Barrieren aus Sicht des Gesundheitssystems

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1 Barrieren aus Sicht des Gesundheitssystems Fachtag des Arbeitskreises Altenhilfe trifft Behindertenhilfe im Kreis Herford, 04. März 2015, Herford Dr. med. Theodor Windhorst, Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe

2 Ausgangslage In Nordrhein-Westfalen leben etwa 2,5 Mio. Menschen mit Behinderung 1,7 Mio. von ihnen sind schwerbehindert im Sinne des SGB IX 14 Prozent aller Menschen haben eine andauernde gesundheitliche Beeinträchtigung Mit dem Inkrafttreten der UN-Behinderten- rechtskonvention im Jahr 2009 wurde ein Leitbildwechsel vom Integrationsprinzip zum Inklusionsauftrag eingeleitet Die Entschließung der Landesgesundheitskonferenz aus dem Jahr 2013 unterstützt die Ziele der UN-BRK und gibt Handlungsempfehlungen zur Umsetzung Seite 2

3 Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention Menschen mit Behinderung müssen die Versorgung erhalten, die sie aufgrund ihrer Behinderung zusätzlich benötigen Die Versorgung von Menschen mit Behinderung muss der Qualität und dem Standard der Versorgung von Menschen ohne Behinderung entsprechen Seite 3

4 Entschließung der Landesgesundheitskonferenz 2013 Von der Integration zur Inklusion: Gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderung verbessern Es wurden folgende Handlungsempfehlungen verabschiedet: Sicherstellung eines gleichberechtigten wohnortnahen Zugangs Schaffung verlässlicher, bedarfs- und bedürfnisgerechter Strukturen Nutzerorientierung, Selbstbestimmung und Partizipation fördern Beseitigung von Schnittstellenproblemen Qualifizierung für einen vorurteilsfreien und gleichberechtigten Umgang Ausbau von Gesundheitsförderung und Prävention Seite 4

5 Herausforderungen in der medizinischen Versorgung An die medizinische Versorgung von Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung werden besondere Anforderungen gestellt Für eine angemessene Diagnostik und Therapie ist die Kommunikation zwischen Arzt und Patient eine wesentliche Voraussetzung Gerade bei Patienten mit geistiger oder mehrfacher Behinderung ist es häufig schwierig, die Symptome und deren Ursachen zu diagnostizieren Die Betroffenen können sich zu ihren Beschwerden oder Befindlichkeiten nicht entsprechend äußern Seite 5

6 Strukturelle Defizite Viele medizinische Einrichtung sind auf die Versorgung von Menschen mit Behinderung nicht gut vorbereitet Ausbau der Qualifizierung von Ärztinnen und Ärzten Anreize für eine behindertengerechte Ausstattung von Kliniken und Praxen Es fehlen im Gesundheitswesen die finanziellen Mittel, die Kosten für die überdurchschnittlich aufwändigen Leistungen zu decken Insbesondere bei dem Übergang vom Kindes- zum Erwachsenenalter kommt es zu Versorgungsbrüchen In Analogie zu den Sozialpädiatrischen Zentren, die Behinderte bis zum 18. Lebensjahr versorgen, sollten medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderung etabliert werden Seite 6

7 Barrieren im Gesundheitswesen Die Einrichtungen des Gesundheitswesens sind trotz verschiedener Fortschritte in den vergangenen Jahren bislang weder räumlich noch sprachlich, akustisch und optisch umfassend barrierefrei Bisherige Maßnahmen berücksichtigen in erster Linie Menschen mit körperlichen Behinderungen, weniger jedoch Personen mit geistigen oder psychischen Behinderungen sowie Menschen mit einer Sinnesbehinderung Seite 7

8 Finanzielle Rahmenbedingungen Der Druck zu Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen erschwert die Versorgung von Menschen mit Behinderung im ambulanten und stationären Bereich Der höhere Bedarf von Menschen mit Behinderung wird in den Finanzierungs- und Vergütungssystemen nicht ausreichend abgebildet Die finanzielle Eigenbeteiligung belastet Menschen mit Behinderung und chronisch Kranke relativ stärker als die Menschen ohne Behinderung Seite 8

9 Barrierefreier Arztzugang Einrichtungen der ambulanten und stationären Versorgung sind so anzupassen, dass Menschen mit Behinderung diese in gleicher Weise in Anspruch nehmen können wie Menschen ohne Behinderung Die Landesbauordnung bietet in NRW eine landesgesetzliche Rechtsgrundlage für den Abbau und die Beseitigung baulicher Barrieren Diese Verpflichtung gilt derzeit nur für Einrichtungen, die neue Räumlichkeiten beziehen oder einen genehmigungs- pflichtigen Umbau vornehmen Seite 9

10 Der Weg zur barrierefreien Arztpraxis Häufig sind es schon kleine Veränderungen, die Menschen mit Behinderung den Weg in die Praxis erleichtern. Davon profitieren dann auch andere Patienten. Bereits beim ersten Kontakt muss der Grundstein für ein Vertrauensverhältnis gelegt werden. Wenn ein solches Vertrauensverhältnis aufgebaut und gepflegt wird und sogar dauerhaft besteht, wird vieles einfacher. Werden geistig oder mehrfach behinderte Patienten von jemandem begleitet, ist das von besonderem Wert. Zugleich sollte stets darauf geachtet werden, den Patienten direkt anzusprechen und nicht etwa seine Begleitperson. Seite 10

11 Barrierefreie Arztpraxis Es müssen nicht nur bauliche Barrieren überwunden werden, sondern auch kommunikative Stellen Sie sich bei der Begrüßung namentlich vor Sprechen Sie bewusst deutlich Erklären Sie die Ergebnisse einer Untersuchung, Laborbefunde oder Medikation Geben Sie Gelegenheit zum Nachfragen Bieten Sie Informationsmaterial an Seite 11

12 Der Eingangsbereich Sind Hausnummer, Praxisschild und Klingel gut sichtbar? Kann die Eingangstür leicht geöffnet werden? Kann ein Rollstuhlfahrer hindurch fahren, ohne sich am Türrahmen zu stoßen? Wie ist der Zustand des Fußbodens, gibt es Stolperfallen? Sind Eingang und Flur hell genug beleuchtet? Wo finden Patienten die ersten Sitzmöglichkeiten? Bietet die Garderobe genug Platz und ist sie auch für Rollstuhlfahrer erreichbar? Gibt es Stock- und Krückenhalter? Seite 12

13 Der Sanitärbereich Viele Menschen möchten gleich nach der Ankunft den Sanitärbereich aufsuchen. Ist die Toilette gut gekennzeichnet und schnell zu finden? Wie viel Bewegungsfreiheit bietet der Sanitärbereich selbst? Können auch Rollstuhlfahrer und kleinwüchsige Menschen das Waschbecken und die Papiertücher zum Hände-Abtrocknen erreichen? Lässt sich die Tür im Notfall von außen öffnen? Wie hell ist der Raum beleuchtet? Seite 13

14 Der Außenbereich Gibt es am Gebäude Behindertenparkplätze? Ist der Weg vom Parkplatz zur Praxis ausgeschildert? Wie ist der Weg beschaffen und wird er beleuchtet? Gibt es lose Pflastersteine oder Sandflächen, die schwer zu überwinden sind? Wie lassen sich solche Barrieren ausräumen? Seite 14

15 Checkliste für mobilitätseingeschränkte Menschen Behindertenparkplätze in der Nähe des Praxiseingangs. 350 Zentimeter Breite, ggf. vorhandene Fahrbahnborde auf drei Zentimeter absenken Lichtschalter, Klingeln und Gegensprechanlagen sollten vom Rollstuhl aus erreichbar sein. Gleiches gilt für Waschbecken und Papiertuchhalter im Sanitärbereich. Türen sollten auch für Elektro-Rollstühle breit genug sein (80 bis 90 Zentimeter) Zum Öffnen und Schließen der Tür vom Rollstuhl aus sollte es große Manövrierflächen vor und hinter dem Eingang geben. Seite 15

16 Checkliste für mobilitätseingeschränkte Menschen Aufzüge sollten mit ausreichend breiten automatischen Schiebetüren ausgestattet sein. Die Bedienelemente vor dem Aufzug und im Aufzug sollten vom Rollstuhl aus erreichbar sein. Rampen sollten nicht mehr als sechs Prozent Steigung haben. Umkleidebereiche sollten ausreichend groß sein und mit Sitzgelegenheiten sowie Halte- und Stützgriffen versehen sein. Untersuchungsgeräte wie Röntgenapparate, Gynäkologenstühle oder Untersuchungsliegen sollten höhenverstellbar sein Seite 16

17 Checkliste für sehbehinderte Menschen Achten Sie grundsätzlich auf eine große Schrift und eine markante, schnörkellose Schriftform Achten Sie auf eine kontrastreiche Gestaltung der Schilder. Gut wahrgenommen werden die Kontraste schwarz-weiß, schwarz-gelb, dunkelblau-gelb Treppenstufen sollten markiert sein, zum Beispiel mit einem hellen Klebestreifen auf der gesamten Breite der jeweiligen Stufe Sorgen Sie für eine gute und blendfreie Beleuchtung des Eingangs zum Gebäude, des Treppenhauses, des Flurs und der Räume selbst Seite 17

18 Checkliste für Menschen mit Hörbehinderung Achten Sie darauf, stets den Patienten direkt anzusprechen und den Blickkontakt mit ihm zu halten, auch wenn der Patient mit einer Begleitperson kommt oder ein Gebärdendolmetscher anwesend ist Wenn der Patient von Ihren Lippen liest, reden Sie stets ihm zugewandt, damit er Ihren Mund sehen kann Bilden Sie kurze Sätze, formulieren Sie deutlich, vermeiden Sie Fremdwörter und erklären Sie, was mit einem Fachbegriff gemeint ist Nutzen Sie Darstellungen in Büchern oder auf dem Computerbildschirm, um einen Behandlungsschritt anschaulich zu machen Seite 18

19 Checkliste für Menschen mit geistiger Behinderung Menschen mit geistiger Behinderung und Patienten mit Demenz haben oft Schwierigkeiten, sprachliche Bilder und Metaphern zu verstehen. Sie können so zu gänzlich falschen Schlüssen kommen. Grundvoraussetzung ist deshalb eine verständliche Sprache Sprechen Sie klar, deutlich und verständlich Verzichten Sie auf Fremdwörter und Fachbegriffe Bilden Sie kurze Sätze ohne Nebensätze Erklären Sie schrittweise Ihr Vorgehen Erläutern Sie pro Satz nur einen Gedanken Benennen Sie konkret, was Sie meinen Seite 19

20 Engagement der Ärzteschaft 2009: Gemeinsame Erklärung der Ärztekammern und KVen mit der Landesbehindertenbeauftragten mit dem Ziel, die Zahl der barrierefreien Arztpraxen zu erhöhen Ärztetag 2009: Beschlüsse zu dem besonderen Bedarf an gesundheitlichen Leistungen für Menschen mit Behinderung Ärztetag 2010: Ärzteschaft will sich aktiv an der Umsetzung der UN-BRK beteiligen Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten bei der BÄK (ZEKO) zur UN-BRK Seite 20 Schulung des Bewusstseins für die Belange behinderter Patienten Kommunikationsbarrieren im Verhältnis zu behinderten Patienten müssen abgebaut werden

21 Forderungen Elementare Voraussetzung für eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung von Menschen mit Behinderung ist ihre respektvolle ärztliche Behandlung Die deutlich aufwändigerere Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung muss entsprechend finanziert werden Qualifizierung der Ärztinnen und Ärzte für die Behandlung von Menschen mit Behinderung Curriculum der BÄK Medizinische Betreuung von Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung Ausbau der Spezialisierung Etablierung von Medizinischen Zentren für Menschen mit Behinderung Seite 21