An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Sein Verstand arbeitete wieder und verlangte nach Betäubung. Alex rutschte auf Händen und Knien aus dem Bett und suchte auf dem dicken, feudalen, hässlichen Teppich umher. Vor Anstrengung pochte ihm der Schädel, und es wurde ihm schwindelig. Doch daran war Alex gewöhnt, und er gab nicht auf. Die Fernbedienung des TV war zusammen mit den ganzen anderen schlauen Kinkerlitzchen für leblose Gegenstände auf einen zusammenbrechenden Haufen mexikanischer, auf True Crimes beruhender fotonovelas gefallen. Alex fiel auf, dass die Bettfedern nach drei Wochen ununterbrochener Feuchtigkeit angefangen hatten, sanft, aber beharrlich zu rosten. Alex kniete sich hin und schob sich, seine Beute umklammernd, mit arthritischer Langsamkeit wieder unter die Laken. Er
wartete, bis sich sein Atem wieder beruhigt hatte, schnäuzte sich und platzierte die beiden kalten Tropfen medizinischer Kochsalzlösung sorgfältig auf die Augäpfel, dann durchkämmte er mit minimalen Daumenbewegungen das Angebot des Kabelprogramms der Klinik. Sentimentale mexikanische Melodramen. Eine Quizsendung. Kids, in einer gewaltigen unterirdischen Mall auf der Jagd nach Robotsauriern. Die unvermeidliche thailändische Popmusik. Und ein paar englischsprachige Plaudernachrichten. Spanische Plaudernachrichten. Japanische Plaudernachrichten. Alex, geboren im Jahr 2010, hatte im Laufe seines einundzwanzigjährigen Lebens erlebt, wie die Nachrichten immer überdrehter und fröhlicher geworden waren. Mittlerweile
hatte er Hunderte blutgetränkter Filmstunden über sich ergehen lassen: Epidemien, Massensterben, verzweifelte Aufstände, die grauenhaft verstümmelten Opfer von Militäreinsätzen, alles vor dem beunruhigenden Hintergrund der bedrohlichen, unerbittlich voranschreitenden Umweltzerstörung. All das gab es dort draußen immer noch, so wie jeder Aspekt der modernen Realität irgendwo im Netz widergespiegelt wurde, doch heutzutage musste man mühsam danach suchen, und die Leute, die darüber redeten, gehörten nicht gerade zu den Wohlhabendsten. Irgendwann im Laufe der Entwicklung war das ganze globale Dorf in eine neurotische Verweigerungshaltung verfallen. Heute, als Erwachsener, fand Alex das gläserne Röhrensystem des Netzes vollgestopft mit Jet-Set-Heiraten und
niedlichen Hundegeschichten. Nassforsche Heroinen und Helden mit kantigen Kiefern wurden irgendwie immer noch schnell reich. Starlets gewannen bei Lotterien, und Lotteriegewinner wurden Starlets. Kleine Kinder, deren Köpfe in versiegelten Cyberspace-Helmen steckten, mimten freudige Überraschung und schwenkten angesichts der imposanten Halluzinationen ihre kleinen, behandschuhten Hände. Alex war eigentlich nie ein so großer Fan der aktuellen Strömungen gewesen, doch mittlerweile hatte er den Eindruck, die munteren Klugschwätzer mit den makellosen Zähnen seien die eigentliche Quelle allen Übels. Alex stieß auf ein mexikanisches Dokudrama über Ufos und blieb dabei hängen; auf spanisch hießen sie los OVNIS, und am 9 de mayo, 2031, war ein Großteil
der Einwohner Südamerikas offenbar von einem heftigen Anfall von ovnimanía befallen worden. Eine Zeitlang sickerte Alex' Leben träge aus ihm hinaus, während ihn der Bildschirm mit Bildern vollpumpte: mit gewaltigen nächtlichen Feuerbällen, Zwergen in Overalls aus Silberfolie, deren Köpfe an Löwenzahnblüten erinnerten, und mit einer Videoprophezeiung irgendeiner Jungfrau von Guadelupe samt eigener Internet-Adresse und gebührenfreier Telefonnummer Die Tagesschwester klopfte an die Tür und betrat eilig den Raum. Die Tagesschwester hieß Concepcíon. Sie war eine stämmige, nüchterne Frau in den Vierzigern, mit einer Vorliebe für Fettabsaugung, Facelifting und Brustvergrößerung.» Ya le hicieron la prueba de la sangre?«alex schaltete den Fernseher aus.»der