Stefan Zweig Amerigo Die Geschichte eines historischen Irrtums Anaconda
Der Text folgt der Erstausgabe Stockholm: Bermann-Fischer 1944. Orthografie und Interpunktion wurden auf neue Rechtschreibung umgestellt. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2018 Anaconda Verlag GmbH, Köln Alle Rechte vorbehalten. Umschlagmotiv: Amerigo Vespucci navigating by the stars on his 3rd voyage (colour litho), French School / Private Collection / Archives Charmet / Bridgeman Images Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de Satz und Layout: www.paque.de Printed in Czech Republic 2018 ISBN 978-3-7306-0604-9 www.anacondaverlag.de info@anacondaverlag.de
Amerigo Nach welchem Manne ist Amerika»Amerika«benannt? Diese Frage beantwortet schon jedes Schulkind stramm und unbedenklich: nach Amerigo Vespucci. Aber die zweite Frage wird selbst die Erwachsenen schon zögernder und unsicherer finden, die Frage: Warum eigentlich wurde dieser Weltteil gerade auf Amerigo Vespuccis Vornamen getauft? Weil Vespucci Amerika entdeckte? Er hat es niemals entdeckt! Oder vielleicht, weil er als Erster statt bloß der vorgelegenen Inseln das eigentliche Festland betreten? Auch deshalb nicht, denn nicht Vespucci hat als Erster den Kontinent betreten, sondern Columbus und Sebastian Cabot. Also dann vielleicht, weil er trügerisch behauptet hat, als Erster hier gelandet zu sein? Vespucci hat nie diesen Rechtstitel bei irgendeiner Instanz angemeldet. Oder weil er als Gelehrter und Kartograf diesen seinen Namen für dieses Land ehrgeizig 5
vorgeschlagen? Nein, auch dies hat er niemals getan und wahrscheinlich zeit seines Lebens nie von dieser Namensgebung erfahren. Aber warum, wenn er nichts von all dem geleistet, warum fiel gerade ihm die Ehre zu, seinen Namen für alle Zeiten zu verewigen? Warum heißt dann Amerika nicht Columbia, sondern Amerika? Wie dies kam, ist ein richtiger Rattenkönig von Zufällen, Irrtümern und Missverständnissen, diese Geschichte eines Mannes, der auf Grund einer Reise, die er nie gemacht hat und die gemacht zu haben er selbst nie behauptet hat, den ungeheuren Ruhm erbeutete, seinen Vornamen zum Namen des vierten Weltteils unserer Erde zu erheben. Seit vier Jahrhunderten verwundert und verärgert diese Namensgebung die Welt. Immer wieder wird Amerigo Vespucci beschuldigt, durch unlautere und dunkle Machinationen diese Ehre sich heimtückisch erschlichen zu haben; und vor immer neuen gelehrten Instanzen ist dieser Prozess wegen»betrugs auf Grund Vorspiegelung falscher Tatsachen«abgehandelt worden. Die einen haben Vespucci freigesprochen, die andern ihn zu ewiger Schande verurteilt, und je apodiktischer seine Verteidiger ihn für unschuldig erklärten, um so leidenschaftlicher haben seine Gegner ihn der Lüge, der Fälschung und des Diebstahls bezich- 6
tigt. Heute füllen diese Polemiken mit allen ihren Hypothesen und Beweisen und Gegenbeweisen schon eine ganze Bibliothek; den einen gilt der Taufpate Amerikas als amplificator mundi, als einer der großen Erweiterer unserer Welt, als Entdecker, als Seefahrer, als Gelehrter hohen Ranges, den andern als der frechste Betrüger und Gaukler in der Geschichte der Erdkunde. Auf welcher Seite liegt die Wahrheit oder sagen wir vorsichtiger: die äußerste Wahrscheinlichkeit? Nun ist der Fall Vespucci heute längst kein fachgeografisches und kein philologisches Problem mehr. Es ist ein Denkspiel, an dem jeder Neugierige sich versuchen kann, und überdies ein leicht übersehbares Spiel, weil ein Spiel mit wenigen Steinen, denn das ganze uns bekannte literarische Opus Vespuccis umfasst mit allen Dokumenten in summa vierzig bis fünfzig Seiten. So schien es auch mir verstattet, hier die Figuren noch einmal aufzustellen und die berühmte Meisterpartie der Geschichte mit allen ihren überraschenden und ihren Fehlzügen Zug um Zug noch einmal durchzuspielen. Die einzige Forderung geografischer Art, die meine Darstellung an den Leser stellt, ist: alles, was er an Geografie dank unserer kompletten Atlan- 7
ten weiß, zu vergessen und von seiner inneren Landkarte Form, Gestalt, ja Vorhandensein Amerikas zunächst einmal gänzlich auszulöschen. Nur wer vermag, sich das Dunkel, die Ungewissheit jenes Jahrhunderts in die Seele zu senken, kann die Überraschung, den Enthusiasmus jener Generation nachfühlen, als die ersten Konturen einer ungeahnten Erde aus dem bisher Uferlosen sich abzuzeichnen begannen. Wo aber die Menschheit etwas Neues erkennt, will sie es benennen. Wo sie Begeisterung fühlt, will sie ihre Lust in einem Jubelruf sich von den Lippen schwingen. So war es ein Glückstag, als der Wind des Zufalls ihr plötzlich einen Namen entgegenwarf; und ohne nach Recht oder Unrecht zu fragen, nahm sie ungeduldig das klingende, schwingende Wort und grüßte ihre neue Welt mit dem neuen, mit ihrem ewigen Namen Amerika. 8
Die historische Situation Anno 1000. Ein schwerer, dumpfer Schlaf liegt über der abendländischen Welt. Die Augen sind zu müde, um wachend um sich zu schauen, die Sinne zu erschöpft, neugierig sich zu regen. Der Geist der Menschheit ist gelähmt wie nach einer tödlichen Krankheit, sie will nichts mehr wissen von ihrer Welt. Und noch sonderbarer: Selbst was sie vordem wusste, hat sie auf unbegreifliche Weise vergessen. Man hat verlernt zu lesen, zu schreiben, zu rechnen, sogar die Könige und Kaiser des Abendlandes sind nicht mehr imstande, ihren eigenen Namen unter ein Pergament zu setzen. Die Wissenschaften sind zu theologischen Mumien erstarrt, die irdische Hand ist nicht mehr fähig, in Zeichnung und Plastik den eigenen Körper nachzubilden. Über allen Horizonten liegt gleichsam ein undurchdringlicher Nebel. Man reist nicht mehr, man weiß nichts von fremden Ländern; man verschanzt sich in Burgen und Städten gegen die wilden Völker, die immer und immer wieder 9