen ungünstig weiterentwickelt, weil mit diesem romantischen Ideal auch die Idee kam, dass Liebe nicht mehr die Beziehung zwischen zwei eigenständigen Individuen ist, sondern die Verschmelzung zu einer Einheit. ((Shirley Bassey, Where do I begin (Love story))) ZWISCHENTITEL 1 /SPR 1 DAS ROMANTISCHE LIEBESIDEAL

7 SPR 2 Buchzitat Friedemann Karig 1 Die romantische Liebe mit lebenslanger Treue, gemeinsamer Familie und emotionaler wie körperlicher Verbundenheit ist eine Erfindung wie das Auto. Friedemann Karig, Wie wir lieben AntjeSchrupp02b Jetzt versuche ich mir vorzustellen: Wie kommt das, dass so eine Idee, Mann und Frau ist gleich Liebe, wenn sie eine Beziehung eingehen, wie wird die etabliert, wer lässt sich das einfallen, war das in der Literatur, waren das Denker, ist das eine Modewelle gewesen, ist das nur in Deutschland gewesen, in Europa wie war das? Das ist sicher keine Verschwörung, die dahintersteckt, aber als die Romantik im Bereich der Liebe entstanden ist, war ja auch die Entstehung von demokratischen Ideen. Also die Idee, dass alle Menschen an der Politik mit beteiligt sein sollen, dann stellte sich die Frage, wer alle Menschen sind, die wurde beantwortet mit: alle Männer. Und diese romantische Idee der Liebe des heterosexuellen Paars konnte eine Legitimation geben dafür, dass nur die Männer wählen durften, weil wenn man das Paar als Einheit dachte, brauchte

8 man nach außen hin auch nur einen Repräsentanten. Und da sie eine Einheit waren und nicht entgegengesetzte Interessen hatten, konnte dieser eine Mann sozusagen für das paar im öffentilchen Raum demokratisch agieren. Also da hat der Liebesdiskurs ungünstig zusammengewirkt mit dem, was politisch passiert ist. Und gleichzeitig, was ich noch schlimmer finde, damit das ganze Konzept der Liebe aus dem öffentlichen Raum verdrängt wurde. Das wurde eingeschlossen im Paar, und in der Politik hat Liebe seither nichts mehr zu suchen. Da gibt es doch den berühmten Spruch von Heinemann, Ich liebe nicht den Staat, ich liebe meine Frau. SPR 2 Buchzitat Jane Austen Bist du von Sinnen, diesen Mann zu erhören? Hast du ihn denn nicht immer gehasst? Wie sehr wünschte sie sich da, sie hätte früher vernünftiger gedacht, zurückhaltender von ihren Ansichten gesprochen.... Mit anderen Worten, du bist entschlossen, ihn zu nehmen. Sicher, er ist reich;... Aber macht dich das glücklich? Hast du andere Einwände als deine Sorge, ich liebte ihn nicht?, fragte Elizabeth.

9 Keinen einzigen. Wir alle wissen, dass er ein stolzer, unfreundlicher Mann ist; aber das hat nichts zu sagen, wenn du ihn wirklich magst. Jane Austen, Stolz und Vorurteil Antje Schrupp 3a Dieses romantische Liebesideal, das ja jetzt doch 200 Jahre oder noch älter ist, das haben wir ja immer noch: eine große Liebes-Konsumindustrie, die uns in Filmen, in Musik, in Computerspielen, in allen möglichen Variationen immer wieder sagt, das ist es, das romantische Ideal. Und tausend Bücher. Letztens hatte ich ein Gespräch, ja das Buch Zwei an einem Tag von David Nichols, oh, wie wunderschön, oder Die Frau des Zeitreisenden von Audrey Niffenegger. Das ist alles ein Ergebnis eines romantischen Liebesideals. Warum ist es immer noch da? Eigentlich glaube ich, ist das romantische Liebesideal auf dem Rückzug. Denn das besagte, dass eine Frau als Subjekt ihren innerlichen Wünschen folgen kann, um dem Mann anzuhängen, den sie liebt, auch gegen jede Vernunft. AntjeSchrupp 03b

10 Was wir heute beobachten ist eine Rückkehr zu der Idee, dass Frauen doch den Mann wählen sollen, der am besten zu ihnen passt. Uns sind Frauen suspekt, die sich in Alkoholiker verlieben oder in Nichtsnutze oder in Leute, die kein Geld verdienen. Und das ist eine Rückkehr zu dem Minneideal von Liebe oder der frühneuzeitlichen Erzählung, die darin besteht, dass die Liebe einer Frau die Belohnung ist für das tugendhafte Verhalten eines Mannes. Das haben wir ja in den ganzen Märchen: die Prinzessin ist der Lohn für den Ritter, der das Turnier gewonnen hat, also die Frau als Preis. Antje Schrupp 03d Die Frau zu kriegen ist die sichtbare Bestätigung dafür, dass man der beste Mann ist. Und diese Idee kommt zurück. Da gibt es dieses eine Lied, das letztes Jahr hoch und runter lief von jetzt blätterst du in einem dicken Stapel Notizen, die noch nicht in der grünen Kladde sind... Shawn Mendes, Treat you better, das war ein riesiger Hit, und der lief so oft im Radio, MUSIK Shawn Mendes, Treat you better

11 dass ich auf den Text gehört habe, der sagt, ich werde dich besser behandeln als der Mann, den du jetzt liebst, und deswegen musst du den eigentlich verlassen und zu mir kommen. Und da sind wir wieder in der Diskussion, wie wollen wir eigentlich lieben. Antje Schrupp 3b Aber dann schlucke ich, dann wird ja das romantische Ideal abgelöst vom Archaischen. Genauso wie das Huhn: Nimmt den Hahn, der am lautesten auf dem Kirchturm schreien kann. In der Tierwelt gibt s ja ganz viele so Kämpfe, derjenige wird der Rudelführer, der die anderen wegkloppt. Das ist doch archaisch. Ja, genau, deswegen, ich finde das romantische eigentlich besser. Und die Herausforderung wäre natürlich auch, die Defizite des romantischen Ideals auszugleichen. Frauen haben so viel eigenständiges Geld, das sie verdienen können, und ihre Einbettung in das Gemeinwesen ist auch ohne Mann so gesichert, dass sie es sich leisten können, den letzten Loser zu lieben, weil sie brauchen keinen Mann mehr für ihre Versorgung. Da wären wir dann wieder bei der Trennung von Ehe und Liebe. Müssen wir Fürsorgearbeit und

12 Zusammenleben und den Alltag teilen wegen der Liebe? Die Liebe ist etwas Eruptives, und vielleicht brauchen wir etwas Anderes für soziale Bindungen als die Leidenschaft. MOD 02 Mich hat das ganz schön erschreckt: Auch in Sachen Liebe ein Backlash, Frauen als Trophäen für den besten Mann: Wie im Märchen, wo das tapfere Schneiderlein am Ende die Prinzessin kriegt. Das gefällt mir nicht. Und ich glaube, dass das nicht bloß wieder so eine typische Frauensorge ist, sondern dass das auch Männer umtreibt. Einen auf jeden Fall: Mit ihm hab ich vor kurzem gesprochen, dem Berliner Autor Jochen König. Jochen König 03 Als ich 18 war, hatte ich schon eher so ne klassische Vorstellung von, ja irgendwann bin ich mit meiner Freundin länger zusammen, und der nächste Schritt ist dann, zusammenziehen, der nächste heiraten, der übernächste dann Kinder zu bekommen und das ist dann irgendwie vorgezeichnet bis ans Lebensende wie es dann weitergeht. Und das hat ne Weile gedauert, bis ich mich davon entfernt hab und gemerkt hab, das ist auch ganz anders möglich und ich muss gar nicht das leben, wie die Gesellschaft das so

13 erzählt wie man zu leben hat, sondern ich kann auch so leben, wie ich Lust drauf hab zu leben. MOD 03 Jochen König hat zwei Kinder mit drei Frauen und er hat zu keiner dieser drei Frauen eine romantische Beziehung: Die Mutter seiner ersten Tochter ist seine Exfreundin soweit nicht ungewöhnlich, er (!) zieht das Kind aber mehrheitlich auf. Und seine zweite Tochter hat zwei Mütter ein lesbisches Paar. JochenKönig05b Natürlich liebe ich die Mütter meiner Kinder. Ich hab mich mit denen entschieden, ein Kind zu bekommen, 20 Jahre oder wenn nicht noch mehr, für ein Kind zu sorgen. Natürlich ist da auch Liebe mit dabei. Aber es ist eine andere Form von Liebe als die romantische Liebe. Und wir gehen auch nicht miteinander ins Bett und sowas. Aber das finde ich schließt sich halt nicht gegenseitig aus. MUSIK Gram Parsons & Emmylou Harris, Love hurts AntjeSchrupp 04a

14 So, Antje, wir machen dein Handy an und schauen, was auf Tinder los ist. Als erster Eddie, 50, Lehrbeauftragter, Volker, Sven, Jürgen ah ja Christian oh, du und Jürgen steht aufeinander Nein, um Gottes Willen Nachricht senden it s a match oder weitersuchen Also angeblich suchen 2 Mio. Deutsche wirklich so einen Partner. O Gott. Schon wieder. Du und Tom, ihr steht aufeinander. Das ist ein Neuer. Tom ist 45. Ja. Jeder ist ein Match. Der dritte. Jetzt hast du Anthony auch noch geliked, und schon Man kann ja auch angeben, Räumlichkeiten, wenn ich in eine neue Stadt ziehen würde, dann finde ich das gar nicht schlecht, auf diese Weise Kontakt zu haben. Man kann sich

15 die Leute schon vorher ansehen, muss nicht dumm in irgendwelchen Kneipen rumstehen und warten, dass was passiert. Menschen werden dort wie Waren auf den Tisch gelegt, beschreibt die israelische Sozialwissenschaftlerin Eva Illouz das. Eva Illouz hatten wir auch schon im Zündfunk-Generator, Eva Illouz sagte damals: Die Konsumkultur, die die Vernunftheirat abgelöst hat, unterhöhlt die romantische Liebe nicht, sondern befördert sie. Antje Schrupp 04b Romantische Liebe, Sexualität und Fürsorge: Wo würdest du dann Tinder einordnen? Also ich glaube dass das aufgebaut ist um das Ideal der romantischen Liebe, auch wenn hier einer grad war, der seinen Adoniskörper abfotografiert hatte. Ich glaube, dass Tinder eigentlich eher eine Folge davon ist, dass wir überhaupt Schwierigkeiten haben, soziale Beziehungen aufzubauen aufgrund der großen Mobilität und Flexibilität und die engen Korsette, in denen das ganze auch stattfindet. Und deswegen ist es für mich eine App, um in Kontakt zu kommen mit Menschen. Man hat ja sonst gar keine

16 Gelegenheit mehr, vor allem wenn man 10 Stunden am Tag arbeitet und dann nach Hause hetzt oder Kinder hat, man hat doch nicht mehr die Zeit, über die Straße zu flanieren und zu gucken, sich in ein Café zu setzen und zu gucken, wer da vorbeiläuft. Ich glaube, Tinder hat etwas Positives weil es den Stress etwas vermindert, weil wir leben nun mal in dieser Kultur der Konkurrenz und das Liebespartnerfinden gleichgesetzt wird nicht mit der Person, die mich anzieht, sondern die bestmögliche, das bestmögliche Match. Und hier hab ich die Möglichkeit, mir die Leute erst mal anzugucken. Das Internet hat die Möglichkeit, erst mal zu schauen ohne zu denken, sitzt alles, wie siehe ich aus, welchen Eindruck mache ich jetzt und indem dieser Stress im digitalen Daten etwas abgemildert wird, kann es dazu führen, dass Menschen sich ein bisschen öffnen, sich ein bisschen darauf einlassen, den anderen Menschen anzuschauen. Natürlich, wenn man hier nur wischt, um den sexyesten Onenightstand zu suchen, dann hat das auch was, aber es hat nichts mit Liebe zu tun. MUSIK Goldfrapp, Anymore

17 Antje Schrupp 05a Ich sitz hier in der Küche mit Antje Schrupp nahe dem Zoo von Frankfurt und wir reden über die Liebe und es gibt ja doch sehr viele Bezeichnungen: Das ist Elternliebe typisch, weil fürsorglich, das ist Jungmädchenliebe, die ist naiv, das ist alte Liebe, wenn ein Paar die diamantene Hochzeit und alle gar nicht fassen können, dass man wirklich so lange verheiratet sein kann. Wenn man sagt, Liebe kann auch die Lust auf Sexualität mit einem anderen Menschen sein,... Ich sag ja, Liebe ist eine Qualität einer Beziehung. Und deshalb ist meiner Meinung nach Liebe in jeder Art von Beziehung möglich, aber jede Art von Beziehung ist auch ohne Liebe möglich. Ich kann Sex haben mit Liebe oder ohne Liebe und ich kann Kinder erziehen mit Liebe und ohne Liebe und ich kann Politik machen mit Liebe und ohne Liebe usw. Das ist ja ein Diskurs, da gibt s nicht richtig oder falsch, sondern nur so seh ich das, so siehst du das, das ist mein Wunsch, das ist dein Wunsch. Ich kann nicht beschließen, jemanden zu lieben. MOD 04 Liebe an sich existiert eigentlich gar nicht, hat Antje Schrupp mir erklärt. Sie ist eine Art Konstrukt, eine Idee, eine

18 Vorstellung, extrem abhängig vom Gesamtzustand einer Gesellschaft. Und: Liebe wirkt sich auf alles aus, was wir tun und empfinden. Mit dem Aufkommen des romantischen Ideals wurden Frauen und Männer in Paaren zu Einheiten zusammengeklebt, um zu verschleiern, dass Männer für ihre Frauen mitentschieden. Die Frauenbewegung versuchte, die Frauen aus dieser Einheit zu befreien, gleichzeitig aber das Ideal dieses Ich nehme, wonach mir verlangt!, also die romantische Idee, aufrechtzuerhalten. Gerade ist ein anderes Ideal im Kommen, das eigentlich ganz alt ist: Es geht um die Wahl des besten Partners: der erste Ritter, das tapferste Schneiderlein, der beste Match. Doch Liebe kann man nicht herbeizaubern. Man kann auch nicht unterschreiben, dass sie ewig währt und nur einen Menschen meint. ((Jackie Wilson, Higher and higher)) ZWISCHENTITEL 2 /SPR 1 LET S TALK ABOUT SEX SPR 2 Buchzitat Friedemann Karig 2 Die Monogamie ist ein Desaster. Zumindest statistisch gesehen. Fast jede zweite Ehe in Deutschland wird geschieden, Tendenz steigend. Die durchschnittliche Dauer einer Beziehung beträgt vier

19 Jahre. Rund die Hälfte der erwachsenen Deutschen ist schon einmal fremdgegangen. Affären sind der häufigste Grund für Scheidungen. Kein Wunder: Ihre sexuellen Wünsche sehen über die Hälfte in ihrer Partnerschaft nicht erfüllt. Friedemann Karig, Wie wir lieben Antje Schrupp 05b Der erste Schritt, damit es funktioniert ist, dass wir das wissen und wahrnehmen und wichtig finden. Und dass wir nicht sagen, z.b., Hauptsache, der Sex ist gut. Die Liebe spielt keine Rolle. Oder Hauptsache, wir passen gut zusammen, die Liebe spielt keine Rolle. Die Liebe spielt eine Rolle. Die Liebe ist ja eine Anziehung, d.h. die Quelle des Geschehens liegt nicht nur bei mir sondern auch im Gegenüber, es liegt tatsächlich in der Beziehung. Ich muss noch mal in meinen Karten gucken Es gibt einen schönen Roman von Christine Brückner, der heißt Jauche und Levkojen. Und es geht um ein Gut in Pommern vor dem Zweiten Weltkrieg, da ist es ganz abgeschieden von der Welt, und da lebt ein Hausverwalter und in diese Gutsfamilie kommt jedes Jahr eine Hauslehrerin um die Kinder zu erziehen, und jede dieser Hauslehrerinnen verliebt sich in diesen Mann. Weil es der

20 einzige ist, der da ist. Wenn wir nur ein mögliches Liebesobjekt erreichbar haben, ist es fast sicher, dass wir uns in dieses Objekt verlieben. Weil wir wollen uns verlieben. Liebe entsteht nicht nur zwischen zweien, sondern auch die äußeren Verhältnisse beeinflussen, ob man sich verliebt oder nicht. Das macht es so kompliziert. Heute haben wir das gegengesetzte Problem von diesen Hauslehrerinnen, die immer nur eine Person hatten, wir haben unendlich viele zur Auswahl, und immer wenn wir uns für eine entschieden haben, dann meinen wir, vielleicht verpassen wir die nächst bessere Option. MUSIK Blumfeld, Laß uns nicht von Sex reden Antje Schrupp 05c Die Sexualität kommt immer dann mit ins Spiel, wenn man noch ein anderes Narrativ hat, nämlich dass die Liebe uns von außen überwältigt. In alten Geschichten ist es nicht der Trieb, der ja so was Überwältigendes hat, dass ich gar nicht mehr verantwortlich bin für mein Verhalten, in alten Geschichten ist es dann ein Zaubertrank, z.b. bei Tristan und Isolde, die werden dann per Zaubertrank sozusagen dazu gebracht sich ineinander unsterblich zu verlieben. Das

21 Gefühl, ich bin der Liebe ausgeliefert, und was ich aus Liebestrunkenheit tue, hab ich gar nicht mehr wirklich zu verantworten. Das ist leider heute den Männern vorbehalten, aber es stimmt natürlich für Frauen auch. Es hat ja was dass wir eben nicht bestimmen können, wen wir lieben, sondern dass wir diesem Gefühl nachgeben, und dieses Gefühl überkommt uns. Wir können das nur feststellen. Und das haben die Leute früher als Zauberei, Überwältigung bezeichnet, es hat was, und wir müssen mit diesem Kontrollverlust umgehen. Wie können wir denn ein Phänomen, das wir nicht im Griff haben, sinnvoll, kulturell einbetten? Diese Lösungen müssen wir jetzt wieder finden, weil die Liebe das Eingesperrtsein in der Familie gesprengt hat, die ist wieder draußen, und da können wir auch nicht wieder zurück. MOD 05 Das hat mich überrascht: Dass der Liebestrank aus dem Märchen genau dasselbe ist wie das, was wir heute sexuelle Anziehung nennen. Und dass das alles nichts anderes ist als überwältigende Liebe. SPR1 Gedicht Erich Fried, Was es ist

22 Es ist Unglück sagt die Berechnung Es ist nichts als Schmerz sagt die Angst Es ist aussichtslos sagt die Einsicht Es ist was es ist sagt die Liebe Antje Schrupp 07a Nun sind Menschen polygamer, als man meint, und die Polyamorie scheint die Lösung. Polyamorie hat verschiedene Definitionen was könntest du dir vorstellen, was das ist. In meiner Jugend hat man dazu Mehrfachbeziehung genannt, ich nehme an, dass das dasselbe ist, dahinter steckt der Versuch, zu fassen oder zu formulieren oder zu durchdenken, was man am besten tut in Situationen, wo man mehr als eine Person liebt oder mehr als zwei Personen miteinander in Liebesdingen verstrickt sind. Ich glaube nicht, dass wir jemals eine sehr monogame Kultur waren, Liebe ist nicht monogam. Die Idee der Monogamie ist entstanden als soziale Norm, aus dem Bedürfnis der Gesellschaft heraus etwas zu

23 organisieren, und zwar die Verantwortlichkeit von Männern für Kinder. Die Monogamie sollte sicherstellen, dass Sex nur in einer Ehe stattfand oder dass wenn zumindest wenn Sex außerhalb von Ehen stattfindet, klar war, welcher Mann für ein Kind jeweils verantwortlich ist. Das ist ein berechtigtes Anliegen, nicht nur die Frauen, die gebären sind verantwortlich für die Kinder, die dann da rauskommen, sondern auch die Männer müssen damit irgendwo eingefangen werden. Monogamie hat nie funktioniert, da wurde fremdgegangen, da wurde heimlich irgendwas gemacht, oder es wurde gewollt, aber darunter gelitten, dass es dann nicht realisiert wurde. Das ist keine gute Idee. Ich bin ein bisschen skeptisch bei den organisierten Versuchen, Polyamorie zu definieren, weil das auch wieder der Versuch ist, das Phänomen einzufangen. Ich würde versuchen, den Begriff der Liebe zu erweitern, und natürlich unterscheidet sich meine Liebe zu meinem Mann von der Liebe zu meinem nächsten Buch. Wie die sich ausdrückt, ist von Liebesbeziehung zu Liebesbeziehung unterschiedlich, und ich bin auch der Meinung, dass das auch für die Liebe zwischen Menschen gilt. Was wir dann im Zuge der Polyamorie oder mit dem was damit gemeint ist, diskutieren

24 müssen, ist, wie organisieren wir das, wenn wir das Bedürfnis haben, mit mehr als einer Person Sex zu haben, die über was Kuscheln? hinausgeht, da ist dann die Frage, wo ist die Grenze, dass wir darüber einfach verhandeln, das muss von Situation zu Situation entschieden werden, das ist nicht für alle pauschal gleichermaßen. SPR 2 Buchzitat Simone de Beauvoir In den Nächten, die Maurice bei Noëllie verbringt, habe ich Angst, nicht schlafen zu können, und gleichzeitig fürchte ich mich vor dem Schlaf. Dieses leere Bett neben meinem, diese flache, kalte Steppdecke... Die Schlafmittel, die ich nehme, können meine Träume nicht auslöschen. Im Traum werde ich ohnmächtig, weil ich so unglücklich bin. Dann liege ich wie gelähmt da, spüre Maurices Blick auf mir, und mein Gesicht spiegelt alles Leid der Welt wider, während ich darauf warte, daß er mir zu Hilfe eilt. Er aber betrachtet mich gleichgültig und geht fort. Simone de Beauvoir, Eine gebrochene Frau AntjeSchrupp07b Die Monogamie hatte auch den Vorteil, dass sie Sicherheit bot, und dass ich wusste, wenn ich erst mal verheiratet bin, dass ich nicht Angst haben muss, dass er jeden Tag eine

25 bessere findet. Oder wenn, dann wird er wenigstens von der Gesellschaft sanktioniert. Dann sind wenigstens die Nachbarn und Freundinnen auf meiner Seite und würden mich trösten. Und das haben wir verloren. Sondern eher sind diejenigen, die die Beziehung beenden, auf der Suche nach etwas Besserem, das sind die tollen Hechte, und die Zurückgebliebenen müssen sehen, wo sie bleiben. MOD 06 Liebe kann sowohl im sexuellen Verlangen, in der romantischen Beziehung und auch in der Fürsorge mitschwingen. Wenn Liebe also vor allem eine Qualität von Beziehungen ist, dann sollte es funktionieren, dass Menschen zum Beispiel das Elternsein trennen von romantischen und sexuellen Beziehungen. Jochen Königs zwei Kinder haben drei Mütter. Mit denen er ausschließlich über die Elternbeziehung verbunden ist. Jochen König 07 Das ist was, da habe ich eine Zeit gebraucht um zu verstehen, dass, wenn ich Paarbeziehung, Liebesbeziehung und Elternsein trenne, dass das nicht nur das Elternsein verändert, sondern dass das auch die Liebesbeziehung verändert. Oder den Blick auf Liebesbeziehungen verändert.

26 Ja, da bin ich auch immer noch dabei zu gucken, wie kann das funktionieren, wie funktioniert das in einer Liebesbeziehung zu sein, die eben nicht darauf ausgerichtet ist gemeinsam eine Familie zu gründen weil die Familie hab ich schon. MUSIK Marvin Gaye, Sexual Healing TITEL/SPR 1 Wie wollen wir in Zukunft lieben? Ein Besuch bei der Publizistin Antje Schrupp Sendung von Barbara Streidl SPR 2 Buchzitat Margaret Atwood»Nie hatte ich die Fibel aus der zweiten Klasse vergessen, in der ein Vater abgebildet war, der jeden Tag zur Arbeit ging und ein Auto fuhr, dazu eine Mutter, die eine Schürze trug und Kuchen backte, zwei Kinder Junge und Mädchen sowie eine Katze und ein Hund, die alle in einem weißen Haus mit gekräuselten Gardinen vor den Fenstern lebten.... Dieses Bild steckte in einer Ecke meines Koffers wie ein Ersatzkleid:... Aber was, wenn ich irgendwo eine Abzweigung übersah wenn ich meine Zukunft verpasste?... Ich würde ganz allein dastehen, wie der Käse in dem Lied über den Bauern, der sich eine Frau suchte. Nein, oh

27 nein, der Käse bleibt ganz allein, sangen die Kinder früher über diesen Käse, und alle schlugen die Hände über dem Kopf zusammen und machten sich über ihn lustig. Selbst ich hatte mich bei diesem Spiel über den Käse lustig gemacht. Warum war das Alleinsein an und für sich schon ein Grund für Hohn und Spott?«Margaret Atwood, Moralische Unordnung. JochenKönig05 Ich will ein Kind haben, ich hab total Lust auf irgendwie Familie, auf familiären Zusammenhalt, und familiäres füreinander Verantwortung übernehmen, aber ich hab keine Lust, das aufzuladen mit so einer komischen klassisch traditionellen Vorstellung von das muss mit der einen großen Liebe passieren. Ich hatte eher die Vorstellung, das könnte eine Gruppe von Menschen sein, die sich irgendwie auch lieben. AntjeSchrupp 03c Wir haben in unserer Kultur eine große Bewunderung für die Dauer, die an sich schon als positiv gilt, und es die Frage ob die ein gutes Kriterium ist, oder ob es bei der Liebe nicht eher darum geht, die richtige Dauer zu finden. Durch die Vermischung von Liebe, Sexualität und Fortpflanzung ist das

28 Element der Dauer notwendigerweise reingekommen, weil wenn ich Kinder erziehe, muss das auf Dauer angelegt sein, ich kann nicht ein Kind bekommen und nach zwei Jahren sagen, ich hab keine Lust mehr. Das widerspricht der Natur der Sache. Und deswegen ist die Liebe zu einer dauerhaften Sache geworden. Und es ist die Frage, ob das ihrer Natur entspricht. Wobei ich aber auch problematisch finde, wenn es nur noch von Bedeutung ist, wie fühle ich mich jetzt gerade, das ist wieder das andere Extrem und das ist auch wieder falsch. ((Ton Steine Scherben, Halt dich an deiner Liebe fest)) ZWISCHENTITEL 3 /SPR 1 FÜRSORGE LIEBE ZWISCHEN UNGLEICHEN AntjeSchrupp 08a Die Art und Weise wie wir das, was früher mit Liebe verknüpft war, nämlich die Fürsorge, ist ja der springende Punkt. Die wollen wir am liebsten von einem Roboter, einem care robot, erledigt sehen. Ich glaube, das war wieder eine Überreaktion auf ein tatsächliches Problem, nämlich dass die zu enge Verknüpfung von Liebe und Care problematisch ist, nämlich,

29 wenn ich etwas brauche, existentiell, dann will ich eigentlich nicht gezwungen sein, erst jemanden lieben zu müssen, um das zu bekommen. Wenn Liebe und Fürsorge sich zu sehr vermischt, ist das auch eine mögliche Ursache von Leid, nämlich dann, wenn die Pflegebedürftigen Angst haben, mit der Liebe auch die Versorgung zu verlieren. Und da brauchen wir mehr Sensibilität für die Vermischung von Liebe und Abhängigkeit. Jochen König 04 Ich hab bei meinem ersten Kind gemerkt, dass das ganz schön viel ist für nur zwei Personen, Liebespaar zu sein und Elternpaar zu sein, das kann ganz schön überfordernd sein. Und dann kam irgendwann die Trennung, und auch mit der Trennung war klar, Boah, eigentlich will ich dieser Person ein halbes Jahr aus dem Weg gehen, das geht aber nicht, weil wir haben ein gemeinsames Kind, und wir können nicht in Ruhe Emotionen abkühlen lassen, sondern wir müssen gleich am nächsten Tag nach der Trennung gemeinsam für unser Kind sorgen und das Leben unseres Kind weiter organisieren. Und da ist so die Idee entstanden, ob es nicht möglich ist, das voneinander zu trennen. Also Liebe, Liebesbeziehung auf der einen Seite und Elternsein auf der anderen Seite. Dann hab

30 ich anfangs eher scherzhaft rumerzählt, im Freundeskreis, hey, ich könnt mir vorstellen mit einer Person ein Kind zu kriegen, die nicht meine Partnerin ist. Mit der ich keine Liebesbeziehung habe. In einer dieser Runden saß Marie, Marie meldete sich ein paar Wochen später bei mir, dass sie das lange beschäftigt hatte, und ob wir nicht gemeinsam überlegen sollten, ob das nicht passen könnte zwischen uns. So haben wir uns getroffen, haben viel überlegt, haben uns ausgetauscht, wie stellen wir uns Familie vor, außerhalb von Paarbeziehung und sind irgendwann zu dem Schluss gekommen: Ja, das könnte passen. Irgendwann kam ihre Partnerin dazu und nun sind wir zu dritt Eltern von Lynn. Lynn lebt die Hälfte der Zeit bei mir, die andere Hälfte bei ihren Müttern, und wir sind Eltern, ohne dass ich mit einer der Mütter eine Paarbeziehung gehabt hätte. AntjeSchrupp09 Antje, von dir ist ein Text erschienen in der Zeit erschienen, der ursprünglich hieß Warum ich keine Kinder habe. Darin hast du den Satz geschrieben: Ich zum Beispiel habe keine Kinder, nicht weil ich das jemals beschlossen hätte, sondern weil ich nie einen guten Grund dafür hatte, welche zu bekommen.

31 Das hat sich bei mir nie ergeben, ich war nie in der Situation, in der ich sagte, ach jetzt, eigentlich, und es fehlt mir aber auch nichts. Dennoch fühle ich mich verantwortlich für die Kinder, die aufwachsen in der Gesellschaft, in der ich lebe, und finde die Mutterliebe, oder die Liebe zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Erwachsenen und Kinder, die Mutterliebe als Blaupause dieser Art ist ein gutes Übungsfeld für Liebe zwischen Ungleichen. Weil wenn die Mutter auch ein Baby wäre, würde das zu nichts führen. Die Liebe zwischen Ungleichen, wäre das eine mögliche Definition für Fürsorge? Fürsorge ist auch strukturell ungleich, weil die eine Person die Fürsorge braucht und die andere sie geben kann. Ich würde nicht sagen, dass jede Fürsorgebeziehung Liebe braucht, aber dass wenn Liebe da ist, diese Fürsorgebeziehung besser ist. Auch da geht es nicht darum, den moralischen Appell zu haben, es muss mehr Liebe in der Fürsorge sein. Man kann ja nicht von Krankenschwestern verlangen, dass sie Patienten lieben. Das wäre ja auch viel zu viel verlangt in so einem professionellen Kontext. Aber wir können aufmerksam dafür sein, dass z.b. die Patientinnen, die einzige Kontaktperson, die sie haben, ist die

32 Krankenschwester, die einmal am Tag zu ihnen kommt, dass die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dieser Person in Beziehung setzen. Wenn wir nur eine Beziehungsperson haben, dann werden wir uns wahrscheinlich in die verlieben, weil wir brauchen Liebe und niemand anders ist da. Und die Krankenschwestern müssen das wissen und wir müssen gesellschaftlich überlegen, wie wir mit diesem Dilemma umgehen. Die Lösung kann nicht sein, dass wir die Krankenschwester verdonnern, sich in die Patientin zu verlieben, aber wir müssen sehen, dass da ein strukturelles Problem ist und dass das eine Herausforderung für uns als Kultur ist, mit dieser Situation umzugehen. MUSIK Old Crow Medicine Show, Wagon Wheel ((M.I.A., Swords)) ZWISCHENTITEL 4 /SPR 1 Wie wollen wir in Zukunft lieben? Jochen König 06 Es wäre schön, wenn man Liebe von so klaren festen Definitionen löst. Es gibt eben in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Formen der Liebe. Es kann eine romantische Liebe geben, die sich an Hollywoodfilmen

33 orientiert, Menschen können aber auch ihre eigene Definition finden, und was dann alles dazugehört, welche Verantwortungsübernahme dazugehört und welches füreinander Dasein dazugehört, und welche Ideen dann aber auch eben nicht dazugehören MOD 07 Vielfalt ist hier das Stichwort: Die Grünen haben kürzlich gefordert, dass es künftig Rechte und Pflichten für bis zu vier Eltern geben sollte: soziale plus biologische Eltern etwa oder ein lesbisches plus ein schwules Paar. Natürlich unter der Bedingung, dass alle Beteiligten sich einig sind und nicht ums Sorgerecht streiten. Jochen König 08 Erst mal glaube ich, dass es total helfen würde, wenn die ganzen staatlichen Maßnahmen nicht nur dieses eine Familienmodell fördern würden, also beispielsweise das Ehegattensplitting, das einfach nur eine klassische Familie bevorzugt. Und dann wünsche ich mir eine breitere gesellschaftliche Diskussion darum. Was gibt es alles für Möglichkeiten, wie leben Menschen. Und das aber vorurteilsfrei und indem man den Menschen zuhört, die in diesen Familien leben. Und wenn die Familien zu Wort

34 kommen, dann können die selber artikulieren, was brauchen sie eigentlich, um glücklich zu sein, was brauchen sie für Unterstützung. Und wenn ich für meine Familie sprechen würde, dann wäre das so was wie Wir müssten zu dritt Eltern sein dürfen, das dürfen wir rechtlich nicht. Wir müssen zu dritt Verantwortung übernehmen dürfen für dieses Kind, auch auf rechtlicher Ebene. MOD 08 Auch für die Fürsorge müssen wir uns vielfältigere Modelle überlegen, damit Kranke und Alte nicht von der gestressten Krankenschwester im Minutentakt, von der gestressten Schwiegertochter neben der Vollzeitarbeit oder der gestressten rumänischen Pflegekraft gefüttert, umsorgt und unterhalten werden müssen. Wir brauchen Modelle mit mehr Komfort und Zeit füreinander wie es sie in zaghaften Versuchen, beispielsweise dem intergenerationellen Wohnen in selbst gewählten Gemeinschaften, schon gibt. Antje Schrupp engagiert sich im Netzwerk Care-Revolution, von dort kommt eine Forderung nach radikaler Verkürzung der Erwerbsarbeit. Um Zeit für Sorge und Pflege zu haben, für sich selbst, andere und das Gemeinwesen.

35 Wenn ich mich jetzt also frage, wie wir in Zukunft lieben wollen, dann geht es vor allem darum, dass wir mehr lieben, vor allem in der Öffentlichkeit: im Supermarkt, in Talksendungen, in der Bundestagsdebatte oder im Großraumbüro: Natürlich ist damit nicht gemeint, dass allerorts rumgeknutscht wird. Sondern es geht um die Qualität unseres Verhaltens, unseres Umgangs miteinander liebevoll ist besser als lieblos. Zum Abschied hat mir Antje Schrupp noch ein Carepaket gepackt mit Backwaren und Obst für den Heimweg. An der Tür hat sie mich dann noch mit einem Vorschlag überrascht: Antje Schrupp 06b Ich denke, das Wichtige ist, dass wir aufhören, den perfekten Match zu suchen. Sondern ob das jetzt bei Tinder oder auf der Straße ist, wichtiger ist es, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und sich anziehen zu lassen, von den Dingen, Personen, Situationen, die mich anziehen. Auf die ich mit Liebe reagiere. Dafür offen zu sein. Dafür müssen wir auch gesellschaftliche Bedingungen schaffen, die uns das ermöglichen, erlauben, das kann auch so etwas Banales sein: Ich fahre in der Straßenbahn, sehe jemand Attraktives, will

36 dem folgen im wahrsten Sinne des Wortes und lasse dann meinen Termin sausen. Es wäre doch schön, zu sagen, ich bin heute zu spät zur Arbeit gekommen, weil ich jemanden gefunden in der Straßenbahn, der hat mich angezogen. Antje, würdest du das machen, sagen: Ich musste diesem Menschen folgen? Und was denken dann alle? Antje Schrupp hat auf einer Bahnhofstoilette schnellen wilden Sex gehabt? Oder denken alle, oh, Antje Schrupp hat einem romantischen Moment nachgeben müssen. Ja, das ist der gesellschaftliche Diskurs, den ich auf diese Weise initiieren würde. wenn ich das sagen würde, hätte ich damit eine neue Bedeutung von Liebe ins Gespräch gebracht. Und angeregt, dass andere auch mal aufmerksam sind dafür. Ich will mich einsetzen, dass Liebe ein Faktor wird in unseren Gesprächen und unserem Leben und nicht auf dieser persönlichen Sex-Familien-Ebene bleibt. TITEL /SPR 1 Wie wollen wir in Zukunft lieben? Ein Besuch bei der Publizistin Antje Schrupp Sendung von Barbara Streidl ATMO SPR 1 Tür, Schritte, Straße Gedicht Erich Fried, Was es ist

37 Es ist lächerlich sagt der Stolz Es ist leichtsinnig sagt die Vorsicht Es ist unmöglich sagt die Erfahrung Es ist was es ist sagt die Liebe Erich Fried, Was es ist SPR 1 Es sprachen Carsten Fabian, Friedrich Schloffer und die Autorin. Ton und Technik: Sieglinde Hermann, Daniela Röder und Adele Kurzil Produktion: Barbara Streidl Redaktion: Julia Fritzsche Die Playlist zur Sendung und weitere Informationen zum Thema gibt es unter bayern2.de, Zündfunk. Von dort geht es auch direkt zum Generator-Podcast-Angebot. MUSIK 5 Amy Winehouse, Will you still love me tomorrow ENDE