Wahrheit und die Autoritäten

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Transkript:

Lieferung 2 Hilfsgerüst zum Thema: Wahrheit und die Autoritäten Die theologsiche Hermeneutik der mittelalterlichen Scholastik Will man schon die Aussagen verschiedener Denker in Einklang bringen, was freilich nicht notwendig ist, so muß man sagen: die Autoritäten... müssen ausgelegt werden. 1 respektvoll interpretieren Albert der Große: Gewalt anwenden. 2 Bücher der göttlichen Offenbarung: das Buch der Heiligen Schrift und das Buch der Natur Galileo Galilei zwischen Mittelalter und Neuzeit Carl Friedrich von Weizsäcker: Die Kirche seiner Zeit war nicht mehr mittelalterlich. [... ] die römische Kirche des frühen 17. Jahrhunderts sei schon so weit auf dem Weg zum totalitären Staat fortgeschritten gewesen, daß sie eine Freiheit des Denkens nicht mehr gestatten konnte, die in vielen Jahrhunderten des Mittelalters möglich gewesen wäre. 2 Die Verurteilung: Auf die gegen dich mehrfach erhobenen Einwände von der Heiligen Schrift her hast du geant- 1 Thomas von Aquin, In II. Sent., d. 2, q. 1,a. 3, ad 1. 2 Tragweite der Wissenschaft, Bd. 1: Schöpfung und Weltentstehung. Die Geschichte zweier Begriffe (Stuttgart, 1973), 113.

Wahrheit und Autoritäten 2 wortet, indem du die besagte Schrift gemäß deiner eigenen Meinung auslegtest. 3 Das Verhältnis von Autorität und Vernunft Johannes Scotus Eriugena: Eine Autorität kann der Vernunft nicht wirklich widersprechen. Und die Vernunft kann einer Autorität nicht wirklich widersprechen. 4 Entwicklung des Wortes Autorität [auctoritas] schriftliche Aussagen Umberto Eco, Der Name der Rose, S. 35 36: So war er, mein Herr und Meister. Er vermochte nicht nur im großen Buch der Natur zu lesen, sondern auch in der Art und Weise, wie die Mönche gemeinhin die Bücher der Schrift zu lesen und durch sie zu denken pflegten. [... ] So groß ist die Kraft der Wahrheit, daß sie wie die Schönheit sozusagen von selber um sich greift. Und gelobt sein der Name unseres Herrn Jesus Christus für diese schöne Erkenntnis! Mit anderen Worten: Denker nehmen die Gestalt von sententiae, d. h. Lehrmeinungen in kurzer schriftlicher Form, an, und diese Sätze werden sowohl von den Absichten ihres Urhebers getrennt als auch aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst. Die wissenschaftliche Bedeutung eines Textes ist für die Scholastik die realitätsbezogene Bedeutung, 5 sie ist nicht mit der Absicht des menschlichen Autors identisch. Denn man wollte nicht wissen wie Thomas von Aquin bemerkt, was Menschen gedacht haben, sondern vielmehr wie es mit der Wahrheit der Realitäten [veritas rerum] bestellt ist 6. 3 G. Galilei, Opere. Ed. Nazionale cura et labore A. Favaro (Florenz, 1929 1939), 19, 403. 4 De divinis naturis, I, 66. Nil enim aliud videtur mihi esse vera auctoritas, nisi rationis viertute reperta veritas. Johannes Scotus Erriugena, Perphyseon, I, 69; 198,7 (Sheldon-Williams) [in der neuen krit. Ausgabe von É. A. Jeauneau, 1996ff: I, 3056 58] 5 Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, I, Frage 1, Artikel 10, corpus: voces significant res. 6 Thomas von Aquin, In De caelo et mundo, I, cap. 10, lectio 22.

Wahrheit und Autoritäten 3 Thomas von Aquin: Ist das Firmament am zweiten Tage geschaffen worden? Wie Augustinus lehrt, sind in solchen Fragen zwei Dinge zu beachten: Erstens muß die Wahrheit der Schrift [veritas Scripturae; nicht: der wahre Sinn der Hl. Schrift, wie die Deutsche Thomas-Ausgabe zwar modern, d. h. konkret, aber ganz falsch übersetzt Thomas verwendet die Abstraktion die Wahrheit ] unerschüttert gewahrt werden [inconcusse teneatur]. Zweitens: Da die Hl. Schrift sich vielfältig auslegen läßt, soll niemand einer bestimmten Auslegung so fest anhängen, daß er, wenn mit einem sicheren Vernunftargument [certa ratione] festgestellt wird, daß diese Auslegung falsch sei, es trotzdem wagt, sie zu vertreten. Dann sonst könnte es sein, daß die Hl. Schrift deswegen von den Ungläubigen verlacht und ihnen der Weg zum Glauben dadurch versperrt werde. Man muß also wissen, daß der Satz Das Firmament ist am zweiten Tage geschaffen worden, auf zweifache Weise verstanden werden kann. Einmal von dem Firmament, an dem die Sterne sich bewegen, und in dieser Hinsicht müssen wir unterschiedlich erklären, je nach den unterschiedlichen Auffassungen der Menschen über das Firmament.[... ] Man kann jedoch auch so erklären, daß unter dem Firmament, das nach der Schrift am zweiten Tage geschaffen wurde, nicht der Sternenhimmel verstanden wird, sondern jener Teil der Luft, in welchem die Wolken sich verdichten. Das heißt dann Firmament wegen der Dichtigkeit der Luft in diesem Raum. [... ] Und dieser Erklärung zufolge ergibt sich zu keiner Auffassung ein Widerspruch. 7 Fromme bzw. respektvolle Auslegung [pia bzw. reverentia interpretatio]. 8 Roger Bacon: Die heutigentags in den offiziellen Studienanstalten eingesetzten katholischen Lehrer haben in aller Öffentlichkeit vieles geändert an dem, was die Heiligen gesagt haben, indem sie diese unter Aufrechterhaltung der Wahrheit [salva veritate], soweit sie können, behutsam auslegen. 9 Ja, wir sind Zwerge, nickte William, aber Zwerge, die auf den Schultern der Riesen von einst sitzen, und so können wir trotz unserer Kleinheit manchmal weiter sehen als sie. (Name der Rose, 114) Alanus ab Insulis ( 1202): Eine Autorität hat eine Nase aus Wachs, d. h. man kann sie in verschiedener Richtung 7 Summa theologiae, I, q. 68, a. 1c. 8 Vgl. Thomas von Aquin, In II. Sent., d. 2, q. 1, a. 3, ad 1. 9 Opus maius, I, 6.

Wahrheit und Autoritäten 4 biegen. 10 «Jeder Autoritäts-Text ist eine Hure, die bald im Sinne des einen Anliegens, bald im Sinne des anderen ausgelegt wurde.» (Adelard von Bath (12. Jh), Questiones naturales, 6.) «Die heilige geschrift ist wie ein wachseni nas, man bügt es war man wil.» 11 Die buchstäbliche, historische Bedeutung: Thomas von Aquin: Nun bezeichnet man aber das, was der Autor bei seinen Worten im Sinne hat, als den Literalsinn. Urheber der Hl. Schrift aber ist Gott, der in seiner Erkenntnis alles zumal begreift. Also ist es (nach Augustinus) ganz angemessen, wenn auch nach dem Literalsinn derselbe Schrifttext mehrere Bedeutungen hat. 12 Thomas von Aquin: Es gehört zu der Erhabenheit der Hl. Schrift, daß sie viele Bedeutungen unter einem Buchstaben enthält, so daß sie mit verschiedenen Meinungen harmonisiert, was dazu führt, daß jeder erstaunt ist, diejenige Wahrheit in der Schrift zu finden, die er in seiner eigenen Vernunft denkt. Und deshalb ist es leicht, die Schrift gegen Ungläubige zu verteidigen: Erscheint eine Bedeutung, die man in der Schrift erkennen will, als falsch, so kann man auf eine andere Bedeutung des Textes zurückgreifen. 13 Wenn die Ausleger der Hl. Schrift eine Wahrheit dem Wortlaut anpassen, die der [menschliche] Autor nicht gedacht hat, kann kein Zweifel bestehen, daß der Hl. Geist sie gedacht hat, und er ist der primäre Autor der Hl. Schrift. Jede Wahrheit also, die unter Aufrechterhaltung der Beschaffenheit des Wortlauts der Hl. Schrift angepaßt werden kann, ist ihre Bedeutung. 14 10 De fide catholica, I, 30. 11 Geiler von Kaisersberg (Ende des 15. Jh.s), zitiert nach Charles Schmidt, Histoire littéraire de l Alsace à la fin du Xve siècle (1879), I, 423. 12 Thomas von Aquin, De potentia, q. 4, a. 1c. 13 Ebd. 14 Ebd.

Wahrheit und Autoritäten 5 Thomas von Aquin: Von wem auch immer gesagt, jede Wahrheit kommt vom Heiligen Geist. 15 Meister Eckhart: Da also die Literalbedeutung die ist, die der Autor der Schrift meint, der Autor der Heiligen Schrift aber Gott ist wie [bei Thomas] gesagt worden ist, so ist jedwede Bedeutung, die wahr ist, eine Literalbedeutung. Denn es steht fest, daß jede einzelne Wahrheit [omne verum] aus der Wahrheit selbst [ab ipsa veritate] stammt, in ihr einbeschlossen ist, sich von ihr ableitet und von ihr gemeint ist. 16 Die Glaubenslehre als eine gemeinsame Sprache des vielfältigen theologischen Denkens U. Eco, Der Name der Rose, 404 406: Bücher sind nicht dazu da, daß man ihnen blind vertraut, sondern daß man sie einer Prüfung unterzieht. Wenn wir ein Buch zur Hand nehmen, dürfen wir uns nicht fragen, was es besagt, sondern was es besagen will ein Gedanke, der für die alten Kommentatoren der Heiligen Schrift ganz selbstverständlich war. Das Einhorn, wie es in diesen Büchern hier dargestellt wird, enthält eine moralische oder allegorische oder symbolische Wahrheit, die ebenso wahr bleibt wie der Gedanke, daß Keuschheit eine edle Tugend ist. Was aber die buchstäbliche Wahrheit betrifft, über der die drei anderen Wahrheiten sich erheben, so bleibt zu prüfen, aus welcher primären Erfahrung der Buchstabe, also der vorgefundene Wortlaut entstanden ist. Der Buchstabe muß diskutiert werden, auch wenn der höhere Sinn bestehen bleibt. In einem alten Buch steht zum Beispiel geschrieben, Diamanten ließen sich nur mit Ziegenblut schneiden. Doch mein großer Lehrer Roger Bacon hat das für unwahr erklärt, einfach weil er es ausprobiert hatte und gescheitert war. Hätte jedoch die Beziehung zwischen Diamanten und Ziegenblut einen höheren Sinn gehabt, so würde dieser bestehen bleiben. Also kann man höhere Wahrheiten aussprechen, selbst wenn man dem Buchstaben nach lügt, sagte ich. [... ] Also muß man beim Lesen von Büchern auf den Glauben verzichten, der doch eine theologale Tugend ist Immerhin bleiben einem dabei noch zwei andere theologale Tugenden: die Hoffnung, daß eines Tages das Mögliche wirklich 15 Summa theologiae, q. 109, a. 1, ad 1: Omne verum a quocumque dicatur a Spiritu Sancto est. Zitiert von Johannes Paul II., Fides et ratio, N. 44. 16 Liber parab. Gen., n. 2 (LW I, 449).

Wahrheit und Autoritäten 6 werde, und die Barmherzigkeit gegenüber denen, die das Mögliche guten Glaubens für wirklich hielten. Und was nützt Euch das Einhorn, wenn Euer Verstand nicht daran glauben kann Es nützt mir, wie mir die Spur der Füße des toten Venantius im Schnee genützt hat, als sie mir verriet, daß ihn jemand zum Schweineblutbottich geschleppt haben mußte. Das Einhorn der Bücher ist wie eine Fußspur oder ein Abdruck im Schnee. Wenn ein Abdruck da ist, muß es etwas gegeben haben, das ihn gemacht hat. Aber das anders ist als der Abdruck, wollt Ihr doch sagen. Gewiß. Nicht immer hat ein Abdruck die gleiche Form wie der Körper, der ihn gemacht hat, und nicht immer entsteht er durch das Gewicht eines Körpers. Manchmal reproduziert er nur den Eindruck, den ein Körper in unserem Geist hinterlassen hat, dann ist er der Abdruck einer Idee. Die Idee ist ein Zeichen der Dinge, und das Bild ist ein Zeichen der Idee, also das Zeichen eines Zeichens. Aber aus dem Bild rekonstruiere ich, wenn nicht den Körper, so doch die Idee, die andere von ihm hatten. Und das genügt Euch? Nein, denn die wahre Wissenschaft darf sich nicht mit Ideen begnügen, die eben nur Zeichen sind, sondern muß die Dinge in ihrer einzigartigen Wahrheit zu fassen suchen. Und darum würde ich gern von diesem Abdruck eines Abdruckes immer weiter zurückgehen bis zu jenem leibhaftigen Einhorn, das am Anfang der Kette steht. Ebensogern, wie ich von den vagen Zeichen, die Venantius Mörder im Schnee hinterlassen hat (und die auf viele Personen hindeuten könnten), zurückgehen würde bis zu jener einen Person, die der wirkliche Mörder ist. Aber das läßt sich nicht immer in kurzer Zeit bewerkstelligen und bedarf oft der Vermittlung durch andere Zeichen. Also kann ich immer nur von etwas sprechen, das von etwas anderem spricht und so weiter, während das letzte Etwas, das wahre, niemals da ist Vielleicht ist es da, es ist das leibhaftige Einhorn. Und sei unbesorgt, eines Tages wirst du ihm begegenen, wie häßlich und schwarz es dann auch sein mag... Ob die Hl. Schrift unter einem Buchstaben mehrere Bedeutungen hat Summa theologiae, I, q. 1, a. 10 1. Argument: Man unterscheidet in der Hl. Schrift gewöhnlich den historischen oder buchstäblichen Sinn, den allegorischen, den tropologischen oder moralischen und endlich den anagogischen Sinn. Dieser vielfache Sinn der Hl. Schrift muß aber Verwirrung anrichten und den Leser irreführen, und er hebt die Sicherheit des Argumentieren auf [tollit arguendi firmitatem]. Denn auf diese Art läßt sich aus vielen Sätzen der Hl. Schrift gar nichts beweisen, sondern es ist höchstens Anlaß zu Trugschlüssen gegeben. Die Hl. Schrift aber muß mit letzter Zuverlässigkeit die Wahrheit zeigen können, ohne alle Gefahr der Täuschung. Also kann mit derselben Schriftstelle kein mehrfacher Sinn verbunden sein.

Wahrheit und Autoritäten 7 2. Argument: Augustinus sagt: Das Alte Testament wird in vierfacher Weise überliefert: nach dem Historischen, dem Aitiologischen, dem Analogischen und dem Allegorischen. Diese vier stimmen aber nicht zusammen mit den oben genannten. Also kann mit demselben Text kein mehrfacher Sinn verbunden sein. 3. Argument: Außerdem gibt es noch eine andere Art der Auslegung, nämlich die nach dem parabolischen Sinn. Auch dieser ist unter den vier genannten nicht enthalten. ANDERSEITS schreibt Gregorius: Die Hl. Schrift übertrifft schon durch die Eigenart ihrer Sprache alle Wissenschaften. Denn wo sie Geschichte erzählt, offenbart sie zugleich ein Mysterium. ANTWORT: Urheber [auctor] der Hl. Schrift ist Gott. In Gottes Macht aber liegt es, zur Bezeichnung und Kundgebung von etwas nicht nur Worte zu verwenden das kann auch der Mensch, sondern die Dinge selbst. Wenn also schon in allen Wissenschaften die Worte ihren bestimmten Sinn haben, so hat unsere Wissenschaft das Eigentümliche, daß die durch die Worte bezeichneten Dinge selbst wieder etwas bezeichnen. Die erste Bedeutung also, nach der die Worte die Dinge bedeuten, wird wiedergegeben durch den ersten Sinn, nämlich den historischen bzw. buchstäblichen. Die andere Bedeutung aber, wo die durch die Worte bezeichneten Dinge selbst wieder andere Dinge bezeichnen, wird wiedergegeben durch den sensus spiritualis, den geistigen Sinn. Und zwar gründet der geistige Sinn im Literalsinn und setzt diesen voraus. Dieser geistige Sinn wird dreifach eingeteilt. Wie nämlich das Alte Gesetz (nach Hebr. 7,19) ein Vorbild des Neuen ist und das Neue Gesetz selbst (nach Dionysius) ein Vorbild der zukünftigen Herrlichkeit, so ist auch im Neuen Gesetz das, was am Haupte [Christus] geschehen ist, Zeichen und Vorbild dessen, was wir [die Glieder] tun sollen. Soweit also die Geschehnisse des Alten Testamentes die des Neuen vorbilden, haben wir den allegorischen Sinn; soweit das, was an Christus selbst oder an seinen Vorbildern geschah, zum Vorbild und Zeichen für unser eigenes Handeln wird, haben wir den moralischen Sinn; soweit es aber das vorbildet, was in der ewigen Herrlichkeit sein wird, haben wir den anagogischen Sinn. Nun bezeichnet man aber das, was der Autor bei seinen Worten im Sinne hat, als den Literalsinn. Urheber der Hl. Schrift aber ist Gott, der in seiner Erkenntnis alles zumal begreift. Also ist es (nach Augustinus) ganz angemessen, wenn auch nach dem Literalsinn derselbe Schrifttext mehrere Bedeutungen hat. ZU 1: Die Vielzahl dieser Bedeutungen ist weder Anlaß zu einer falschen Mehrdeutigkeit [aequivocationem] noch zu irgendeiner andern unerwünschten Wirkung von Vielheit. Denn dieser mehrfache Sinn entsteht, wie aus dem Gesagten hervorgeht, nicht dadurch, daß dasselbe Wort die verschiedensten Bedeutungen hat, sondern dadurch, daß die durch die Worte bezeichneten Dinge selbst wieder Zeichen und Sinnbilder sein können für andere Dinge. Also kann daraus gar keine Verwirrung folgen, da jeder mögliche Sinn in einem einzigen gründet, nämlich im Literalsinn. Und nur der Literalsinn kann zur Grundlage des Beweises genommen werden, nicht aber etwas der allegorische, wie schon Augustinus gegen den Donatisten Vinzentius bemerkt. Das tut der Hl. Schrift in keiner Weise Eintrag, weil unter dem geisti-

Wahrheit und Autoritäten 8 gen Sinn keine einzige glaubensnotwendige Wahrheit enthalten ist, die nicht anderswo in der Hl. Schrift im Literalsinn klar und deutlich überliefert würde. ZU 2: Das Historische, das Aitiologische und das Analogische gehören zu ein und demselben Literalsinn. Und zwar ist das Historische (nach Augustinus) dort gegeben, wo etwas erzählt wird; das Aitiologische, wo eine Begründung beigefügt, wird so gibt der Herr selbst bei Matthäus 19,8 den Grund an, weshalb Moses den Juden erlaubt habe, die Gattin zu entlassen, nämlich wegen ihrer Herzenshärte ; das Analogische aber ist dann gegeben, wenn nachgewiesen wird, daß die eine Schriftstelle der andern nicht widerspricht. Unter jenen vier aber vertritt allein die Allegorie den oben genannten geistigen Sinn in seiner dreifachen Bedeutung. So begreift auch Hugo von St. Viktor unter dem allegorischen Sinn ebenfalls den anagogischen und erwähnt infolgedessen im 3. Buch seiner Sentenzen einen nur dreifach verschiedenen Sinn: den historischen, den allegorischen und den tropologischen. ZU 3: Der parabolische Sinn ist ebenfalls unter dem Literalsinn enthalten. Denn durch die Worte kann etwas in doppelter Weise bezeichnet werden: im eigentlichen und im übertragenen, bildlichen Sinne. Und doch liegt der Literalsinn dann nicht etwa im Bilde selbst, sondern in dem, was durch das Bild versinnbildet werden soll. Wenn z. B. die Hl. Schrift vom Arme Gottes spricht, so will der Literalsinn nicht etwa besagen, daß wir bei Gott wirklich ein derartiges leibliches Glied annehmen müssen, sondern er bezeichnet nur das, was durch dieses Glied versinnbildet wird, nämlich die Kraft Gottes. So kann also unter dem Literalsinn der Hl. Schrift niemals etwas Falsches enthalten sein.