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Transkript:

1 taz vom 31.10.2016 Seite 13 NSU-SERIE TEIL 1 Im November 2011 steckten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sich selbst und ihr Wohnmobil in Eisenach in Brand. Seither kam vieles über den Nationalsozialistischen Untergrund ans Licht. Aber nicht alles, was es zu erfahren gäbe Der NSU: eine Reihe offener Fragen Böhnhardt der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) auf. Die taz widmet die ganze Woche lang eine tägliche Schwerpunktseite dem Erinnern an das Geschehene und der Analyse des Rechtsterrorismus. Morgen erscheint: Die V-Männer und der Verfassungsschutz VON HAJO FUNKE Es gab viele Anzeichen, dass es nun bald mit der NSU- Staatsaffäre vorbei sein werde: Der zweite Untersuchungsausschuss des Bundestags zum NSU-Komplex stellt seine Arbeit nach Plan etwa im Februar 2017 ein, er wird dabei wohl die ein oder andere Konsequenz bezüglich des Verfassungsschutzes gezogen haben und dann wird ja auch ein Urteil über Beate Zschäpe und andere in München erwartet. Man wird dann sagen: Der Rechtsstaat habe alles in allem funktioniert, ja gut, die Nebenklägerinnen und Kläger, die Opfer sind nicht zufriedengestellt, es habe zu lange gedauert, aber so ist das eben, so sind die Grenzen der Strafprozessordnung. Vor allem: Den NSU gibt es nicht mehr. Nachdem die beiden Uwes tot aufgefunden worden sind, existiert eine terroristische Vereinigung nicht mehr, denn sie besteht mindestens aus drei Personen. Aktive Aufklärungsverhinderung Diese Wahrnehmung ist verfrüht. Wie der Untersuchungsausschuss des Bundestages im Rahmen der Vernehmungen des Aktenvernichters mit dem Decknamen Lothar Lingen aus der Abteilung 2 des Bundesamts (BfV) erst jüngst festgestellt hat, hat das BfV mit voller Absicht Akten vernichtet, um jede Spur einer Beteiligung, Mitverantwortung oder Mitschuld leugnen zu können. Auch die Bundesanwaltschaft, die Anklagebehörde im Münchener Prozess gegen Zschä pe und andere, hat bezüglich einer zentralen Figur des Blut und Ehre -Aktivisten und Waffenbeschaffers Jan Werner entscheidendes Material, ohne Einsichtnahme durch das zuständige BKA vernichtet, und das noch im Jahr 2014. Auch so ist Aufklärung ausgeschlossen. Im Frühjahr 2015 hat das Landesamt in Brandenburg wichtige Daten zu ihrem zentralen Spitzel Piatto, einem Schwerverbrecher und Rassisten, unter dem V-Mann-Führer und jetzigen Präsidenten des Landesamts in Sachsen, Gordon Meyer-Plath, ver- Die Tatwaffe: eine Pistole des Typs Česká CZ 83, Kaliber 7,65 mm Browning Foto: Winfried Rothermel/picture alliance nichtet. Auch so verhindert man Aufklärung, gerade die über eigene Beteiligung. 90 Prozent geschwärzt Corelli (Thomas Richter) schließlich war als V-Mann eine Schlüsselfigur der Neonaziszene, und aktives Ku-Klux- Klan-Mitglied. Er übergab 2005 einen Datenträger mit dem Titel NSU/NSDAP seiner eigenen Dienststelle (!), dem Bundesamt. Angesichts des öffentlichen Aufruhrs über Leben und ungeklärten frühen Tod dieses zentralen V-Manns des BfV hatte sich das Parlament entschlossen, einen eigenen Sonderermittler, den ehemaligen Grünen-Abgeordneten Jerzy Montag, einzusetzen. Was herauskam, war ein Skandal eigener Natur: Von den über 330 Seiten des Montag-Berichts sind weniger als ein Zehntel der Öffentlichkeit übergeben worden. Entscheidende Informationen über das Verhältnis von Thomas Richter und dem NSU sind bis heute geheim. Mehr noch: Der Präsident des Verfassungsschutzes musste im Frühjahr 2016 bekennen, dass in einem Panzerschrank im Frühjahr 2016 unausgewertete Handys des Thomas Richter lagen. Der Gutachter Montag wurde hintergangen. Auch hier: Aufklärung und Information liegt dem Amt fern. Die Zschäpe-Marschner- Connection Im Juni 2016 ist im Bundestag durch Zeugenaussagen aus Zwickau belegt, dass Ralf Marschner zentrale Informationsquelle des Bundesamts in Zwickau sich über Jahre mit Beate Zschä pe traf. Ralf Marschner hat zudem offenbar die beiden anderen Mitglieder des Kerntrios in seinem Abbruchunternehmen beschäftigt. Die Zuständigen im Bundesamt hatten mit Marschner jemanden unter Vertrag, der sich an der Anmietung der Autos beteiligte, die zum Zeitpunkt der Mordtaten etwa in Nürnberg identifiziert wurden. Diese Informationen waren dem Verfassungsschutz also bekannt. Es ist daher ein Überlebens- Gebot, ja existenziell für den Verfassungsschutz und die zuständigen Mitarbeiter, die Akte Marschner möglichst geschlossen zu halten. Bis heute wird erfolgreich verhindert, den im Ausland lebenden Marschner zum Gericht in München oder zum Untersuchungsausschuss in Berlin zu laden. Dies erweist sich inzwischen immer mehr als eine der größten Schwächen des zweiten Untersuchungsausschusses des Bundestags und macht ihn, wenn das nicht korrigiert wird, zum Papiertiger. Selbst ein bestehender Haftbefehl wird nicht vollstreckt. Antisemitische Verbrechen geplant? Seit Kurzem wird darüber hinaus durch einen Antrag des Nebenklägeranwalts Yavuz Narin vor dem Oberlandesgericht in München der Frage nachgegangen, ob im Mai 2000 die Angeklagte Zschäpe, Uwe Mundlos und der Waffenbeschaffer Jan Werner im Bereich der Berliner Synagoge Rykestraße sich an einer Ausspähaktion für mögliche Terrorziele beteiligt haben. Jan Werner wiederum hatte Kontakt mit dem Chef der Hammerskins, dem V-Mann des Bundesamts Mirko Hesse, sowie mit dem Chef von Blut und Ehre Deutschland, Pinocchio. Wenige Tage zuvor Ende April 2000 ist dem sächsischen Innenminister vom eigenen Verfassungsschutz mitgeteilt worden, dass das Trio auf dem Weg in den Terror sei. Schon in der ersten Hälfte des Jahres 2000 waren Verfassungsschützer umfassend über das Kontaktnetz und die Ausrichtung der Aktivitäten des NSU und seines Umfelds informiert und beteiligt. Rechtsterror und sexueller Missbrauch DNA-Tests sollen Spuren von Uwe Böhnhardt an Stoffresten der Leiche der 2001 ermordeten 9-jährigen Peggy Knobloch ergeben haben. Falls sich die Beteiligung des NSU am Mord von Peggy bestätigen würde, dann würde das eine Dimension der Verbrechen des NSU aufzeigen, die bisher nur von einigen Anwälten der Nebenklage im Münchener NSU-Prozess begründet vermutet worden ist. Es würde mitten in ein nur ansatzweise öffentlich diskutiertes Beziehungsgeflecht von rechtsterroristischen Verbrechern und Verbrechern des Drogen- und Menschenhandels der organisierten Kriminalität in mehreren Ländern der Bundesrepublik Deutschland führen. Dieses Geflecht ist mit dem Tod der beiden Uwes nicht erloschen. Der ehemalige V-Mann und Organisator des gewalttätigen Thüringer Heimatschutzes, Tino Brandt, ist wegen Kinderprostitution und sexuellen Missbrauchs Minderjähriger in 66 Fällen irritierend spät vor Gericht gekommen und verurteilt worden. Es gibt bis heute rechtsterroristisch organisierte Kriminalitätsnetze, die es aufzudecken und zu zerschlagen gilt. Weiterhin: Es ist bekannt, dass es aus dem Umfeld des verstorbenen Uwe Böhnhardt einen Tatverdächtigen gibt, der womöglich für den Tod des 1993 bei Jena aufgefundenen 9-jährigen Bernd Beckmann verantwortlich ist. Auch hier hält sich der Verfassungsschutz zurück, wo man doch laut ARD-Dokumentation Tino Brandt noch kinderpornografisches Material auf Anforderung besorgt hat. Aus dem Ruder Der erste Thüringer Untersuchungsausschuss hat nachgewiesen, dass der Verfassungsschutz in Thüringen mit dem zentralen V-Mann Tino Brandt selbst den neonazistischen Thüringer Heimatschutz am Rechtsstaat vorbei systematisch gestärkt hat. Briefe des Bundeskriminalamts haben vor dem Brandstifter-Effekt von V-Leuten der Verfassungsschützer gewarnt. Ohne Erfolg. Stattdessen ist dieses V-Mann- Unwesen noch ausgedehnt worden. Ein Teil der Verfassungsschützer hat mit für die Radikalisierung und das Untertauchen der NSU-Mord-Gruppe gesorgt. Einmal aus dem Ruder gelaufen liegt es im Interesse des Selbsterhalts solcher Institutionen und der besonders beteiligten Personen, nicht belangt zu werden wegen Strafvereitelung im Amt oder wegen Beihilfe zu schweren Verbrechen und Mord. Der Legitimation, Effizienz und Glaubwürdigkeit der Sicherheitsbehörden dient dies aber nicht, es schwächt sie bis hin zu völligem Misstrauen in großen Teilen der Öffentlichkeit. Verharmlosung, Verschweigen und Vertuschung haben der Sicherheit aller den staatlichen Behörden anvertrauten Menschen in der Phase des NSU schwersten Schaden zugefügt. Die Tatsache, dass weiter vertuscht wird, fügt der Sicherheit der den Institutionen Anvertrauten weiter Schaden zu. Dies gilt erst recht für die, die besonderen Schutz brauchen: die heute von Rechtsterroristen, Rechtsextremisten oder Rechtspopulisten Bedrohten und Angegriffenen: Migranten, Juden, Politiker, Flüchtlingshelfer und Kinder. Eine späte Chance Es ist daher die Vertiefung und Ausweitung des NSU-Skandals selbst, die Gesellschaft und Politik noch einmal die Chance bietet, die Lehren aus Rassismus und organisiertem Verbrechen zu ziehen: Gegenüber dem Bundesamt bedarf es unabhängiger interner Ermittlungen und der Prüfung von Anzeigen gegen einzelne wegen Strafvereitelung im Amt sowie Beihilfe zum Mord. Es müssen um den gegenwärtigen Beauftragten für die Nachrichtendienste des Bundes, Klaus-Dieter Fritsche, in seiner wütenden Widerrede gegen den Aufklärungsdruck des ersten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags vom 18. Oktober 2012 zu variieren eben genau alle die Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln zur Sicherung der Unversehrtheit und Menschenwürde der ihnen Anvertrauten garantieren und nicht weiter unterminieren. Wir alle müssen um die Bundeskanzlerin in ihrem Versprechen vom 23. Februar 2012 gegenüber den Hinterbliebenen der Opfer zu zitieren uns selbst versprechen, alles zu tun, um die Morde aufzuklären, die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken sowie alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran müssen wir Zivilgesellschaft, Medien, Politik und dann wohl auch endlich die zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck arbeiten. Hajo Funke ist Autor von Staatsaffäre NSU (2015)

1 taz vom 1.11.2016 Seite 13 Der NSU: Die V-Männer NSU-SERIE TEIL 2 Sieben vermeintliche Sicherheitsbehörden von Verfassungsschutzämtern bis Militärischem Abschirmdienst führten über 40 V-Männer und V-Frauen im Umfeld des Trios. Eine Übersicht über die brisantesten Spitzel und ihre Aussagen VON ANDREAS SPEIT Im Oktober 1998 wendet sich der Anwalt Gert Thaut an die Staatsanwaltschaft Gera: Er will für das seit knapp neun Monaten abgetauchte NSU- Kerntrio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe herausfinden, welches Strafmaß die drei erwarten würde, wenn sie sich stellten. Die Idee zu diesem Deal hatte der Thüringischen Verfassungsschutz selbst. Er hatte Thaut beauftragt und auch die Anwaltskosten von insgesamt 1.409,48 Mark übernommen. Doch der zuständige Oberstaatsanwalt Arndt Peter Koeppen lehnt ab. Das Trio bleibt im Untergrund und beginnt von dort zu rauben und zu morden. Die Geschichte ist eines der vielen Fragmente, die seit dem zufälligen Auffliegen des NSU das Wirken der Geheimdienste fragwürdig und rechtswidrig erscheinen lassen. Sie zeigt einmal mehr, welche engen Verbindungen zwischen dem Verfassungsschutz und dem Trio bestanden haben müssen. Von den 40 V-Männern und V- Frauen, die die Sicherheitsbehörden im Umfeld des Trios geführt haben, sind bis heute nicht alle Identitäten der Spitzel geklärt. Martina Renner, Expertin für Innenpolitik und Sprecherin für antifaschistische Politik der Linken im Bundestag, sagt, das liege auch daran, dass Akten vernichtet und Beweismittel zurückgehalten würden. Die Bundesanwaltschaft hätte längst als Ermittlungsführerin eingreifen müssen tat sie aber nicht. Sie ist seit Jahrzehnten in die V-Leute-Führung involviert. Sie wird nicht Teil der Lösung sein, glaubt Renner. Bis heute ist nur bruchstückhaft öffentlich bekannt: Was wussten die V- Leute von dem Untergrundleben der drei? Was gaben sie zu den zehn Morden weiter, was verschwiegen sie von den drei Bombenanschlägen? Was war den V-Leute-Führern bekannt? Welche Informationen über Waffenbeschaffungen hielten sie wegen des Quellenschutzes zurück? Und vor allem: Wer schützte wen? Carsten Szczepanski Piatto Carsten Szczepanski lieferte dienliche Hinweise, die allerdings nicht verfolgt wurden. Der schwerkriminelle Rechtsextreme hatte sich im Gefängnis selbst dem Brandenburger Verfassungsschutz (VS) angedient. 1995 war er wegen Mordversuchs an einem Nigerianer zu acht Jahren Haft verurteilt wurden. Schon in der U-Haft begann Carsten Szczepanski F.: M. Müller/dpa die Zusammenarbeit, die von 1994 bis 2000 lief. 1997 kam er frei, eröffnete in Königs Wusterhausen einen Laden für rechte Musik und baut das rechtsextreme Netzwerk Blood & Honour (B & H) mit auf jenes Netzwerk, das den drei NSU-Mitgliedern Wohnungen, Ausweise, Geld und Waffen besorgte. Am 9. September 1998 erzählte Szczepanski seinem V-Mann-Führer, dass ein Blood-&-Honour-Kader Kontakt zu dem Trio habe und die drei Skinheads mit Waffen versorgen solle. Hallo, was ist mit der Bums soll jener Kader, Jan Werner, ihm gesimst haben. Bei einer Vernehmung sagte Szcze panski, die Chemnitzer Szene habe gewusst, dass das Trio nach dem Untertauchen in der Stadt war. Bis heute hat sein damaliger V-Mann-Führer, Gordian Meyer-Plath, keine moralischen Bedenken, den Schwerkriminellen beauftragt zu haben: Piatto habe auf Anhieb ihr Lagebild und das anderer Verfassungsschutzbehörden verbessert. Es war ein Quantensprung. Heute leitet Meyer- Plath den VS Sachsen. Ralf Marschner Primus Im September diesen Jahres stand fest: Die Schweizer Behörden werden Ralf Marschner nicht ausliefern. Über 40 Straftaten listet die Polizei in ihren Dateien zu dem einstigen Zwickauer Rechtsextremen auf von Diebstahl über verfas- sungsfeindliche Kennzeichen bis Körperverletzung. Wegen Insolvenzverschleppung besteht Haftbefehl. Maschner war von 1992 bis 2002 V-Mann des Bundesamts. Laut Zeugenaussagen soll er in seinem Zwickauer Modegeschäft Beate Zschäpe und bei seiner Baufirma Uwe Mundlos beschäftigt haben zur Zeit ihrer Illegalität. Als der NSU aufflog, meldeten sich schnell Zeugen, die das bestätigten. Die Ermittler befragten die frühere Szenegröße und ehemaligen Top-V- Mann 2012 und 2013. Marschner, der im Schweizer Chur lebt, stritt alles ab. Das Trio will er nicht gekannt haben. Glück für ihn und seinen Dienstherrn: Im Hochwasser 2010 wurden zwei Akten des NSU-Prozesses vernichtet, die Marschner betrafen. Tino Brandt Otto / Oskar Tino Brandt Foto: picture alliance Der heute 41-Jährige lenkte das Netzwerk Thüringer Heimatschutz (THS) mit seinen rund 170 Anhängern, zu dem auch die Kameradschaft Jena gehörte. In beiden war das spätere NSU-Trio organisiert. Von 1995 bis 2000 lieferte Brandt dem Thüringischen Verfassungsschutz (VS) Informationen. In dieser Zeit führte er nicht nur den THS, er wurde auch NPD-Landesvize. Dem VS ist es eigentlich verboten, Führungsfiguren zu bezahlen. Im Jahr 2001 wurde Brandt daher abgeschaltet, zwei Monate später aber reaktiviert. Gegenüber dem Oberlandesgericht in München verneinte er, auf das NSU-Trio an- gesetzt worden zu sein. Nah an ihnen dran war er dennoch: Bis zu 3.000 Mark sammelte er auf Szenekon zerten für sie, das Geld übergab er einem Kontaktmann. Auf den will er den VS hingewiesen haben. Auch berichtete er, das Trio finanziere sich über den Verkauf eines selbstgestalteten Pogromly -Spiels, ähnlich Monopoly. Das Amt ließ über Brandt Pogromly -Spiele kaufen 100 Mark das Stück und übergab ihm 1.800 Mark für die Ausreise der Untergetauchten. Das Geld verschwand, das Trio blieb. Rund 200.000 Mark erhielt Brandt für seine Dienste selbst in der Behörde gilt das als exorbitant hoch. Das Geld floss laut Brandt in die Szene, für Reisekosten bis zur Bezahlung von Geldstrafen für Kameraden. Vor Gericht belastete Brandt Zschäpe schwer: Sie sei eine politisch überzeugte Frau, keine dumme Hausfrau. Zschäpe sagte später, Brandt hatte überall seine Finger im Spiel. Der Mitangeklagte Ralf Wohlleben meinte, Brandt habe gewusst, wo das Trio lebte und Geld für eine Mordwaffe beschaffte. Mittlerweile sitzt Brandt in Haft: Im Dezember 2014 verurteilte ihn das Landgericht Gera wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und deren Vermittlung an andere Erwachsene zu fünfeinhalb Jahren. Böhnhardt der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) auf. Die taz widmet sich aus diesem Anlass die ganze Woche lang mit einer täglichen Schwerpunktseite dem Erinnern an das Geschehene und der Analyse des Rechtsterrorismus Gestern erschien: Essay von Hajo Funke: Der NSU: Eine Reihe offener Fragen Morgen erscheint: Die offenen Fragen der Hinterbliebenen Alle Teile: online unter www.taz.de/nsu-serie Thomas Richter Corelli Er war einer der am besten verdienenden Spitzel des Bundesamts (BfV) und starb unter dessen Obhut Ende März 2014 kurz vor einer geplanten Vernehmung. Richter sollte zu einer gefundenen CD mit dem Titel NSU/ NSDAP befragt werden, die er mitproduziert haben soll. Von 1994 bis 2007 lieferte er Infor- mationen, für die er insgesamt 180.000 Euro erhalten haben soll. Seit seiner Enttarnung 2012 war er im Zeugenschutz. Offiziell hieß es erst, er sei an einer nicht erkannten Diabetes gestorben. Aber die Ermittlungen laufen weiter. Anfang der 2000er war er einer der führenden Kader bei den Freien Kameradschaften und Blood & Honour. 1995 hatte er Mundlos bei einem Rechtsrockkonzert in Dresden kennengelernt. Dem VS teilte er mit, dass Mundlos mit Freunden die Kameradschaft Jena gegründet habe. Im persönlichen Kontaktverzeichnis von Mundlos fanden sich die Daten von Richter. Das BfV erklärte indes offiziell, der V-Mann habe mit dem NSU nichts zu tun gehabt. Thomas Richter Foto: attenzione Das Amt stufte ihn intern mit der höchsten Bewertungsstufe B ein, heißt: Diese Quelle galt als verlässlich. Richter lieferte auch Informationen zur deutschen Sektion des Ku-Klux-Klan (KKK). Recherchen der taz ergaben: Auch Kollegen der vom NSU getöteten Polizistin Michèle Kiesewetter gehörten zum KKK. Michael See/ von Dolsperg Tarif Michael von Dolsperg soll sich 1994 selbst beim Verfassungsschutz als V-Mann angedient haben. Drei Jahre zuvor, am 25. November 1991, griff er mit Angehörigen der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei im thüringischen Nordhausen das Ausländerbegegnungscafé an. Zusammen mit zwei anderen Beschuldigten wurde er später wegen versuchten Totschlags in zwei Fällen vor einer Disko festgenommen und zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Er wendete sich an das Bundesinnenministerium, bat um Hilfe beim Ausstieg und bot sich als Informant an. Resultat: See, wie er vor seiner Hochzeit hieß, lieferte bis 2003 gegen ein monatliches Gehalt von 500 bis 600 Mark Informationen an das Bundesamt, unter anderem über die Kameradschaft Leinefelde im thüringischen Eichsfeld, die Kameradschaft Jena und den THS. In einer achtstündigen Vernehmung am 10. März 2014 bei der Bundesanwaltschaft soll von Dolsperg ausgesagt haben, dass ein Mitglied des Thüringer Heimatschutzes (THS), Andre Kapké, ihn Anfang 1998 gebeten habe, das gerade untergetauchte Trio zu verstecken. Dolsperg will sofort seinen V-Mann- Führer verständigt haben. Der soll ihm geraten haben, den dreien keinen Unterschlupf zu gewähren. Kapké vom THS bestreitet, Dolsperg um Hilfe gebeten zu haben.

1 taz vom 2.11.2016 Seite 13 AUS KASSEL KONRAD LITSCHKO Es ist Montagmittag, als Ismail Yozgat ganz still wird. Am Morgen hatte er noch sein willkommen, merhaba in die Runde geworfen, alle herzlich umarmt. Familie Şimşek, Mutter und Tochter Kiesewetter, Familie Taşköprü, Abdullah Özkan aus Köln. Nun sitzen sie alle im Bus, den die Stadt Kassel ihnen für eine Rundfahrt gebucht hat. Und Ismail Yozgat verstummt, lehnt seine Stirn gegen die Scheibe, seine Augen starren nach draußen. Es ist der Moment, in dem der Bus in die Holländische Straße biegt. Hier, in dieser Straße, wurde 1985 Yozgats Sohn Halit geboren. Und hier ist er gestorben, am 6. April 2006. Halit Yozgat war das neunte und letzte migrantische Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds. Erschossen in seinem Internetcafé. Der Bus fährt an dem Haus vorbei, ein Vierstöcker mit mattorangefarbener Fassade. Das Internetcafé ist längst geschlossen, heute sitzt hier die Stadtimkerei. Wenig später steht Ismail Yozgat auf einem benachbarten kleinen Platz, mehr eine Straßenecke. Autos rauschen auf der vierspurigen Holländischen Straße vorbei, ein Blumenladen bietet seine Floristik an. Yozgat und die anderen sammeln sich vor einer grauen Stele: die für seinen Sohn und die anderen Opfer des NSU. Der kleine Platz heißt seit 2012 Halitplatz. Wir bedanken uns, dass Sie unseren Schmerz teilen, sagt Yozgat. Seine Stimme zittert, die Hände vergräbt er in den Ärmeln seines schwarzen Anoraks. Wir glauben an Gerechtigkeit, sagt er. Wir verlieren nie die Hoffnung. Am Ende bittet Yozgat die Umstehenden um ein kurzes Gebet, einige Angehörige nehmen sich in den Arm. Gut 25 Männer und Frauen sind am Montag nach Kassel gekommen. Sie alle haben ein Familienmitglied verloren, getötet durch den NSU, oder wurden selbst verletzt von der Bombe, die die Rechtsterroristen in der Kölner Keupstraße zündeten. In Rostock waren sie schon, in München, Hamburg, Dortmund und Nürnberg. Immer trafen sie sich an den Tatorten. Barbara John, die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opferangehörigen, hatte die Idee. Um die Familien zusammenzubringen, sagt sie. Und um die Städte an ihre Verantwortung für die Angehörigen zu erinnern. Über Jahre war deren Schicksal die Vereinzelung. Neunmal mordete der NSU zunächst, neunmal waren die Opfer Migranten. Und jedes Mal gehörten die Familien selbst zu den Verdächtigen. Nach angeblichen Drogengeschäften der Erschossenen fragten die Ermittler ihre Angehörigen, nach Geliebten, nach Mafiakontakten. Bekannte wandten sich ab, die Familien zogen sich zurück. Bis sich am 4. November Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Eisenach erschossen und Beate Zschäpe eine Bekenner- DVD verschickte. Der NSU bekannte sich darin zu den Morden, auch zu dem an der Polizistin Michèle Kiesewetter im Jahr 2007. Die Taten waren rechtsextremer Terror. Die Hinterbliebenen NSU-SERIE TEIL 3 Fünf Jahre nach dem Bekanntwerden der Existenz des NSU leben die Opferfamilien mit Enttäuschung: die Aufklärung stockt, der NSU-Prozess zieht sich in die Länge. Diese Woche trafen sich die Angehörigen in Kassel Tatort Holländische Straße in Kassel: In diesem Internetcafé wurde Halit Yozgat im April 2006 erschossen. Heute befindet sich darin die Stadtimkerei. Diese Aufnahme stammt von 2014 Foto: Paula Markert Nun steht auch Abdulkerim Şimşek auf dem Halitplatz, 28 Jahre, gestutzter Bart, schwarzes Sakko. Er ist mit seiner Frau und seiner zweijährigen Tochter angereist. Sein Vater war das erste Opfer des NSU: Im September 2000 wurde Enver Şimşek in seinem Blumenstand in Nürnberg mit acht Kugeln erschossen. Nun, 16 Jahre später, sagt sein Sohn noch immer: Wir kommen nicht zur Ruhe. Şimşek berichtet von seiner Enttäuschung, so wie viele hier. Uns wurde Aufklärung versprochen, aber nichts passiert. Ihren Anwälte würden von der Bundesanwaltschaft Akten vorenthalten, der Verfassungsschutz schreddere Unterlagen. Das trifft uns wirklich, sagt Şimşek. Bis heute sei unklar, ob es nicht noch mehr Helfer und Mittäter des NSU gab. Şimşek glaubt fest Böhnhardt der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) auf. Die taz widmet sich aus diesem Anlass die ganze Woche lang mit einer täglichen Schwerpunktseite dem Erinnern an das Geschehene und der Analyse des Rechtsterrorismus Gestern erschien: Der NSU: Die V-Männer. Kurzporträts von Andreas Speit. Morgen erscheint: NSU-Serie 4: Der Mord in Heilbronn, von Gareth Joswig. Alle Teile: online unter www.taz.de/nsu-serie daran. Das können die niemals alleine gemacht haben. Sie hatten Leute vor Ort, die die Opfer ausgesucht haben. Es wird viel von Aufklärung geredet, aber es passiert nichts, sagt in Kassel auch Osman Tașköprü, dessen Bruder im Juni 2001 in einem Hamburger Gemüseladen erschossen wurde. Ich dachte, dass Deutschland ein gerechtes Land ist, sagt Ayse Yozgat, Mutter von Halit Yozgat. Aber ich erlebe, dass es zwei Gesichter gibt. Der Mord an Yozgats Sohn gehört für die Familien zu einer der größten Vertrauensproben. Bis heute ist er einer der mysteriösesten des NSU. Am Nachmittag des 6. April 2006 findet Ismail Yozgat seinen Sohn in dessen Internetcafé, zweimal wurde ihm in den Kopf geschossen. Halit stirbt in seinen Armen. Im Intercafé sa- ßen zum Zeitpunkt der Schüsse fünf Kunden, keiner will was gesehen haben. Darunter: Verfassungsschützer Andreas Temme. Warum er vor Ort war, ist ungeklärt. Vor zwei Untersuchungsausschüssen wurde Temme angehört, zu dem Münchner NSU- Prozess wurde er sechsmal vorgeladen. Stets beteuerte er: Er sei nur privat im Internetcafé gewesen. Dass er sich als einziger Zeuge nach dem Mord nicht gemeldet habe, sei einem Flirtportal geschuldet, auf dem er chattete, was seine Frau nicht wissen sollte. Temme lügt, sagt Ismail Yozgat. Entweder er deckt die Täter oder er war selbst an dem Mord beteiligt. Auch Ermittler glauben, dass Temme zumindest den Toten gesehen haben muss. Nachgewiesen aber ist nichts. Temme arbeitet heute im hessischen Regierungspräsidium. Auf dem Halitplatz stellt Ismail Yozgat eine Forderung: Der NSU-Prozess müsse einen Ortstermin in Kassel machen, um Temme zu widerlegen. Er glaube an ein richtiges Urteil, sagt Yozgat. Auch wenn es bis dahin lange dauere. Wie lange soll es denn noch dauern?, murmelt Osman Tașköprü vor sich hin, er steht neben Yozgat. Auch der Kurierfahrer ist mit seiner Frau und kleiner Tochter angereist, auch er ist enttäuscht. Hinter dem NSU müsse es noch größere Leute geben. Sonst wären die drei nicht jahrelang unentdeckt geblieben. Auf dem Halitplatz legt auch die Kassler Schulstadträtin Anne Janz einen Kranz nieder. Wir stehen an Ihrer Seite, sagt die Grünen-Politikerin. Die Angehörigen applaudieren. Dann aber wiederholt Ismail Yozgat seine Forderung, die er schon vor der Kanzlerin in Berlin stellte: die Umbenennung der Holländischen Straße in Halitstraße. Die Stadt lehnt das ab: Die Bürger würden das nicht mitmachen, die Straße sei eine der Hauptachsen. Kamil Saygin sieht das anders. Ich würde mir wünschen, dass die Umbenennung eines Tages kommt, sagt der Vorsitzende des Kassler Ausländerbeirats. Saygin begleitet die Familien über den Tag. Beim Mittagessen erinnert er, wie er im Mai 2006 mit Ismail Yozgat vor dem Rathaus Kassel stand. Ein Monat zuvor war Halit Yozgat erschossen worden, nun forderten 4.000 Demonstranten: Kein zehntes Opfer! Schon damals, sagt Saygin, habe er gesagt, die Täter seien Rechtsextreme gewesen. Wir lagen leider richtig, aber keiner hat uns geglaubt. Bis heute rätselt aber auch Saygin, warum es ausgerechnet Halit Yozgat traf. Eine, die es wohl weiß, ist Beate Zschäpe. Im Münchner NSU- Prozess saß ihr im Oktober 2013 auch Ayse Yozgat gegenüber. Ich spreche als Mutter, als eine Geschädigte, sprach sie Zschäpe direkt an. Ich bitte Sie, dass Sie all diese Vorfälle aufklären. Inzwischen hat Zschäpe ihr Schweigen gebrochen. Im Dezember 2015 ließ sie ihren Anwalt eine Erklärung verlesen, zuletzt sprach sie kurz auch selbst: Sie verurteile die Morde und Anschläge. Damit zu tun aber habe sie nicht. Dafür seien allein ihre Begleiter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt verantwortlich. Ayse Yozgat hat die Aussage nur mehr verbittert. Was hat Frau Zschäpe gesagt? Nichts. In diesem Punkt sind sich alle Familien in Kassel einig. Das war nur Theater, sagt auch Abdulkerim Şimşek. Zschäpe spielt allen etwas vor. Von ihm aus aber könne diese selbst Freispruch bekommen. Wenn sie endlich die Hintermänner benennt. Es sei eine Größe der Familien, dass sie zwei Schicksale tragen könnten, sagt Barbara John, die Ombudsfrau. Erst konnte der Staat die Morde nicht verhindern. Und jetzt kann er sie nicht aufklären. Bei aller Enttäuschung, ein Stück Hoffnung bleibt. Es ist am Nachmittag, als auch Ayse Yozgat sagt: Wir glauben an die Wahrheit. Irgendwann, so Gott will, wird sie zum Vorschein kommen.

1 taz vom 3.11.2016 Seite 13 Ermittlungsversäumnisse D ie Mordermittlungen liefen außerordentlich schlampig. Einige der Ermittlungspannen: Zunächst fahndet die Staatsanwaltschaft nach dem Heilbronner Phantom, einer Frau, deren DNA seit 2001 europaweit bei über zwei Dutzend Verbrechen festgestellt wurde. Nach zwei Jahren ergebnisloser Ermittlungen stellt sich heraus, dass die DNA einer unbeteiligten Fabrikarbeiterin gehört. Sie hatte Wattestäbchen verpackt, die bei der Spurensicherung benutzt wurden. Das Umfeld von Kiesewetter haben die Ermittler der Kripo Heilbronn nie näher beleuchtet: Weder Kollegen noch Vorgesetzte von Kiesewetter wurden systematisch vernommen. Das, was man ohne Rücksicht auf die Trauer der Angehörigen der Mordopfer der Česká-Mordserie gemacht hatte, versäumte man bei Kiesewetter. Unaufgeklärte Widersprüche im Fall Kiesewetter füllen die Abschlussberichte der Untersuchungsausschüsse zu Hunderten Seiten. Geheimdienst A m Tattag waren sowohl ein Master Sergeant der US- Militärpolizei als auch ein Verfassungsschützer in Heilbronn. Nach neueren Recherchen scheint wahrscheinlich: Das war wohl eher Zufall. 4. November 2011, flog mit dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) auf. Die taz widmet sich aus diesem Anlass die ganze Woche lang mit einer täglichen Schwerpunktseite dem Erinnern an das Geschehene und der Analyse des Rechtsterrorismus. Gestern erschien: Die Hinterbliebenen. Reportage von Konrad Litschko, der in Kassel die Angehörigen der Opfer traf. Morgen erscheint: Die Ermittler die Rolle der Bundesanwaltschaft von Konrad Litschko. Alle Teile: online unter www.taz.de/nsu-serie Motiv E s gibt erhebliche Unterschiede zu den übrigen NSU-Morden: Die Opferauswahl fand nicht anhand zugeschriebener rassistischer Kriterien statt. Zwar passen RepräsentantInnen der Staatsgewalt ebenso ins Opferschema rassistischer Ideologie, aber anders als bei den anderen Morden raubten die TäterInnen Dienstwaffen und Gegenstände. Laut Zschäpes Aussage vor Gericht, die auch die 2-Täter-These stützte, war Waffenbeschaffung auch das Motiv für den Mord. Jedoch war die Tat nach allem, was man weiß, der letzte Mord des NSU. Der Mord in Heilbronn NSU-SERIE TEIL 4 Am 25. April 2007 wird in Heilbronn die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen und ihr Kollege schwer verletzt. Bis heute sind die genauen Umstände der Ermordung unklar. Der NSU rühmte sich in einem Bekennervideo dieses Mords VON GARETH JOSWIG Am 25. April 2007 fahren Michèle Kiesewetter und Martin A. in Heilbronn Streife. Nach einer Einsatzbesprechung machen sie eine Pause auf der Theresienwiese, in der Nähe des Neckars. Sie parken ihren 5er BMW um circa 13.55 Uhr neben einem stillgelegten Wasserpumphäus- chen, essen und rauchen am offenen Autofenster. Drei Minuten später wird beiden in den Kopf geschossen. Der Tatablauf laut LKA: Die TäterInnen haben sich unter Ausnutzung des Überraschungsmoments von hinten dem Auto genähert und in zeitlich dichter Abfolge jeweils einen Kopfschuss abgefeuert. Die TäterInnen nehmen Dienstwaffen, Handschellen und Tränengas von Kiesewetter und A. mit. Beim Abnehmen der Gegenstände müssen die TäterInnen mit dem Blut ihrer Opfer in Kontakt gekommen sein. Anschließend fliehen sie. Kiesewetter ist sofort tot. A. ist schwer verletzt. Schon kurz danach setzt die Polizeizentrale Heilbronn den ersten Funkspruch ab. Polizisten treffen am Tatort ein. Der Tatort ist nicht ordnungsgemäß abgesperrt, zeitweise halten sich dort mehr als 100 Beamte auf. Hinzu kommen Presse, Trauernde und Schaulustige. Der Rettungshubschrauber landet und startet in Tatortnähe. A. überlebt schwer verletzt. Er kann sich bis heute nicht an den Tatvorgang erinnern. Aufnahme vom Trauerzug für Michèle Kiesewetter in Böblingen Foto: Norbert Försterling/picture alliance Zwei oder mehr Täter? W ährend die Bundesanwaltschaft bis heute davon ausgeht, dass Mundlos und Böhnhardt die Tat allein begingen, hielten die Ermittler des LKA es 2009 für plausibel, dass vier bis sechs Personen an dem Mord beteiligt waren. Dafür sprechen mehrere Zeugenaussagen: Nördlich und westlich der Theresienwiese haben ein Radfahrer und eine Frau unabhängig voneinander zwischen 14 und 14.30 Uhr zwei blutverschmierte Männer gesehen. Einer wusch sich die Hände im Neckar und war in Begleitung von einem Mann und einer Frau. Südlich der Theresien wiese hat ein Paar einen blutverschmierten Mann gesehen, der wegrannte und sich mehrfach nach dem Polizeihubschrauber umblickte. Ein anderer Mann hat beobachtet, wie ein Mann mit blutverschmiertem Arm in ein Auto hechtet. Alle ZeugInnen werden von den Ermittlern als glaubwürdig eingestuft, einer ist V-Person der Polizei. Die Phantombilder, die anhand der Aussagen erstellt wurden, ähneln weder Mundlos noch Böhnhardt. Von keinem der beiden fand man am Tatort DNA, dafür jedoch am Rücken des schwer verletzten Martin A. die DNA einer unbekannten Person. Zudem ergibt die operative Fallanalyse, dass zwei Rechtshänder schossen. Böhnhardt war Linkshänder. Die Bundesanwaltschaft argumentiert, dass das Kennzeichen des Wohnmobils des Trios in der Ringfahndung circa eine halbe Stunde nach der Tat außerhalb von Heilbronn notiert wurde. Außerdem fanden Ermittler in dem ausgebrannten Wohnmobil von Eisenach die den Opfern entwendeten Dienstwaffen. In der ausgebrannten Zwickauer Wohnung des Kerntrios fanden Ermittler die Tatwaffen und eine Jogginghose mit Spuren von Böhnhardt und Mundlos sowie einem Blutspritzer, der laut DNA-Test von Kiesewetter stammt. Der NSU hatte sich außerdem in einem Bekennervideo der Tat gerühmt. Zufallsopfer? D ie Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass Kiesewetter ein Zufallsopfer war. Dagegen spricht jedoch vieles: Kiesewetter hat in der Tatwoche eigentlich Urlaub, Kollegen sagen, sie sei für jemanden eingesprungen. Laut Aussagen willigt sie am 19. April ein, den Dienst in Heilbronn zu übernehmen. Am selben Tag ruft Uwe Böhnhardt bei seiner Mietwagenfirma an und verlängert die Ausleihe des Wohnmobils. Bei den vorherigen Morden mietete das Kerntrio den Camper relativ genau um den Tatzeitpunkt herum. Michèle Kiesewetter kam wie Böhnhardt, Zschä pe und Mundlos aus Thüringen. Ihr Heimatort Oberweißbach ist nur 30 Kilometer von Saalfeld entfernt, wo sich der Thüringer Heimatschutz und das Kerntrio bei regelmäßigen Treffen radikalisierte. Kiesewetters Patenonkel Mike W., selbst Polizist beim Staatsschutz, sagte 2007 kurz nach dem Mord aus: Er glaube, der Mord an seiner Nichte hänge mit den bundesweiten Türkenmorden zusammen wegen der ähnlichen Tatwaffen, die er aus den Medien kenne. Später behauptete er, er sei durch eine Unterhaltung mit einem Ermittler darauf gekommen. Das Problem: Beim Kiesewetter-Mord wurden tatsächlich andere Waffen benutzt als bei den restlichen neun Morden. Kiesewetter machte einige Jahre vor ihrer Ermordung Urlaub in Ungarn mit ihrem Patenonkel und dessen damaliger Lebensgefährtin Anja W., ebenfalls Polizistin. 2007 trennte sich Anja W. von Kiesewetters Patenonkel. Sie hatte sich während verdeckter Ermittlungen in Ralf Wi., den Chef einer Sicherheitsfirma, verliebt. Sie sind bis heute verheiratet. Ihr neuer Mann beschäftigt auch Neonazis und kannte, angeblich flüchtig, Böhnhardt. Vom Polizeidienst wurde Anja W. zwischenzeitlich suspendiert, weil sie verdächtigt wurde, Ermittlungsergebnisse an rechte Kreise weiterzuleiten sie hatte sich Zugriff auf verschiedene Fällen verschafft, in denen es um Ermittlungen gegen die extreme Rechte in Thüringen ging. Kiesewetter hatte weitere Verbindungen zur extremen Rechten: Die European White Knights des Ku-Klux-Klan haben in Schwäbisch Hall ihr Zentrum, rund 50 Kilometer entfernt von Heilbronn. Zwei Kollegen aus Kiesewetters Einheit ließen sich 2001 bei Blutritualen in dem rassistischen Geheimbund zu Rittern schlagen. Privat trugen Kollegen Thor Steinar -Klamotten, einige ließen sich kollektiv Glatzen schneiden. Kiesewetter selbst war nach dem, was bekannt ist, nie Mitglied in rechten Organisationen.

1 taz vom 4.11.2016 Seite 13 NSU-SERIE TEIL 5 War der Nationalsozialistische Untergrund ein größeres Netzwerk mehr als nur Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe? Die Bundesanwaltschaft sieht dafür weiter keine Belege. Dabei gibt es eine Vielzahl an Hinweisen Die Rolle der Bundesanwaltschaft VON KONRAD LITSCHKO Es ist erst wenige Wochen her, da saß Anette Greger im Bundestag, in der Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses. Nein, wehrte die Bundesanwältin alle Nachfragen ab: Es gebe keine Hinweise auf weitere NSU-Täter, keine Hinweise zu Helfern vor Ort. Ungeklärte Fragen räumte Greger indes ein, auch offene DNA-Spuren. Damit müssen wir leben. Das war der Punkt, an dem es dem Ausschussvorsitzenden Clemens Binninger, CDU-Mann und Expolizist, reichte. Uns wäre es lieber, wenn Sie mit den offenen Spuren nicht leben würden. Sondern wenn Sie diese ermitteln würden. Es ist der hartnäckigste Vorwurf an die Bundesanwaltschaft, der in diesem Moment wieder im Raum stand und der schwerste: Tut sie wirklich genug, um die Rechtsterror-Serie aufzuklären? Oder hat sie sich bereits festgelegt schon wieder? Auch für die Bundesanwaltschaft war die NSU-Mordserie ein Fiasko. Unser 11. September, nannte sie der einstige Generalbundesanwalt Harald Range einmal. Über Jahre hinweg wurden neun migrantische Gewerbeleute erschossen, am Ende auch eine Polizistin, in Köln gingen zwei Bomben hoch die Behörde aber sah sich nicht zuständig, vermochte keinen Terror zu erkennen. Erst als mit dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt das NSU-Bekennervideo und die Tatwaffen auftauchten, lag für die Bundesanwaltschaft alles auf dem Tisch. Und die Behörde machte fünf Schuldige aus: Beate Zschäpe und vier Helfer. Sie alle sitzen seit Mai 2013 in München vor Gericht. Aber: War das wirklich alles? Es gibt Zweifel. Ich habe die Befürchtung, dass man sich wieder Zschäpe, Böhnhardt, Mundlos sind das wirklich alle? Foto: Frank Doebert/dpa zu früh festgelegt hat, sagt der Ausschussvorsitzende Binninger. Vor dem NSU-Bekanntwerden waren die Ermittler überzeugt, dass die Täter aus dem Umfeld der Opfer kamen. Das war falsch. Heute sollen alle NSU-Taten nur von Böhnhardt und Mundlos verübt worden sein. Alle Hinweise aber, die dem Ausschuss vorlägen, sprächen dagegen, so Binninger. Deshalb glaube ich, dass es mehr als zwei Täter waren. Lästig, scheuklappenartig Binninger ist mit seiner Kritik nicht allein. Auch im Münchner NSU-Prozess attackierten Anwälte der Opferfamilien die Bundesanwaltschaft früh: Diese habe die Aufklärung als lästig hinten angestellt. Akteneinsichten würden verweigert, Verfassungsschützer nicht geladen. Alles, was das Netzwerk des NSU und die Rolle des Geheimdienstes beleuchten soll, werde scheuklappenartig blockiert. Die Bundesanwälte verteidigten sich stets: Der NSU-Prozess dürfe nicht ausufern. Nur um die dort Angeklagten müsse es gehen. Die Frage ist dann aber: Wie viel tut die Bundesanwaltschaft außerhalb des Prozesses für die Aufklärung des Netzwerks um das NSU-Trio? Für die Opferfamilien ist das zentral: Kann es sein, dass da draußen noch weitere Helfer und Mittäter frei herumlaufen? Hinweise dafür gibt es. Rund 100 Kontaktleute des NSU- Trios benennt die Bundesanwaltschaft selber. Von einigen ist nur die bloße Bekanntschaft bekannt. Andere lieferten dem Trio Pässe, stellten Wohnungen zur Verfügung, mieteten Autos an. Waren sie auch bei Taten dabei? Das BKA kann es nicht sicher sagen: Es hat nur von 19 der 100 Personen die DNA in ihrer Datenbank. Dann gibt es auch diesen Befund: An keinem der NSU-Tatorte fanden sich DNA-Spuren von Mundlos oder Böhnhardt. Nicht bei den zehn Morden, nicht bei den zwei Anschlägen, nicht bei den 15 Raubüberfällen. Weil beide gut vorbereitet und wohl maskiert waren, vermuten Ermittler. Es gibt aber 43 DNA- Spuren aus der letzten Wohnung des NSU und dem letzten Wohnmobil, die bis heute niemandem zugeordnet werden können. Stammen sie von Helfern? Die These, dass drei Nazis durchs Land ziehen und isoliert morden, ist nicht mehr tragbar, sagt auch die Grünen-Obfrau im NSU-Ausschuss, Irene Mihalic, auch sie war früher Polizistin. Nach unseren Erkenntnissen gab es ein Umfeld, gab es Netzwerke. Auch V-Leute des Verfassungsschutzes spielen hier eine nicht unerhebliche Rolle. Tatsächlich gibt es zu mehreren Tatorten Ungereimtheiten. An keinem NSU-Tatort fanden sich DNA- Spuren von Mundlos oder Böhnhardt Beim NSU-Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn sahen mehrere Zeugen bis zu sechs Täter, keine der Beschreibungen passte auf Mundlos oder Böhnhardt. In Rostock lag der Tatort, ein Döner-Imbiss, so versteckt zwischen Wohnblöcken, dass selbst Bundesanwältin Greger einräumte, dieser sei für Ortsunkundige eigentlich nicht zu finden. Bei dem Lebensmittelgeschäft in der Kölner Probsteigasse, in dem ein NSU-Sprengsatz explodierte, war von außen nicht erkennbar, dass Migranten ihn betrieben. Getränkeshop Gerd Simon, stand auf dem Ladenschild. Die Bombe wurde in dem Laden von einem Mann abgelegt, den der Besitzer als blond und langhaarig beschrieb auch hier keine Ähnlichkeit mit Böhnhardt und Mundlos. Und für den NSU-Mord in Kas- sel fanden Ermittler eine Skizze der Innenräume des Tatortes, eines Internetcafés. Angefertigt von einem lokalen Ausspäher? Der nationalsozialistische Untergrund ist ein Netzwerk von Kameraden, hieß es im NSU-Bekennervideo. Wer aber gehörte zu diesem Netzwerk? Es bleibt bis heute ungeklärt. Klar ist, dass Neonazis aus dem militanten Blood & Honour-Netzwerk dem Jenaer Trio nach dem Untertauchen halfen. Sie besorgten Wohnungen oder Geld, versuchten auch an Waffen zu kommen. Gerade sie gehören zu den schweigsamsten Zeugen im NSU-Prozess. Weil sie enger mit dem Trio verstrickt waren als bekannt? Wir bemühen uns wirklich, sagte Bundesanwältin Greger im Untersuchungsausschuss. Wir schließen nichts aus, wir sind offen. Auch beim Verfassungsschutz habe man keine Beißhemmungen. Konkrete Anhaltspunkte auf weitere Mittäter oder örtliche Helfer aber gebe es eben nicht. Gegen neun Rechte ermittelt die Bundesanwaltschaft noch, die dem NSU-Trio direkt geholfen haben sollen. Daneben verweist die Behörde auf ein Strukturermittlungsverfahren : Alle Hinweise, die zum NSU noch einlaufen, würden dort geprüft. Was aber genau passiere, sei unklar, klagt die Grüne Mihalic: Ich muss eher feststellen, dass dort wichtige Vorgänge versenkt werden. Bis Juli 2015 wurden 112 Zeugen in dem Strukturermittlungsverfahren befragt, darunter drei V-Leute. Drei Durchsuchungen wurden durchgeführt. Seitdem: keine neuen Angaben. Einer der Zeugen, den die Bundesanwaltschaft befragte, war Lothar Lingen. So jedenfalls lautet sein Deckname. Lingen arbeitete als Referatsleiter beim Bundesverfassungsschutz, als am 11. November 2011 der NSU und seine Taten publik werden. Noch am gleichen Tag ordnete Lingen an, die Ordner von sieben V-Leuten zu schreddern allesamt aus Thüringen, dem Ursprung des NSU. Warum? Auch das blieb lange unklar. Ihm seien Löschfristen aufgefallen, behauptete Lingen. Als ihn im Oktober 2014 die Bundesanwaltschaft befragte, räumte Lingen indes ein weiteres Motiv ein: Er habe gehofft, dass dann die Frage, warum das Bundesamt von nichts gewusst hat, vielleicht gar nicht auftaucht. Als Nebenkläger Lingen indes ein Jahr später im NSU-Prozess anhören wollten, wiegelte die Bundesanwaltschaft ab, trotz der erfolgten, öffentlich aber noch nicht bekannten Vernehmung: Dass der Verfassungsschützer die Akten bewusst geschreddert habe, sei entgegen aller bislang vorliegenden Erkenntnisse spekulativ. Nicht die einzige Fragwürdigkeit. Auch gegen Jan W., den einstigen Sachsen-Chef von Blood & Honour, ermittelt die Bundesanwaltschaft bis heute. Er soll versucht haben, den Untergetauchten Waffen zu beschaffen. Unterlagen von just diesem Jan W. Bönhardt der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) auf. Die taz widmet sich aus diesem Anlass die ganze Woche mit einer täglichen Schwerpunktseite dem Erinnern an das Geschehene und der Analyse des Rechtsterrorismus. Gestern erschien: Der Mord in Heilbronn. Gareth Joswig über den Fall Michèle Kiesewetter Morgen erscheint: Ein Streitgespräch zwischen Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan Kramer, der Linken-Abgeordneten Petra Pau und Opferanwalt Sebastian Scharmer Alle Teile: online unter www. taz.de/nsu-serie aber ließen zwei Staatsanwälte der Bundesanwaltschaft 2014 schreddern darunter ein vierseitiges Notizbuch mit Kontakten und Telefonnummern. Ein Versehen, beteuerte die Bundesanwaltschaft. Die Staatsanwälte hätten den NSU-Bezug von W. nicht gekannt. Aber gut stand die Behörde erneut nicht da. Zschäpes Brieffreund Dabei könnte gerade ein Blick auf Blood & Honour und dessen Ableger Combat 18 lohnen. 2000 wurde das Netzwerk verboten, etliche Aktivisten aber sind bis heute aktiv. Im Sommer erst beteiligten sich einige von ihnen an einem Neonazi- Aufmarsch in Dortmund. Mit dabei: Robin S. Er soll einst bei einem Dortmunder Combat- 18-Ableger mitgemischt haben, ist vorbestraft wegen bewaffneten Raubes und ein treuer Brieffreund von Beate Zschäpe in deren U-Haft. Oder vor drei Wochen: Im Schweizer Bergdorf Unterwasser trafen sich 5.000 Neonazis zu einem Konzert, dem größten seit Jahren. Die Organisatoren aber kamen aus Thüringen: Rechtsextreme um den Saalfelder Steffen R., auch er bewegte sich im Blood-&-Honour-Umfeld. Die Veranstalter sammelten die Eintrittsgelder, 30 Euro pro Person, nach taz-informationen auch für ein spezielles Idol: Ralf Wohlleben. Der ist im Münchner NSU-Prozess angeklagt, weil er den Rechtsterroristen die Mordwaffe beschafft haben soll. Woher kommt diese ungebrochene Unterstützung? Nicht nur Abgeordneten des NSU-Ausschuss sehen hier noch viel Aufklärungsbedarf: Im Juli konfrontierten auch die Opferanwälte im NSU-Prozess Beate Zschäpe mit den bisherigen Leerstellen im Terrorkomplex. Mehr als 300 Fragen stellten sie. Der Bundesanwaltschaft fielen zu all dem Ungeklärten ein: drei Fragen.

1 taz vom 4.11.2014 Seite 13 Oberlandesgericht München: Auftakt des NSU-Prozesses im Mai 2013 Foto: reuters/pfaffenbach Fehler im System VON ANDREAS SPEIT Freitag: 11 Uhr 30, Am Schafrein in Eisenach. Zwei oder drei knallartigegeräusche sindaus einem weißen Campingbus zu hören. Zwei Polizeibeamte suchen Deckung. Sekunden danachhatderbusfeuergefangen, fliegt das Fahrzeugdach in die Luft. Knapp eine Stunde später öffnet Polizeikriminaldirektor Michael Menzel die Tür des ausgebranntenfahrzeugs. Sofort, so Menzel, habe er gewusst, dass die beiden Männer,die die Sparkasse am Nordplatz überfallen hatten, offensichtlich tot waren.aufeinemtischsahereine Waffe, wie sie auch die Polizei verwendet da habe er geahnt, dass er es nicht mehr mit normalenbankräubern zu tun hatte. Kurz nach 15 Uhr am selben Tag setzt Beate Zschäpedie Wohnung in der Frühlingsstraße 26 in Zwickau in Brand, die sie mit UweMundlos und UweBöhnhardt bewohnt hatte. Vier Tage späterstelltsiesichderpolizeiin Jena. Vor genau drei Jahren, am 4. November 2011, flog das Trio des Nationalsozialistischen Untergrunds(NSU) auf. Zwei BankräuberwolltediePolizeidamalsstellen, fand jedoch zwei Rechtsterroristen. Es waren keine Ermittlungen der Polizei, keine EinschätzungenderGeheimdienste, dieandemtagzudemendedes 13-jährigen Untergrundlebens von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe geführt hatten. Nicht einhinweisvonv-leutenausder rechtsextremen Szene, sondern RECHTSTERRORHeute vor drei Jahren flog der Nationalsozialistische Untergrund auf durch puren Zufall. Das Versagen der Sicherheitsbehörden lag vor allemangrundlegend falschen Analysen. Und einer Extremismustheorie, die nicht zwischen links und rechts unterscheidet Über Jahrzehnte hinweg versicherten die Behörden, dass es keinen rechtsextremen Terrorismus gebe der Zufallhatte zu jenengeführt, die zehn Menschen getötet und mindestens zwei Bombenanschläge und vierzehn Banküberfälle verübt haben sollen. Eine NiederlagefürdieSicherheitsbehörden, sagte damals der heute scheidende Präsidentdes Bundeskriminalamts (BKA), Jörg Zierke,denderNSU-Fallnochimmer schmerzt. In der Statik der deutschen Sicherheitsbehörden sind längst neue Strukturen etabliert und anvisiert, die ein solches Versagen bei den Ermittlungen zu rechtsextremem Terror und Gewalt verhindern sollen. Im Bundesamt (BfV) unddembkaetwawirdbis heute darüber diskutiert, wie Pannen bei der Kommunikation und den Ermittlungen verhindert werden können. Es gibt ein Gemeinsames Abwehrzentrum Rechts (GAR), und die Rechtsextremismusdatei RED wurdeaufgebaut, um die Informationen der Behörden schnell abrufbar zu haben. Eine zentrale V-Leute- Datei, deren Einführung im Mai 2013 auf der Innenministerkonferenz vereinbart wurde, gibt es aberimmernochnicht aufeine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag räumt das Bundesinnenministerium am7.august 2014 ein: Die Ausgestaltung der einzelnen Dateninhalte, sowie Dateneinordnung befindet sich noch in der Abstimmung mit den Landesbehörden. Ist der NSU aber nurdeshab nichtentdecktworden,weilesan der Kommunikation der Sicherheitsbehörden untereinander haperte, es an Vernetzung fehlte undermittlungsfehlernichtentdeckt worden sind? Nein, nicht alleine, sagt Fabian Virchow, Leiter der Forschungsstelle Rechtsextremismus/Neonazismus an derfh-düsseldorf.vielleichtseien die Kommunikationsprobleme nur vorgeschoben, um über anderes nicht reden zu müssen. Vor allem eine grundlegend falscheanalysedürftedasversagen der Sicherheitsbehörden mit verursacht haben. Die Extremismustheorie nämlich, mit der die Behörden arbeiten. Sie stammt von den Theoretikern Uwe Backes und Eckhard Jesse und wird nichthinterfragt. In dem seit 1989 herausgegebenen Jahrbuch Extremismus & Demokratie bildet jener Extremismusbegriff von Backes und Jesse als Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen diebasis, diesichinderablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte einig wissen. In der Theorie werden also alle Extremismen vereint und miteinander verglichen. Dies wird besonders deutlich in dem sogenannten Hufeisenmodell, wo links und rechts die jeweiligen Enden bilden, welche sich auch grafisch einander annähern. DienachhaltigeFolgederTheorie,solegtesderLeiterdesDuisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung, Siegfried Jäger, dar,sei eine Ausblendung rechter Ressentiments in der Mitte der Gesellschaft. Eine weitere gravierende Folge: die Unterschiede zwischen den Extremismen können verloren gehen. ÜberJahrzehntehinwegversichertendieSicherheitsbehörden zudem, dass es in Deutschland keinen rechtsextremen Terrorismus gebe. Die Studie RechtsextremismusNr.21:Gefahreinesbewaffneten Kampfes deutscher Rechtsextremisten Entwicklungen von 1997 bis Mitte 2004 des BfV spiegelt diese FehleinschätzungundihreFolgenwider. Auf den letzten Seiten des Dokuments heißt es: Derzeit sind in Deutschland keine rechtsterroristischen Organisationen und Strukturen erkennbar. Zudem resümiert das Amt mit Blick auf Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe: Ungeachtet der Tatsache, dassesden Bombenbastlernaus Jena jahrelang gelungen war, sich ihrer Verhaftung zu entziehen, gibt es keine wirkungsvolle Unterstützerszene, um einen nachhaltigen Kampf aus dem Untergrund heraus führen zu können. Beim Erscheinen der Studie hatte der NSU bereits Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleymann Tasköprü, Habil Kilic und Mehmet Turgut erschossen und in Nürnberg und Köln Bombenanschläge verübt, bei denen es Schwerverletzte gab. Eine weitere analytische Schwäche der Studie ist ihre BezugnahmeaufdenLinksterrorismus. Denn aus dem Fehlen von Bekennerschreiben wird die Inexistenz einer rechtsterroristischen Organisation gefolgert. Kurz: Rechtsterrorismus ist gleich Linksterrorismus dass beide Szenen unterschiedliche Opfergruppen und Strategien haben, wirdkomplettausgeblendet. Eine Braune Armee Fraktion muss wie die RAF gestrickt sein. Doch dass Rechtsextreme selten Bekennerschreiben verfassen, muss den Extremismusexperten entgangen sein, bemängelt etwa Fabian Virchow. Backes hält noch immer daran fest, dass die Erkenntnisse der NSU-Untersuchungen kein Beweis für ein systematisches Versagen der Sicherheitsbehörden sind. Anders als die NSU-Ausschussvorsitzende Dorothea Marx (SPD). Sie fällte in Thüringen ein gegenteiliges Urteil. Bei dervorstellungdesabschlussberichts im August 2014 sagte Marx, die Fahndung sei ein einziges Versagen und es dürfe nicht mehr nur von unglücklichen Umständen, Pannen oder Fehlern gesprochen werden. Die grundsätzliche Annahme, ein solches terroristisches Netzwerk existiere nicht, färbt auch auf die Arbeit der Justiz ab. In demseitdem6.mai2013inmünchen laufenden Verfahren gegen die einzige Überlebende des Trios und vier weitere Unterstützer geraten Nebenkläger der Opferangehörigen häufig mit der Generalbundesanwaltschaft aneinander. Insbesondere bei NachfragenzudemNetzwerkBlood& Honour, das den dreien nach demabtauchenimjahr1998die ersten Wohnungen, Papiere, Geld und Waffen besorgte. Alle Aufklärungsversuche behindert die Generalbundesanwaltschaft,sagtRechtsanwalt Sebastian Scharmer.Die Hoffnung der Angehörigen zu erfahren, ob mögliche Helfer vor Ort dem Trio zuarbeiteten und wie die Opfer ausgesucht worden sind, werde somit weiterhin enttäuscht. Daswirklichkeitsfremdeund ideologisch motivierte Korsett des Extremismus-Dogmas verstellt offenbar weiterhin den Blick auf die Herkunft, Ausprägung und Zielstellung rechtsterroristischer Tendenzen und Organisationen, sagt Martina Renner,die für die Linke imbundes- tagsinnenausschuss sitzt und Obfrau im Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss war. Da helfe dann auch kein Referat mit dem Titel Rechtsterrorismus im BfV. Eine KleineAnfrage derlinkspartei offenbarte am 17.SeptemberdiesesJahres,dassdasBfVin der Öffentlichkeit zwar vermied, von Rechtsterrorismus zusprechen,garandereeinschätzungen formulierte,aberschon1981erstmals ein Referat zur Beobachtung des rechtsextremistischen Terrorismus eingerichtet hatte. Der Anlass: das Oktoberfest-Attentat am26. September 1980 in München. Dreizehn Menschen starben durch eine Bombe, die Gundolf Köhler platzierthatte, 211 weitere Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. In der offiziellen Interpretation ist Köhler,der selbst bei dem Anschlag starb, ein Einzeltäter gewesen. Netzwerk? Helfershelfer? Schon damals wurde ausgeblendet, washeutewiederausgeblendet wird. Dies zeigt doch: Umdenken wollen die Behörden nicht.