Frauke Ahlers - Waitz-von-Eschen-Str.14a, 61231 Bad Nauheim. Silas. Kapitel 1



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Transkript:

Silas Kapitel 1 Als sie die Tür hinter sich ins Schloss zog, atmete Elisabeth erleichtert auf. Das alte Leben lag hinter hier, ein neuer Abschnitt begann. Sie freute sich darauf. Das Haus war verkauft und ausgeräumt bis auf die wenigen Habseligkeiten, die neben ihr in dem Koffer zu ihren Füßen versammelt waren, ihr geschiedener Mann ausbezahlt, die Kinder zum Studium in München und Frankfurt. Sie hob den Koffer und ging leichten Schrittes zu ihrem Auto, das am Ende der Einfahrt geparkt war. In Mainz, ihrem ehemaligen Studienort, wartete, fix und fertig eingerichtet, eine hübsche, behagliche Eigentumswohnung auf sie. Dort wollte sie, mit dem Rest des Geldes aus dem Hausverkauf und einer kleinen Erbschaft von ihren Eltern, neu beginnen. Das finanzielle Polster hatte ihr erlaubt, die Arbeit bei der Zeitungsredaktion zu kündigen und den Schritt in die Unabhängigkeit von der Alltagsroutine zu wagen. Sie wollte nur noch Aufträge annehmen, die ihr Interesse weckten und im Übrigen ihren schriftstellerischen Ambitionen folgen. Mit einem kleinen Gedichtband hatte sie bereits Erfolg gehabt, warum sollten nicht weitere Veröffentlichungen folgen? Sie hatte Ideen, und nicht nur das, sie hatte das Gefühl, mit der Schriftstellerei endlich an der Verwirklichung ihres Lebenszieles angekommen zu sein. Sie öffnete die Rückklappe des Wagens, hievte den Koffer hinein und knallte die Klappe zu. Mochten die Nachbarn hinter den Gardinen liegen und sie beobachten, sie hatte keinem erzählt, wohin sie fuhr. Nur ihre Freunde wussten Bescheid. Sie öffnete die Pkw-Tür und setzte sich hinter das Steuerrad. Bevor sie startete, schaute sie noch einmal kurz in den Spiegel, nahm einen Lippenstift aus der Handtasche und zog ihre Lippen nach. Sie legte Wert auf ein gepflegtes Äußeres, denn es spiegelte ihrer Meinung nach die innere Verfassung wider, wie ein Mensch sich kleidete und gab. Außerdem gab die Sorgfalt für die eigene Person Halt in schweren Lebenslagen, hatte sie erfahren. Wer sich selbst nicht vernachlässigte, hatte Achtung vor sich selbst und ließ sich nicht gehen. Und genauso sorgsam, aufmerksam und liebevoll begegnete sie anderen Personen. Ganz im Gegenteil zu ihrem Exmann im übrigen, der alte Jeans und Hemden zu

tragen pflegte, die Haare nur schneiden ließ, wenn es unbedingt nötig war und sie eine sauertöpfische Miene aufsetzte ob seines Aussehens, und sich selten ein neues Bekleidungsstück gönnte. Kein Grund mehr für sie, sich zu ärgern. Sie ließ den Wagen an, ohne nochmals einen Blick auf das Haus zu werfen. Noch heute Nachmittag sollten die neuen Besitzer, die schon die Schlüssel erhalten hatten, einziehen. So war es abgemacht. Sie registrierte, während sie den Wagen steuerte und die Musik im Radio leise im Hintergrund dudelte, kaum die Landschaft, die an ihr vorbeiflog. Auf der Höhe von Ockstadt standen die Kirschbäume in voller Blüte ein Anblick, den sie immer geliebt hatte. Heute gönnte sie den zartrosa Blütenwolken zu ihrer Rechten nur einen flüchtigen Blick, sie hing ihren Gedanken nach, während sie sich immer mehr von Bad Nauheim entfernte. Die vergangenen Jahre waren nicht leicht gewesen. Zunächst die Trennung von ihrem Mann, die, wie er gehofft hatte, zu einem Neubeginn ihrer Ehe führen sollte. Diese Hoffnung hatte sich nicht erfüllt, sie hatte es ihm nicht von vornherein sagen wollen, um ihn nicht zu verletzten, doch es von Anfang an gewusst. Sie waren zu unterschiedlich er der Pessimist, der mit sorgenvollen Gedanken an die Zukunft durch das Leben ging, der kaum wagte, Geld auszugeben aus Angst, im Alter mittellos da zu stehen. Die Depression, die ihn immer wieder ergriff, verstärkte diese Lebenseinstellung noch und machte es unendlich schwierig, mit ihm umzugehen. Sie selbst war von Grund auf optimistisch, wenngleich nicht blauäugig. Sie war seit ihrer Jugendzeit gewohnt, für sich zu sorgen und sich um ihr finanzielles Auskommen zu kümmern. Auch schlechte Zeiten hatte sie überstanden. Warum sollte sie Angst haben? Angst bremste nur, Schwierigkeiten galt es, ins Auge zu schauen und sie zu meistern. Ihrer beider Zuneigung, und, was vielleicht noch schlimmer war, die Achtung ging verloren mit der Zeit. Sie konnten einer des anderen Lebenseinstellung nicht nachvollziehen, zogen sich vor einander zurück und suchten eigene Freundeskreise und Betätigungsfelder. Solange ihre beiden Jungen Daniel und Pascal noch kleiner waren, hatten sie kaum Zeit zum Nachdenken über ihr Miteinander, doch später brachen die Gräben immer mehr auf, bis ihr Mann vorschlug, in eine andere Wohnung zu ziehen und auf die Distanz wieder die Annäherung zu versuchen. Dies hatte sie ihm hoch angerechnet, doch war sie sicher

gewesen, dass es von ihrer Seite her den Abschied aus der Ehe bedeutete. Sie setzte ihr eigenständiges Leben fort, wie sie es während der seiner von Passivität gekennzeichneten Depressionsphasen gelernt hatte. Sie kümmerte sich um die Kinder, die zwischen ihr und ihrem Mann frei pendeln durften, so weit es möglich war, denn sie waren ihnen beiden sehr zugetan, sie besprachen, wenn es für die beiden etwas zu regeln gab, doch ansonsten ging sie ihrer eigenen Wege. Und so tat er es nach den ersten Versuchen, gemeinsam mit ihr etwas zu unternehmen, schließlich auch. Es hatte ihr weh getan, ihn leiden zu sehen, doch erinnerte sie sich auch daran, wie sehr sie gelitten hatte, als die Kinder noch klein waren, und er, ganz nach Gefallen, am Wochenende zu Unternehmungen aufbrach, die sie mit den Jungen nicht mitmachen konnte. Oder er hatte sich ins Büro verzogen, um angeblich dringende Arbeiten zu erledigen, während sie, von durchwachten Nächten todmüde, mit Windeln, Schnullern und Fläschchen hantierte. Später wollte er davon nichts mehr wissen, später, als Daniel und Pascal groß genug waren, um für ihn interessant zu sein, er sie auf Radtouren mitnehmen konnte oder in Ausstellungen. Ja, er war auch ein liebevoller Vater, aber da hatte ihre erste Ernüchterung schon eingesetzt. In all den Jahren hatte sie, zusätzlich zu Haushalts- und Kinderpflichten, halbtags gearbeitet und ihr Scherflein zu allen Ausgaben beigetragen, obgleich er mehr verdiente als sie. Immer mehr hatte sie die Wut darüber in sich hineingefressen, war schließlich, nach einer schweren Lungenentzündung erschöpft mit den Kindern zur Kur gefahren. Seit der Zeit, die er als Bruch betrachtet haben musste, als Versuch, verlassen zu werden, war ihr Mann permanent von größeren oder kleineren Krankheiten geplagt gewesen, die die Aufmerksamkeit der Umgebung absorbierten. Steife Gelenke, Schwindelgefühl, Nackenverspannungen, Gehbeschwerden, Sehstörungen die Liste war endlos. Sie hatte mehr und mehr das Gefühl, von ihm und der Sorge um seinen Malaisen aufgesogen zu werden, bis sie schließlich innerlich eine Grenze zog. Sie nahm nicht mehr teil an seinen Beschwerden und das war der Anfang vom Ende für ihre Beziehung. Sie erledigte ihre Haushaltspflichten für ihn, wusch, bügelte, kochte für ihn, doch die Gefühle blieben auf der Strecke. So hatten sie sich getrennt. Sie blieb in dem gemeinsamen Haus, bis die Jungen groß genug waren, um auf eigenen Beinen zu stehen. Da sie nun einen Neubeginn wünschte, hatten sie das Haus verkauft und sich jeder ihren Anteil genommen. Wolfgang wollte in Bad Nauheim bleiben, er hatte seit langen Jahren eine gute Stelle in einem örtlichen

Computerunternehmen, und er brauchte diese Sicherheit. Sie aber wollte aufbrechen zu neuen Ufern und dennoch, wenn sie es recht bedachte, war es ein Anknüpfen an die Vergangenheit. An eine Vergangenheit, an die sie schöne Erinnerungen hegte. In Mainz hatte sie unbeschwerte Studienjahre verbracht, dort wollte sie wieder beginnen, auch wenn sich nicht nahtlos an die Jugend anknüpfen ließ, geschweige denn, diese Jahre zurückholen. Sie war inzwischen bis zur Ausfahrt Mainz-Kastel gelangt und verließ die A 66, um auf die Bundesstraße nach Mainz einzubiegen. Als sie im Sonnenschein über die Rheinbrücke fuhr, die Silhouette von Landtag, Rheingoldhalle und Rathaus vor Augen, tat ihr Herz einen Hüpfer. Mainz, ich komme, dachte sie, über sich selbst und diese Plattitüde schmunzelnd. Ihre Eigentumswohnung lag in Mainz-Bretzenheim, und sie musste nicht lange suchen, um sie wieder zu finden. Zwar hatte sich einiges verändert in der Stadt in den vergangenen Jahren, doch kannte sie sich in den Hauptstraßen und Zufahrtswegen zwischen den Stadtteilen noch aus, so dass sie, ohne sich weiter zu verfahren, nach Bretzenheim gelangte. Ohnehin hatte sie ihr künftiges Domizil ja bei Besichtigung und Kauf schon gesehen. Auch, als die Umzugsfirma ihre Möbel und alles, was sie hatte behalten wollen, in die Wohnung brachte, war sie dabei gewesen, um das Appartement ein wenig herzurichten für den Tag, an dem sie endgültig herüberkommen wollte. Das lag jetzt zwei Wochen zurück. So bog sie am frühen Mittag in die Straße ein und ließ den Wagen nun langsam rollen. 29, 31, 33 da war es. In diesem Haus wollte sie ihr neues Leben beginnen. Sie stieg aus dem Wagen, ging auf die Beifahrerseite, öffnete die Tür dort und griff nach einer Tüte mit Lebensmitteln, die sie vorausschauend für das Wochenende gekauft hatte. Mit der Tüte in der Hand ging sie langsam auf das Haus zu. Sie schloss die Haustür auf, ließ den Aufzug links liegen und stieg raschen Schrittes zum zweiten Stock hoch. Niemand begegnete ihr im Treppenhaus, doch hatte sie ihre unmittelbare Nachbarin, ein ältere, der Kleidung nach gut situierte Dame, schon gesehen, als sie mit der Spedition da gewesen war. Sie hatten sich freundlich miteinander bekannt gemacht Frau Billinger hatte einen kleinen Terrier und war froh, dass

ihre neue Nachbarin offenbar allein stehend und ohne Kind war und somit keine Unruhe ins Haus zu bringen schien. Elisabeth trat durch die Tür in ihre Wohnung und freute sich wieder aufs Neue über die Helligkeit und Wärme, die sie vom ersten Moment an hier empfunden hatte. Der Boden war gefliest, doch im Winter sollte eine Fußbodenheizung für angenehme Temperaturen sorgen. Sie hatte einen großen Teppich in den Hauptraum gelegt, für das Schlafzimmer und den kleinen Raum, den sie als Büro und Schreibzimmer nutzen wollte, würde sie noch Teppiche suchen. Das wollte sie in Ruhe tun. Die Küche war komplett ausgestattet, die Bistromöbel aus ihrem ehemaligen Haus hatte sie mitgenommen. Das Bad war nicht groß, doch neu und gepflegt, Waschbecken und Dusche in einem hellen Anthrazit gehalten, die Fliesen hellgrau. Sie hatte noch nie im ihrem Leben ein neues Bad und eine neue Küche gehabt und freute sich sehr darüber. Sie spürte auf einmal Durst und etwas Hunger und bekam Lust auf einen kleinen Snack in der Küche. Sie holte ihre Einkaufstüte, die sie achtlos im Flur hatte stehen lassen und trug sie in die Küche. Ein Wasserkocher war vorhanden, den sie füllte, um sich ihren geliebten Ingwer-Zitronen-Tee zuzubereiten. Als sie die Tüte auspackte, fiel ihr eine saftige Mango in die Hände. Da der Tag recht warm war, traf das Obst genau ihren Geschmack. Überhaupt aß sie gern Obst, den Morgen begann sie seit Jahren mit einer Papaya und etwas Ananas. Sie hatte sich auch mit ein paar Zeitungen versorgt und während sie Tee trank und die Mango verspeiste Bio, wie sie es immer bevorzugte blätterte sie darin. Der Bürgerkrieg im Irak weitete sich aus, den Amerikanern gelang es nicht, für Ruhe und Ordnung zu sorgen genau, wie es zu Beginn des wie ironisch klang die Bezeichnung heute Blitzkrieges als Antwort auf den 11. September von Experten vorausgesagt worden war. Nein, damit wollte sie sich jetzt nicht auseinander setzen, lieber hinaus in den Sonnenschein, die Beine vertreten, die Gegend erkunden. Da sie gut zu Fuß war, schien es ihr sogar möglich, ohne Pkw bis in die Innenstadt zu gelangen. Sie wollte doch einmal schauen, ob das Haus in der Emmeranstraße, in dem sie als Studentin gewohnt hatte, noch stand. Heute Abend wollte sie ein paar Freunde anrufen, vielleicht ein paar Besuchstermine vereinbaren. Und in

den kommenden Tagen die Wohnung noch weiter einrichten, wo es notwendig war. Ihr fiel ein, dass sie den Koffer noch nicht aus dem Wagen geholte hatte, doch hatte dies alles jetzt Zeit, befand sie. Sie war gänzlich ohne Termindruck, für eine Weile wollte sie dies genießen. Als sie ihre Wohnungstür abschloss, hörte sie Schritte, und als sie aufblickte, sah sie Frau Billinger mit ihrem Hündchen heraufkommen. Guten Tag, sagte Elisabeth, nun bin ich tatsächlich hier. Das freut mich, antwortete die alte Dame. Kommen Sie doch in den nächsten Tagen einmal zum Tee zu mir, als Nachbarinnen wollen wir uns doch kennen lernen. Ja gern, herzlichen Dank, antwortete Elisabeth, jetzt werde ich mich erst mal draußen umsehen, das Wetter ist so schön. Ja, tun sie das, es ist wirklich herrlich, Kerry hat den Spaziergang auch genossen. Von eigenständigem Spazierengehen schien bei Kerry allerdings nicht weiter die Rede zu sein. Frau Billinger hatte ihn auf dem Arm und er lugte unter seiner überdimensionalen roten Schleife knopfäugig auf Elisabeth. Um nicht wieder von seinem spitzen Gekläff überrascht zu werden, wie es ihr schon einmal passiert war, wandte sich Elisabeth mit einem freundlichen Lächeln ab und ging rasch die Stufen hinunter. Sie trat aus der Haustür und empfand wohlig die Wärme der Nachmittagssonne. Zielstrebig und raschen Schrittes ging sie, nach einem kurzen Blick in den Stadtplan in Richtung Innenstadt. Sie ließ das Universitätsgelände links liegen den Kampus wollte sie später einmal besuchen und wandte sich die Anhöhe hinunter aufd en Bahnhof zu. Die Umgebung des Bahnhofs hatte sich sehr verändert, seit sie in Mainz studiert hatte, um das Bahnhofsgelände selbst führte ein Umgehungsweg. Doch Elisabeth fand sich noch gut zurecht, sie folgte der Straße, bis es nur noch wenige Schritte bis zu ihrer ehemaligen Studentenwohnung waren. Ihr Herz begann plötzlich zu klopfen, sie wusste kaum, warum, war es die Erinnerung an die schöne, unbeschwerte Zeit, die sie hier verbracht hatte? Oder nicht vielmehr auch die Erinnerung an die Personen, mit denen sie diese Zeit erlebt hatte? Sie stand nun vor der Emmeranstraße 4 das Herrenbekleidungsgeschäft existierte noch, das die Besitzer des Hauses damals betrieben hatten. Doch die Bäckerei links neben dem Seiteneingang gab es nicht mehr. Wie gut hatte es früh morgens immer

nach frischem Brot und Brötchen geduftet, wenn sie erwachte. Und wie oft war sie nachts von den betriebsamen Geräuschen der Backstube aufgewacht, bis sie sich daran gewöhnt hatte. Sie stand in Gedanken versunken da und folgte ihrer Erinnerung, die Bilder an eine schöne Zeit heraufbeschwor. Hey, sagte eine Stimme hinter ihr. Sie drehte sich überrascht herum, nicht gefasst darauf, als Unbekannte in dieser Stadt plötzlich angesprochen zu werden. Sie erkannte ihr Gegenüber sofort. Es war Silas, ein iranischer Freund aus Studentenjahren. Und anstatt erstaunt zu sein, ihn hier vor sich zu sehen, kam es ihr ganz selbstverständlich vor. Das war Silas, der sie immer angerufen hatte, der sie treffen wollte, der fröhliche Scherze für sie machte, um sie zum Lachen zu bringen. Mit Silas schien die Unbeschwertheit ihrer Jugend wieder vor ihr zu stehen. Sie waren sehr eng befreundet gewesen und auch wieder nicht. Sie hatte ihn, aus Gründen, sie sie damals nicht in ihrem Herzen erforschte, immer als feste Größe in ihrem Leben betrachtet, seit dem ersten Tag in der Skigymnastik, als er bei den Partnerübungen auf sie zusprang. Er wollte mit ihr trainieren, kam ihr unerhört nahe, sprach gleich davon, sich mit ihr verabreden zu wollen. Sie hielt Distanz, war zurückhaltend, sagte gleichwohl ein Treffen zu. So war es hin und her gegangen zwischen ihnen, mal ließ sie ihn bei einem verabredeten Date sitzen und kam einfach nicht, mal gingen sie essen, mal besuchte sie ihn im Studentenwohnheim. Als festen Freund betrachtete sie ihn nie, ja, sie schliefen auch miteinander, doch war sie, wenig lebenserfahren, nicht sicher, ob sie sich auf eine Beziehung zu einem ausländischen Freund einlassen wollte. Dann fuhr er mit seiner Biologiegruppe für sechs Wochen nach Thailand. Als er, ihrer Rechnung nach, zurückgekommen sein musste, hörte sie eine Weile nichts von ihm. Bis sie ihn schließlich, mit offenbar fester Freundin, in der Nähe des Bahnhofs traf. Und sie hatte ihm zur Rückkehr aus Thailand eröffnen wollen, dass sie ihn liebe. Sie musste heute schmunzeln in Erinnerung an diese Szene am Bahnhof. Hallo, das ist Beate, hatte er ihr die Andere vorgestellt, und sie hatte ganz gefasst und freundlich gegrüßt. Dann waren ihre Lebenswege auseinander gegangen, doch aus den Augen verloren hatten sie sich nie ganz. Sie arbeitete schon verheiratet mit Wolfgang - eine Weile für eine Tageszeitung in Idstein, und dort besuchte er sie. Er war inzwischen schon wieder geschieden von Beate, mit der er einen Sohn hatte. Es war in Idstein so vertraut mit ihm

wie immer. Er kam zur Tür herein, küsste sie, und alles war klar. Noch heute erstaunte sie die Selbstverständlichkeit, mit der sie immer miteinander umgegangen und auch ins Bett gestiegen waren. Dennoch hatte sie Wolfgang geheiratet und schließlich, sie hatte gedacht, sie müsste sich entscheiden, Silas angerufen und gesagt, sie könne ihn nicht mehr treffen. Als sie den Telefonhörer damals aufgelegt hatte, war ihr, das wusste sie noch wie heute, als müsse Silas sie sofort zurückrufen und diesen Schlussstrich rückgängig machen. Das Telefon rührte sich nicht. All die Jahre hatte sie das Gefühl gehabt, eines Tages müsste das Telefon klingeln und seine Stimme an ihrem Ohr zu hören sein: Hallo, hier ist Silas. Sie empfand mit den Jahren immer mehr, dass sie etwas Wichtiges in ihrem Leben verloren hatte. Nicht dies war der Grund für ihre Entfernung zu Wolfgang gewesen, denn Silas hatte immer außerhalb der Realität und dennoch als wunderschöne Beigabe in ihrem Leben existiert, doch verstärkte dieses Verlustgefühl sich mit den Jahren, je mehr sie sah, dass ihrer Ehe mit Wolfgang ein Ende beschieden war. Nun stand er also vor ihr, Silas. Hallo, was machst Du hier?, fragte er. Das frage ich Dich. Was mich betrifft, das lässt sich nicht so schnell erzählen. Ach, ich gehe immer mal hier vorbei, ich wohne noch in der Nähe von Mainz, weißt Du, und wenn ich durch die Stadt gehe, komme ich manchmal hier vorbei. Hast Du etwas Zeit, wollen wir uns irgendwo hinsetzen, einen Kaffe trinken? Ja, gut, einen Moment schon, willigte er ein. Während sie in Richtung Domplatz gingen, betrachtete sie ihn von der Seite. Silas hatte noch immer dies freundliche Gesicht, die markante Nase. Die Haare waren etwas lichter geworden, ein paar Falten waren hinzugekommen. Das interessierte nicht, war nicht wichtig. Was sie wissen wollte war, wie sein Leben verlaufen war. Sie setzten sich vor ein Cafe auf dem Domplatz und bestellten etwas zu trinken. Er lehnte sich zurück und sagte: Nun erzähl mal, was hast Du so lange gemacht? Auf Dich gewartet, sagte sie scherzhaft, doch im selben Moment, als sie es aussprach, war ihr schlagartig klar, dass es stimmte. Darauf, dass Du anrufst und sagst: Hey, hier ist Silas, wann sehen wir uns? Ach was, lachte er, und er kam ihr so lieb und vertraut vor wie früher. Erzähl mal ehrlich. Ich war 15 Jahre verheiratet, habe zwei Kinder bekommen, zwei Söhne,

die Jungen groß gezogen, bei einer Tageszeitung gearbeitet, und mich vor einigen Jahren von meinem Mann getrennt. Jetzt haben wir das Haus in Bad Nauheim, das uns noch gemeinsam gehörte, verkauft und uns den Erlös geteilt. Ich habe eine Eigentumswohnung in Bretzenheim gekauft, ich möchte hier neu beginnen. Heute ist übrigens mein erster richtiger Tag hier in Mainz. Ich bin vor ein paar Stunden erst angekommen. Und schon laufe ich Dir über den Weg, lachte er. Er hatte immer noch dieses schöne, herzliche Lachen, das sie immer an ihm geliebt hatte. Was für ein Zufall. Nein, Schicksal, sagte Elisabeth. Sie hatte das Gefühl, als müsste sie ihm gegenüber nun alles aussprechen, was sie ihm nie gesagt hatte und was ihr in all den Jahren durch den Kopf gegangen war. Sie war alt und selbstbewusst genug, daran keine Erwartungen zu knüpfen. Und, wie geht es Dir? Nun, ich war zum zweiten Mal verheiratet, aber die Ehe ist seit sechs Jahren geschieden. Ich habe einen Sohn von meiner ersten Frau, die in den USA lebt und eine Tochter. Sie wohnt hier, bei ihrer Mutter, aber am Wochenende kommt sie meistens zu mir. Sie ist jetzt zwölf. Heute hatte sie sich mit einer Freundin verabredet, ich hole sie nachher ab und nehme sie mit zu mir. Und warum habt Ihr Euch getrennt? Du bist doch so ein lieber Mensch, sagte Elisabeth. Sie hatte keinerlei Scheu, ihn offen zu fragen und ihm genauso offen Auskunft zu geben, sie fühlte sich ihm so nah, als hätte die Zeit sie auseinander gebracht. Weißt Du, sie ist viel jünger als ich, 17 Jahre. Wir hatten das Kind bekommen, und sie hatte eine Ausbildung als Kosmetikerin angefangen. Aber das reichte ihr nicht. Sie wollte sich abends amüsieren, mit ihren Freundinnen ausgehen, in die Disco. Ich habe ihr gesagt, sieh mal, Du hast doch viel mehr als die anderen, du bist viel weiter, Du hast eine Tochter, die Dich braucht. Aber das wollte sie nicht hören. Sie ist in die Disco gegangen, bis morgens um vier. Wenn das Kind nachts schrie, bin ich hin gegangen. Ich wusste noch, wie man mit Babys umgeht, aus meiner ersten Ehe. Ich habe die Kleine beruhigt, gewiegt, gefüttert, was Du so machst, wenn sie sich nachts melden. Schließlich hat meine Frau mich mit einem anderen Mann betrogen. Ich kam etwas früher als sonst nach Hause, schloss die Tür auf, ging ins Schlafzimmer, weil ich dort ihre Stimme hörte, da lag sie, in den Armen eines anderen Mannes, natürlich viel jünger als ich. Ich war so wütend, ich bin auf ihn losgegangen. Wir haben miteinander gekämpft, ich bin richtig aggressiv geworden. Sie hat

die Polizei geholt und mich auch noch als bösen Angreifer dargestellt. Danach bin ich ausgezogen, habe schließlich ein Haus in Budenheim gekauft. Ich habe meiner Tochter dort ein Zimmer eingerichtet, damit sie sich bei mir wohl fühlt. Zu Frauen habe ich kein Vertrauen mehr, ich möchte nie mehr eine feste Beziehung. Was ist schon eine feste Beziehung, wie willst Du das definieren, antwortete Elisabeth scheinbar leichthin, obwohl ihr seine Worte seltsamerweise, hatte sie ihn denn nicht immer gehen lasse? einen kleinen Stich versetzten. Außerdem bin ich eine Ausnahme, Du hast mich vorher gekannt. Und, setzte sie nach einem Augenblick des Nachdenkens hinzu. Ich glaube, ich will im Moment nichts weniger als eine feste Beziehung. Ich möchte nie mehr mit einem Mann so eng zusammen leben, wie es in der Ehe der Fall ist. Dass Du jedes Räuspern und jedes Zipperlein mitbekommst und alles auf Dich abgewälzt wird und als Frau immer nur allein zuständig für den Haushalt bist, wenn Du nicht um jede Mithilfe ausdrücklich bitten willst. Warum sprachen sie eigentlich über diese Thema, fragte sie sich erstaunt. Sie hatten sich doch gerade erst wieder getroffen. Sicher, sie waren einmal befreundet gewesen, doch Beziehung hatte man das nie nennen können, und würde man es wohl auch nie. Und dennoch, sie fühlte sich unwiderstehlich zu ihm hingezogen. Jetzt schaute Silas auf die Uhr. Du, ich muss los, meine Tochter abholen. Wir telefonieren miteinander, ja? Männer, die das sagen, rufen bestimmt nicht an, lachte sie. Wart mal ab, antwortete er, Gib mir doch Deine Nummer. Sie holte einen Stift aus ihrer Handtasche und notierte Adresse und Telefonnummer auf einen kleinen Block, den er ihr zuschob. Dann bat sie ihn, das Gleiche für sie zu tun. Ihr fiel die Arzneireklame einer bekannten Pharmafirma auf, die den Block zierte. Wie kommst Du denn an den Block, fragte sie, ganz die neugierige Journalistin. Ich arbeite da, als Pharmaberater, sagte er. Stimmt, davon hast Du ja damals gesprochen, als wir uns zuletzt trafen, dass Du in die Pharmaindustrie wolltest. Silas hatte, mit sehr guten Noten, Biologie studiert. Sie wusste noch, dass sie damals, als er von seinen Plänen erzählte, etwas skeptisch gewesen war. Aber offenbar hatte er gut Fuß gefasst im Job. Und, wie läuft s?, wollte sie wissen. Oh, jetzt ganz gut, aber ich war auch schon zwischendurch arbeitslos, weil meine alte Firma pleite gemacht hat. In der Zeit bin ich Taxi gefahren. Und Du, was arbeitest Du? Ich habe etwas

Geld auf der hohen Kante aus einer Erbschaft und dem Hausverkauf, deshalb will ich erst mal in Ruhe sondieren. Ich werde hier Kontakt zu den Tageszeitungen aufnehmen, aber die Alltagsroutine von früher möchte ich nicht mehr. Außerdem möchte ich ein bisschen Schriftstellern, Gedichte, Kurzgeschichten, wer weiß, vielleicht ein Roman, sie beendete den Satz nicht. Was war das, jetzt sprach sie beim ersten Wiedersehen schon über ihre ganz geheimen Pläne mit ihm? Silas rief die Kellnerin, um für sie beide zu zahlen. Elisabeth bedankte sich und meinte: Na, ich werde mich bei Gelegenheit revanchieren. Sie erhoben sich beide und standen sich plötzlich sehr nah gegenüber. Er beugte sich zu ihr, um sie leicht zu umarmen, und es schien Elisabeth nur selbstverständlich, dass ihre Lippen sich fanden zu einem ausgiebigen Kuss. Ihre Körper berührten sich, und sie vergaß, dass sie nicht allein mit ihm war. Seine Zunge tastete in ihrem Mund, und in ihr wurde Begehren wach. Es war lange her, dass ein Mann sie berührt hatte. Sie lösten sich vorsichtig voneinander und schauten sich in die Augen. Warum endet das immer so mit uns? fragte er. Weil Du zu mir gehörst, dachte Elisabeth, selbst etwas überrascht über ihre Gedanken und dennoch im tiefsten Innern erfreut, diese Wahrheit endlich zu erkennen. Sie hatte es gewusst in all den Jahren und endgültig bestätigt gefunden bei dieser ersten Wiederbegegnung mit ihm. Sein Lachen, seine Herzlichkeit, seine Anteilnahme, das Gespräch mit ihm hatten ihr gefehlt, das erkannte sie schlagartig. War sie darum intuitiv nach Mainz zurückgekehrt? Und warum, wenn nicht, weil er sie auch noch mochte, war er in der Straße ihrer ehemaligen Studentenwohnung herumgelaufen. Natürlich, es konnte alles Zufall sein, doch das dachte sie nicht. Wenn Du Dir etwas sehr wünschst, hatte einmal ein guter Freund zu ihr gesagt, dann trifft es auch zu, als sie mit ihm darüber sprach, dass sie nicht mehr mit ihrem Mann zusammen leben konnte und sich wünschte, die Verantwortung für ihn und seine Krankheiten abzugeben, Du musst nur fest genug daran glauben. Wenig später hatte Wolfgang ihr den Vorschlag gemacht auszuziehen. So war es zur Trennung von ihrem Mann gekommen, ohne dass sie den ersichtlichen Anstoß gegeben hatte. Ihre abweisende Haltung Wolfgang gegenüber hatte freilich auch dazu geführt, das wusste sie. So hingen Wünsche und Handlungen sicherlich zusammen, sagte sie sich. Silas strich ihr leicht mit der Hand übers Haar. Also, dann mach s mal gut, sagte er. Bis bald. Es sollte ein geflügeltes Wort zwischen ihnen

beiden werden, dieses bis bald, an das sie sich noch klammern würde, doch das ahnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Kapitel 2 Sie hatte gerade die Tür zu ihrer Wohnung aufgeschlossen, als das Telefon klingelte. Ihr erster Anruf in der neuen Wohnung, sie beeilte sich, etwas aufgeregt, um sich den Hörer zu angeln. Hey, hörte sie Silas Stimme. Ich wollte nur mal testen, ob die Nummer stimmt. Und, bist Du gut zurückgekommen? Ja, ich habe eine schönen Spaziergang gemacht, antwortete Elisabeth. Ihr Herz klopfte freudig. Und Du, hast Du Deine Tochter abgeholt? Ja, sie ist jetzt hier, wir essen gleich zusammen, ich habe gekocht. Was hast Du gemacht? Reis? Das konntest Du immer so gut. Und dazu? Er lachte. Ja, Reis stimmt, und Putenfleisch habe ich angebraten und eine schöne Sauce dazu. Und gebratene Aubergine. Klingt gut, obwohl ich kein Fleisch esse, aber ich weiß ja, dass Du gut kochst. Seit wann isst Du kein Fleisch? Überhaupt nicht? Er konnte es, wie die meisten Männer, kaum glauben. Och, schon seit langem. Irgendwann hat es mir nicht mehr geschmeckt. Und außerdem ist es Tierquälerei, in meinen Augen. Aber ich will niemanden bekehren, ich halte keine Vorträge dazu, das muss jeder für sich entscheiden, was und wie er isst. Sie dachte kurz an Wolfgang und ihre beiden Söhne. Anfangs hatten die beiden Jungen gern das gegessen, was er mochte weiches Toast statt Vollkornbrot, Fleisch. Doch Pascal, früher erklärter Fleischesser, war inzwischen gänzlich zum Vegetarier geworden, und auch Daniel musste nicht unbedingt jeden Tag eine Fleischmahlzeit haben. Er hatte schon immer Käse und ab und an Fisch gern gemocht. Ja, klar, sagte Silas jetzt in ihre Gedanken hinein. Also koche ich mal Aubergine und Reis für Dich. Klar, kannst Du machen, ich weiß ja, dass Du gut kochen kannst. Es muss aber nicht gleich Aubergine sein, das ist eigentlich nicht so das Gemüse, das ich mag. Oh, ich brate sie gern in Öl, dann schmeckt sie einfach hervorragend. Also, wann willst Du kommen? Dann lernst Du gleich meine neue Wohnung kennen. Wann passt es Dir denn, Deine Tochter ist doch am Wochenende immer da? Oh, Sonntag ist schon o.k. Ich kann meine Tochter zu ihrer Mutter bringen und dann zu Dir kommen. So gegen drei Uhr, ja, wir können zusammen Tee trinken. Vielleicht nächsten Sonntag, morgen Abend habe ich Besuch von einem

guten Freund. Ja, das passt mir gut, dann kaufe ich noch ein, was hier zum Kochen fehlt. Was trinkst Du denn gern? Wein oder eher Bier? Sie einigten sich auf Rotwein. Bis bald, sagte er. Bis bald, antwortete Elisabeth, und legte den Hörer ganz vorsichtig auf die Gabel. Sie hatte sich vorgenommen, gleich bei ihrer Ankunft einige alte Kontakte wieder zu beleben, denn sie wollte sich einen netten Freundeskreis aufbauen. Sie holte ihr kleines Notizbuch mit den Telefonnummern und blätterte darin, bis sie auf den Namen ihrer alten Freundin stieß, ihrer ersten richtigen Freundin, die sie damals in Mainz kennen gelernt hatte. Sie wohnte jetzt mit einem jüngeren Mann etwas außerhalb von Mainz; mal probieren, ob sie da ist, dachte Elisabeth. Sie wählte die Nummer, setzte sich mit dem Apparat in den kleinen cremefarbenen Sessel, den sie aus Bad Nauheim mitgebracht hatte und wartete darauf, dass jemand abhob. Faber, sagte ein leise Stimme etwas undeutlich. Hallo, Ria, sagte Elisabeth schwungvoll, ich bin s, Elisabeth. Wie geht es Dir? Ich bin nach Mainz umgezogen, wollen wir uns mal treffen? Sie hatte Ria lange nicht gesprochen, und wollte ihr in Ruhe alles erzählen, so, wie sie es früher immer gemacht hatten. Du bist in Mainz? Klar können wir uns treffen, nur wann? Am Wochenende kann ich schlecht, weißt Du, Ben spielt in einer Band, da sind wir immer unterwegs samstags und sonntags. Und Du musst ihm Händchen halten? Das dachte Elisabeth nur, fand allerdings auch, dass das früher gar nicht Rias Art gewesen war, sich so an einen Mann zu hängen. Sie hatten, obwohl sie auch damals einen Partner hatte, sich immer und gern ohne Freunde getroffen, um zu klönen, in der Disco abzutanzen oder auch zu joggen. Ria war die einzige Person, mit der Elisabeth jemals regelmäßig gelaufen war. Ansonsten lief sie lieber allein, mit ihren Gedanken und in ihrem Trott, wie sie sich gerade fühlte. Ja, sagte sie jetzt, es kann auch unter der Woche sein. Wann willst Du denn? Sie vereinbarten ein Treffen für den Dienstagabend. Elisabeth wollte Ria am Bahnhof abholen, denn Ria arbeitete in Frankfurt und benutzte stets die S-Bahn. Sie wollten dann in eine Kneipe gehen, die Elisabeth noch von früher kannte. Nach dem Gespräch spürte Elisabeth auf einmal Hunger. Schön wäre es, wenn Silas in der Zwischenzeit gekocht hätte, dachte sie. Da dies bedauerlicherweise nicht der Fall war, öffnete sie den Kühlschrank und holte Salat, Tomaten und Möhren heraus. Das Gemüse wollte sie zu einer

Rohkost verarbeiten. Dazu stand ihr der Sinn nach Hirse mit Sojabolognese. Ihr Blick fiel auf die Piccolo, die sie sich für diesen Abend mitgebracht hatte. Ja, warum nicht, sie wollte das Fläschchen öffnen und auf Silas trinken, auf sich und auf das Wiedersehen mit ihm. Es kribbelte in ihren Fingern, und unwiderstehlich angezogen näherte sie sich dem Telefon. Ihre Handtasche lag nicht weit davon. Sie fischte den Zettel heraus, auf dem Silas Nummer stand und wählte, noch bevor sie sich selbst davon abhalten konnte. Störe ich beim Essen? Nein, sagte er, offenbar kaum erstaunt, dass sie anrief. Ich wollte auch mal sehen, ob die Nummer stimmt, lachte sie. Außerdem habe ich gerade einen Sekt aufgemacht und trinke auf Dein Wohl. Möchtest Du ein Glas? Danke, ich trinke gerade ein Bier, aber ich stoße gern mit Dir an, antwortete Silas. Sie plauderten noch ein wenig, dann verabschiedeten sie sich voneinander, und Elisabeth legte auf mit einem seltsam erstaunten Glücksgefühl, wie schön es sein konnte, mit einem Mann leichthin zu reden. Sie hatte das lange nicht mehr so empfunden. An diesem Abend ging sie zufrieden und in Sektlaune ins Bett. Kurz bevor sie einschlief, fiel ihr der Koffer wieder ein, der immer noch unausgepackt im Auto wartete. Hat Zeit bis Morgen, dachte sie, gute Nacht, Silas. Kapitel 3 Am Sonntagmorgen wachte Elisabeth gegen halb sechs auf, wie es ihre Gewohnheit war. Sie hatte es schon als Kind geliebt, früh aufzustehen. Sie mochte den erwachenden Morgen, das Vogelgezwitscher und die ersten Sonnenstrahlen in ihrem Fenster. Auch im Winter fiel es ihr nicht schwer, sich früh zu erheben, immer hatte sie das Gefühl, der neue Tag warte auf sie und wolle von ihr erlebt werden. Auch so eine Sache, die sie immer von Wolfgang unterschieden hatte, dachte sie kurz. Was war er für ein Morgenmuffel gewesen. Nur der Verstand quälte ihn morgens aus dem Bett, mit einem großen Gähnen natürlich, das jedem, der zuhörte, den Schwung nehmen konnte. Dafür blieb er abends gern länger auf, was Elisabeth wiederum nicht mochte. Wir waren einfach zu unterschiedlich, dachte sie zum wiederholten Mal. Natürlich müssen beide Partner in einer ehe nicht total gleich sein und handeln, aber wenn der Lebensstil zu sehr auseinander klafft, ist es auch

nicht gut. Jeden Morgen joggte sie etwa 30 bis 45 Minuten auch das war ihr seit langem eine liebe Gewohnheit. Sie wollte nach ihren Laufsachen greifen, als ihr klar wurde, dass alles noch in dem Koffer im Auto steckte. Sie hatte gestern nur Waschutensilien und einen Schlafanzug benutzt, die schon in der Wohnung waren. So schlich sie sich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter zu ihrem Wagen, öffnete die Rückklappe und zerrte den Koffer heraus. Ihre Laufschuhe standen vorn, zu Füßen des Beifahrersitzes. Dort ließ sie sie stehen, denn sie wollte mit dem Auto nach Gonsenheim zum Joggen fahren, wo sie früher immer ihre runden gedreht hatte. Als sie auf dem letzten Treppenabsatz angekommen war und den Koffer kurz abstellte, um Luft zu holen, öffnete sich plötzlich die Tür zu Frau Billingers Wohnung. Guten Morgen, sagte Elisabeth rasch und möglichst unbefangen, obwohl es ihr schon etwas unangenehm war, von der alten Dame im Schlafanzug gesehen zu werden. Ich wollte gleich Laufen gehen und musste meinen Koffer mit den Sachen aus dem Auto holen. Guten Morgen, sie haben mich aber erschreckt, sagte Frau Billinger. Kerry hat gebellt, und ich dachte, es ist vielleicht ein Einbrecher im Haus unterwegs. Nein, keine Sorge, lachte Elisabeth, aber es ist gut, dass Kerry aufpasst. Sie wandte sich ihrer Haustür zu, und Frau Billinger verzog sich ebenfalls wieder hinter ihre Tür. Das konnte ja heiter werden, wenn die Nachbarin jeden ihrer Schritte verfolgte, dachte Elisabeth, aber mit der Neugier der Nachbarn musste sie wohl überall leben. Während sie sich die Laufsachen überstreifte, ließ sie Wasser in einem Handkocher heiß werden. Sie schüttete sich jeden Morgen ihren einzigen Kaffee des Tages selbst durch den Filter auf. So schmeckte der Kaffee einfach besser, als mit der Maschine. Sie genoss das heiße Getränk und fühlte sich danach fit für den Lauf in den Morgen. Sie fuhr mit dem Wagen zum Gonsenheimer Wald, wo sie auch früher immer gelaufen war. Den Weg dorthin wusste sie noch, und so stellte sie ihr Auto bald auf einem der Waldparkplätze ab. Sie entschied sich, die Zehn-Kilometer-Strecke zu joggen, die sie als gut markiert in Erinnerung hatte. Der Morgen war friedlich und schön, die Frühlingssonne war erwacht und fiel sanft durch die Bäume. Elisabeth begann leicht zu traben. Sie liebte diese ungestörten Genussläufe in den jungen Tag. Ihre Gedanken

flossen dahin, und sie musste schmunzeln, als sie an einen der wenigen Läufe gemeinsam mit Silas dachte. Eigentlich mochte sie es nicht, mit Männern zu joggen. Sie waren ihr meist zu ehrgeizig im Sport und brachten zu viel Tempo in die Sache Elisabeth aber wollte Spaß und Entspannung beim Lauf. Nun ja, Silas hatte sie damals jedenfalls überredet und war, mehr oder weniger angepasst an ihren Trott, neben ihr hergetrabt. Sie hatten sich natürlich verfranst, die Markierungen aus den Augen verloren und waren schließlich, nicht mehr joggend, nach stundenlangem Marsch wieder am Ausgangsort angekommen. Sie wollte ihn fragen, ob er sich auch noch daran erinnerte. Gut gelaunt kehrte Elisabeth in ihre Wohnung zurück. Sie duschte in Ruhe, zog sich etwas Bequemes an und bereitete ihr Frühstück zu. Ananas und Papaya, Ingwer-Zitronen-Tee und die Sonntagszeitung dazu, die sie auf dem Rückweg noch an einem Kiosk erstanden hatte. Ihr Blick fiel auf die Schlagzeilen Folterungen im Irak amerikanische und englische Soldaten hatten irakische Gefangene misshandelt. Sie missbilligte zutiefst, was sich im Irak tat. Da der Iran unmittelbar angrenzte, nahm sie sich vor, Silas über seine Meinung zur Lage dort zu befragen. Sie hatte es kaum gedacht, als das Telefon sich meldete. Sie freute sich unwillkürlich, als wüsste sie, wer es war. Ja, es stimmte, Silas am Apparat. Ich denke, du bist mit Deiner Tochter beschäftigt, sagte sie lachend. Ja, bin ich auch, wir haben gerade gefrühstückt, aber jetzt wollte ich Dir noch guten Morgen sagen. Das ist gut, mir ist auch noch etwas eingefallen. Möchtest Du Kuchen zum Tee? Ich könnte mich dazu herablassen, einen zu backen. Was magst du denn? Oh, ich mag Obstkuchen gern, Kirschen oder so. Also Kirschkuchen dann, die Bestellung ist angekommen. Elisabeth buk gern, und sie freute sich immer über Abnehmer. Sag mal, fielen ihr die Gedanken ihre Morgenlaufs wieder ein. Weißt Du noch, wie wir uns beim Joggen im Gonsenheimer Wald verlaufen haben? Ich war nämlich heute Morgen dort unterwegs, da musste ich daran denken, wie lange wir gebraucht haben, um aus diesen Wald wieder herauszukommen. Klar weiß ich das noch. Das hast Du damals extra gemacht, scherzte sie. Sicher, um Dich mürbe zu machen. Ich dachte, ich mache sie k.o. beim Laufen, dann folgt sie mir auch in anderen Dingen. Elisabeth lachte wieder und freute sich daran, wie leicht es immer noch war, mit ihm zu scherzen. Du, mal was Ernsteres, was hältst Du denn von der Entwicklung im Irak? Kannst Du Dir doch vorstellen. Die Amerikaner machen dort großen Mist, sagte er

sofort. Ich habe gelesen, dass terroristische Gruppen vom Iran aus versuchen, den Irak ins Chaos zu stürzen. Ist es im Iran jetzt nicht auch sehr gefährlich? Der Iran ist groß, meinte Silas. Sicher, ein Teil unserer Grenze stößt an den Irak, aber es ist nicht gefährlich bei uns. In zwei Wochen fliege ich übrigens hin, ich möchte meine Mutter besuchen und eine Rundreise mit meinem ältesten Bruder machen. Ich habe meine Mutter seit sechs Jahren nicht gesehen. Außerdem habe ich die Idee, für Ärzte, die ich kenne, eine exklusive Iranreise auszuarbeiten. Weißt Du, mit Orten, die Reisende sonst nicht unbedingt besuchen, mit schönen Hotels und so. Etwas Besonderes eben. Es haben mich schon einige Ärzte danach gefragt. Vielleicht kann ich mir etwas Geld damit dazu verdienen, die Raten für mein Haus sind hoch Dann pass aber gut auf, wenn Du dort bist, wo wohnt Deine Mutter denn? Elisabeth spürte, wie sie sich schon im voraus Sorgen machte. Sie mochte es nicht, wenn Menschen, die ihr nahe standen, so weit weg fuhren. Sie hasste das Abschied nehmen, obgleich sie selbst sehr gern verreiste. Um sich selbst machte sie sich auch niemals Sorgen, es wird schon gut gehen, war ihre Einstellung. Ja, sie wohnt an der Grenze zum Irak, aber so gefährlich ist es wirklich nicht, meinte Silas jetzt beruhigend. Wir kennen uns doch auch aus, mein Bruder ist einmal im Jahr im Iran. Er lebt mit seiner Frau in Kanada, aber er hat immer noch eine Wohnung in Teheran. Er ist auch manchmal beruflich dort. Er hat im Baugeschäft zu tun. Ich war so lange nicht im Iran, ich bin schon ganz gespannt darauf, meine Verwandten und Freunde wiederzusehen. Sie sprachen noch ein wenig über andere Dinge, dann verabschiedeten sie sich bis bald und Elisabeth legte nachdenklich auf. Wie nah er ihr war, jetzt machte sie sich schon Sorgen um ihn. Kurz entschlossen telefonierte sie auch noch mit ihren beiden Söhnen, die am Semesterbeginn standen. Daniel studierte Germanistik im Hauptfach, vielleicht wollte er einmal, wie seine Eltern, Journalist werden. Er schrieb gern und lange Briefe und Aufsätze und war jemand, der immer neugierig in die Welt wollte. Pascal dagegen war schon immer der Nachdenklichere von den beiden gewesen. Er hatte sich jetzt für Theologie entschieden. Ein anspruchsvolles Fach, doch er hatte immer sehr selbständig und zielstrebig in der Schule gearbeitet. Daniel hatte ein Zimmer in einer WG genommen, weil er gern Gesellschaft hatte, Pascal war fürs erste im

Studentenwohnheim untergekommen. Beide klangen wohlgemut und verspürten offenbar keinerlei Sehnsucht nach Bad Nauheim. Ab ins selbständige Leben, dachte Elisabeth, so ist es richtig. Sie war auch so gewesen, als sie in Mainz begann. Sie hatte sich auf ihr eigenständiges Dasein gefreut, als sie von daheim auszog. Jetzt fühlte sie sich wieder ähnlich: Ein neuer Lebensabschnitt hatte begonnen. Den Sonntag verbrachte sie lesend auf dem Balkon im Sonnenschein, sie genoss die Ruhe, gestattete es sich, Erinnerungen nachzuhängen und notierte das ein oder andere Vorhaben für die kommende Woche. Kapitel 4 Noch von Bad Nauheim aus hatte Elisabeth einen Termin mit der Mainzer Tageszeitung ausgemacht. Den Chefredakteur sollte sie am Montagmorgen um 10 Uhr treffen. Dieser schien morgens recht früh in die Gänge zu kommen, denn die Sekretärin hatte davon gesprochen, dass morgens für 9 Uhr täglich eine Redaktionskonferenz angesetzt sei, deshalb passe 10 Uhr gut. Elisabeth zog sich sorgfältig, aber nicht zu formell an, da sie wusste, dass in ihrem Berufsstand eher legere Kleidung üblich war. Wie immer, bevor sie aus dem Haus ging, schminkte sie sich sorgfältig, aber nicht aufdringlich. Ein dezentes Braun kleidete ihre Lippen, um ihre Augen zu betonen, hatte sie zartgrünen Lidschatten gewählt. Dazu der Pepita- Hosenanzug, so war sie zufrieden mit ihrem Äußeren und hatte das Gefühl, Selbstsicherheit und Gelassenheit auszustrahlen. Das Redaktionsbüro lag in der Innenstadt. Sie fuhr ein Stück mit dem Wagen, parkte am Rheinufer und ging über den Domplatz dorthin. Sie warf einen Seitenblick auf das Cafe, in dem sie noch einen Tag zuvor mit Silas gesessen hatte. Natürlich, jetzt war er nicht dort zu sehen, aber sie meinte fast, ihn dicht bei sich zu haben. Sie gelangte, ohne von einem Empfang aufgehalten zu werden, in die Redaktionsräume. Das kannte sie aus Bad Nauheim. Wer auch immer wollte, war mit seinen Anliegen ungehindert zu den arbeitenden Journalisten gestiefelt, ohne Rücksicht auf Termine oder Arbeitspensum. Dafür sind wir eine Heimatzeitung, hatte ihr Chef immer gesagt, und sie

hatte es in all den Jahren eingesehen, manchmal als störend empfunden, manchmal den engen Kontakt zu den Lesern geschätzt. Sie lugte in einen der Räume. Guten Tag, Schrader mein Name, ich bin mit Herrn Klotz verabredet. Ja, er ist da, gehen Sie doch dort ins Sekretariat. Eine freundliche, junge Frau wies ihr den Weg. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Praktikantin, vermutete Elisabeth. Die Sekretärin erwies sich ebenfalls als nett, und wenig später stand Elisabeth vor dem Chefredakteur. Er machte auf sie einen sehr gepflegten Eindruck, trug die hellen Haare kurz geschnitten, hatte eine gute Figur, wenn sie von einem kleinen Bauchansatz absah, und war mit Stoffhose und Hemd bekleidet. Nicht so ein salopper Jeanstyp also, er wollte die Zeitung offensichtlich angemessen repräsentieren. Er musste etwas älter sein als sie. Sie gaben sich die Hand. Guten Tag, setzen Sie sich doch. Sie wollen also als freie Mitarbeiterin für uns arbeiten, meinte er mit einem kurz taxierenden Blick, als sie Platz genommen hatte. Ich habe mir Ihre Unterlagen angeschaut. Genug Berufserfahrung dürften Sie ja haben. Ich brauche Ihnen nichts vorzumachen. Unsere Gelder sind knapp, wir dürfen immer weniger Termine an Freie vergeben. Aber, wenn sie gute Geschichten haben, eigene Ideen, sind wir immer offen. Und sicherlich ist ab und zu auch ein Termin eilig zu besetzen. Sie kennen das bestimmt, plötzlich fallen die Mitarbeiter reihenweise um, sind in Urlaub, unerreichbar. Ja, mein Chef sagte immer, wenn zwei in Urlaub sind, werden auch noch zwei krank, und dann ist nur noch die halbe Belegschaft da. Aber irgendwie hat es immer geklappt, antwortete Elisabeth. Auf Termine bin ich tatsächlich nicht so angewiesen. Ich habe die Stelle in Bad Nauheim verlassen, weil ich heraus wollte aus der Routine, aber ich möchte natürlich weiterhin schreiben. Eigene Idee habe ich bestimmt, und sicher geben Sie mir gern ein paar Tipps Sie schaute ihn mit ihrem charmantesten Lächeln an. Er reagierte wie gewünscht. Sicher, schließlich läuft genug über meinen Schreibtisch. Zum Beispiel die Sache hier: Ein paar Kinder aus dem Irakkrieg sind hier bei Gasteltern. Die Stadt hat ein Ferienprogramm mit Betreuung für sie zusammengestellt. Vielleicht schreiben sie eine Reportage darüber, die ein wenig zu Herzen geht, Sie wissen schon, was ich meine. Hier ist eine Kontaktadresse. Wenn Sie in den nächsten Tagen abliefern, wäre es schön. Gern, sagte Elisabeth, dann habe ich gleich etwas zu tun.