Wenn Mädchen und Jungen von Missbrauch berichten



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Transkript:

Wenn Mädchen und Jungen von Missbrauch berichten Welche Faktoren beeinflussen die Aufdeckung? Dirk Bange

Aufdeckung ist in der Regel ein Prozess und kein einmaliges Ereignis. Sie zieht sich in den meisten Fällen über längere Zeit hin. So müssen sich die betroffenen Mädchen und Jungen z.b. erst einmal als Opfer sexuellen Missbrauchs betrachten. Allein dies kann für ein Kind im Grundschulalter, dem vom Vater suggeriert wird, die sexuellen Handlungen seien normal, ein längerer Prozess sein. Verhaltensauffälligkeiten sind zum Aufdeckungsprozess zu zählen. Sie gehören insbesondere dazu, wenn das Mädchen oder der Junge sie bewusst als Signal für den sexuellen Missbrauch entwickeln. Allerdings sind diese Signale der Kinder nicht immer leicht zu interpretieren, wie das folgende Beispiel zeigt: Doch, körperliche Zeichen. Da war das mit den Zähnen. Schon als ganz kleines Kind hatte ich das. Ich biss dauernd so stark auf die Zähne, dass ich in ständiger zahnärztlicher Behandlung war. Ein Zahn nach dem anderen musste mir gezogen werden. Eine sicher nicht alltägliche Behandlung. Aber auch der Zahnarzt hat sich nicht die Mühe gemacht, nach Ursachen zu fragen. Das mit den Zähnen scheint mir ein klares Zeichen gewesen zu sein. Man sagt ja auch: Du musst halt auf die Zähne beißen (Kazis 1988, 58).

Aufdeckung ist in der Regel ein Prozess und kein einmaliges Ereignis. Sie zieht sich in den meisten Fällen über längere Zeit hin. So müssen sich die betroffenen Mädchen und Jungen z.b. erst einmal als Opfer sexuellen Missbrauchs betrachten. Allein dies kann für ein Kind im Grundschulalter, dem vom Vater suggeriert wird, die sexuellen Handlungen seien normal, ein längerer Prozess sein. Verhaltensauffälligkeiten sind zum Aufdeckungsprozess zu zählen. Sie gehören insbesondere dazu, wenn das Mädchen oder der Junge sie bewusst als Signal für den sexuellen Missbrauch entwickeln. Allerdings sind diese Signale der Kinder nicht immer leicht zu interpretieren, wie das folgende Beispiel zeigt: Doch, körperliche Zeichen. Da war das mit den Zähnen. Schon als ganz kleines Kind hatte ich das. Ich biss dauernd so stark auf die Zähne, dass ich in ständiger zahnärztlicher Behandlung war. Ein Zahn nach dem anderen musste mir gezogen werden. Eine sicher nicht alltägliche Behandlung. Aber auch der Zahnarzt hat sich nicht die Mühe gemacht, nach Ursachen zu fragen. Das mit den Zähnen scheint mir ein klares Zeichen gewesen zu sein. Man sagt ja auch: Du musst halt auf die Zähne beißen (Kazis 1988, 58).

Sprachliche Äußerungen eines Mädchen oder Jungen sind als Teil des Aufdeckungsprozesse zu werten und zwar auch dann, wenn ein Mädchen oder Junge mit einer nicht offiziellen Person (z.b. der Mutter oder der Freundin) über den sexuellen Missbrauch spricht. Sprachliche Äußerungen und Verhaltenssignale sind auch dann Teil des Aufdeckungsprozesses, wenn sie von anderen Personen nicht als solche wahrgenommen werden.

Es kann zwischen verschiedenen Formen der Aufdeckung unterschieden werden: 1) Das Mädchen bzw. der Junge deckt den sexuellen Missbrauch aktiv und bewusst auf. 2) Die Aufdeckung geschieht z.b. als Reaktion auf eine Befragung durch Erwachsene. 3) Ein Zeuge beobachtet den sexuellen Missbrauch und informiert die Eltern oder offizielle Stellen. Bei einer Untersuchung von 189 Jungen und 189 von Mädchen deckten 38% der Jungen und 40% der Mädchen den Missbrauch absichtlich auf 22% der Jungen und 21% der Mädchen deckten den Missbrauch als Reaktion auf eine Befragung auf 20% der Jungen und 11% der Mädchen kam es zu einer zufälligen Offenlegung. Bei den restlichen Mädchen und Jungen gab es entweder einen Verdacht ohne Aufdeckung oder die Art der Aufdeckung war unbekannt (Reinhardt 1987).

Romana Alaggia (2004) beschreibt aufgrund ihrer Untersuchung zwei weitere Reaktionsweisen: 4) Das Mädchen bzw. Junge entscheidet sich bewusst dafür, nichts zu sagen. Für eine solche Entscheidung sind insbesondere Befürchtungen der Kinder, ihnen würde nicht geglaubt, sie würden andere verletzten und ihre Schamgefühle entscheidend. Sie leugnen selbst bei direkten Befragungen z.b. durch Eltern, Sozialarbeiter oder Polizisten ihre Betroffenheit vehement und dauerhaft ab. Eine Betroffene formuliert dies so: Ich wünschte, ich könnte Menschen wie meiner Mama erzählen, was passiert ist aber ich würde es ihnen niemals erzählen, weil ich sie nicht verletzen möchte und ich habe bei ihnen viele Verletzungen und Schmerzen wahrgenommen und ich möchte sie nicht noch mehr belasten mit meinem Kram (Alaggia 2004, S. 1219). Bei betroffenen Frauen und Männern, die als Kinder ein solches Vorgehen wählen, lassen sich im Nachhinein die meisten Verhaltensauffälligkeiten nachweisen (ebd.; Mosser 2009, 60).

5) Das Mädchen bzw. der Jungen hat kein Bewusstsein für oder keine Erinnerung an den sexuellen Missbrauch. Sie bzw. er kann ihn deshalb nicht aufdecken. Aus Sicht der Kinder ist ein Vergessen oder Verdrängen des sexuellen Missbrauchs eine schützende Copingstrategie. Sie erlaubt es ihnen gerade beim innerfamilialen sexuellen Missbrauch, sich die emotionale Beziehung zum Täter zu erhalten. 6) Das Mädchen bzw. der Junge macht genaue Angaben zum sexuellen Missbrauch. 7) Das Mädchen bzw. der Junge deutet den Missbrauch an. Letzteres Verhalten legen vor allem jüngere Kinder an den Tag. Fazit: Bei der Interpretation von Untersuchungsergebnissen und in der praktischen Arbeit sollte man sich diese Zusammenhänge bewusst machen und sich den zugrundeliegenden Aufdeckungsbegriff anschauen.

Laut Untersuchungen vertrauten sich durchschnittlich nur etwa ein Drittel bis die Hälfte der befragten Frauen und Männer in ihrer Kindheit einer anderen Person an. Um die Dramatik dieser Ergebnisse noch einmal zu unterstreichen, möchte ich einige Aussagen aus den Fragebögen zitieren, die seinerzeit bei einer von mir an der Dortmunder Universität durchgeführten Befragung von betroffenen Frauen gemacht worden sind: Hallo Dirk, das ist ja stark! Auf dem Weg zum Deutsch-Seminar hatte ich mir überlegt, ob ich nicht einen (anonym natürlich) Aushang machen sollte. Ich wollte soo gerne wissen, ob es nicht irgendjemanden gibt, der es auch erlebt hat oder den man deswegen ansprechen kann Es wäre vielleicht gut mit jemanden darüber zu reden. Ich bin vergewaltigt worden. Ich bin heute (drei Jahre danach, D.B.) noch nicht in der Lage, mit meinem Freund zu schlafen. Ich verkrampfe mich zu sehr. Ich habe Angst. Nur mein Freund kennt die Geschichte (Bange 1992, 92).

Ein kleinerer Teil der Mädchen und Jungen, die überhaupt über den Missbrauch sprechen, macht dies innerhalb der ersten 48 Stunden nach der Tat. Viele Mädchen und Jungen brauchen aber auch Monate bis hin mehreren Jahren. Die folgenden zwei Studienergebnisse sollen dies beispielhaft verdeutlichen: Bei einer landesweiten repräsentativen Telefonuntersuchung in den USA hatten 38 Prozent bis zur Befragung noch mit keinem Menschen über den Missbrauch gesprochen. 42 Prozent hatten innerhalb des ersten Jahres nach dem Missbrauch, einen anderen Menschen ins Vertrauen gezogen und 20 Prozent brauchten dazu länger als ein Jahr (Finkelhor u.a. 1990). Bei der Studie von Sarah E. Ullman und Henrietta H. Filipas (2005, 774) benötigten etwa zwei Drittel befragten Frauen und Männer über ein Jahr, bevor sie mit einem anderen Menschen über den Missbrauch sprachen. 75 Prozent deuteten den Missbrauch eher vage, kurz oder mehr allgemein an. Viele betroffene Frauen und Männer berichten letztlich also erst in Untersuchungen erstmals über den sexuellen Missbrauch. Dies ist ein Skandal und erfordert endlich mehr Aufklärung über den sexuellen Missbrauch als bisher.

Opfer innerfamilialen sexuellen Missbrauchs sprechen seltener über die sexuelle Gewalt als Opfer von bekannten und unbekannten Tätern. So machten z.b. bei einer Studie im Interview nur 21 Prozent der innerfamilial sexuell missbrauchten Kinder bestätigende Aussagen. Dieser Wert stieg auf 89 Prozent an, wenn der vermutete Täter keine Elternfigur war (Hershkowitz, Horowitz & Lamb 2005, 1207f.). Für diesen Zusammenhang gibt es verschiedene Erklärungen: 1) Die Kinder haben beim innerfamilialen sexuellen Missbrauch zum Täter in der Regel eine enge Bindung, die jedoch meist ambivalent ist. In einer Studie gaben dementsprechend über die Hälfte der Kinder an, sie würden den Täter lieben, würden ihn mögen, brauchten ihn bzw. seien von ihm emotional abhängig. Allerdings gab gleichzeitig die Hälfte an, sie würden ihn irgendwie auch hassen (Berliner & Conte 1990, 32). 2) Kinder benötigen zum Aufwachsen den Schutz und die Integrität ihrer Familie. Diese möchten sie in der Regel - trotz des sexuellen Missbrauchs - nicht verlieren. 3) Die Täterstrategien wirken bei innerfamilialen sexuellem Missbrauch in der Regel besonders massiv in Richtung der Geheimhaltung.

Regel weniger detaillierte Angaben. Besonders schwer fällt es ihnen, über sexuellen Missbrauch durch Väter bzw. Vaterfiguren zu sprechen. Für diesen Zusammenhang gibt es verschiedene Erklärungen: 1) Die Jungensozialisation verlangt von Jungen stark zu sein. Über Schwächen, über Ängste oder gar über einen sexuellen Missbrauch zu sprechen, passt nicht zu diesem Bild. 2) Bei einem Missbrauch durch einen Mann kommt oft die Angst hinzu, als Homosexueller gebrandmarkt zu werden. 3) Die Begriffe Vergewaltigung und sexueller Missbrauch werden von den meisten Menschen mit einer Frau als Opfer und einem Mann als Täter assoziiert. Sexuell missbrauchte Jungen finden sich darin nicht wieder und haben deshalb manchmal Schwierigkeiten, ihre Erfahrungen überhaupt als Missbrauch zu benennen. 4) Jungen haben oft das Gefühl, die einzigen Betroffenen zu sein, da über den sexuellen Missbrauch an Jungen kaum öffentlich gesprochen wird. 5) Als besonderes Tabu kommt noch der sexuelle Missbrauch durch Frauen hinzu: Für einen Jungen bedeutet er eine doppelte Schande: Er wurde missbraucht und dann auch noch durch eine Frau.

Missbrauch. Für diesen Zusammenhang gibt es verschiedene Erklärungen: 1) Viele dieser Kinder verfügen nur über eine eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit und können sich deshalb nicht so mitteilen, dass andere Menschen ihre Hinweise und Signale verstehen. 2) Ein Teil der Kinder sind wegen ihrer Pflegebedürftigkeit besonders abhängig von anderen Personen. 3) Eigene Kinder sind mit bedingt durch die Behinderung sozial isoliert. Ihnen fehlen dann ganz einfach die Ansprechpartner/innen. 4) Ihnen wird von ihren Ansprechpartnern seltener geglaubt als nicht behinderten Kindern. Hierfür ist sicherlich mitverantwortlich, dass Menschen mit Behinderungen immer noch von vielen Menschen als asexuell angesehen werden und viele sich nicht vorstellen können, dass sich ein Täter ein behindertes Kind als Opfer auswählt. Sie passen einfach nicht ins gängige Klischee eines Missbrauchsopfers. Anders als viele Menschen glauben, suchen sich Täter aber teilweise gezielt Kinder mit Behinderungen aus, weil bei ihnen das Risiko entdeckt zu werden, aus den genannten Gründen geringer ist.

Hintergrund auf. Für diesen Zusammenhang gibt es verschiedene Erklärungen: 1) Sprachbarrieren erschweren es den Mädchen und Jungen, sich anderen mitzuteilen. 2) Einige dieser Mädchen und Jungen sind sozial isoliert, was eine Aufdeckung erschwert. 3) Einige von ihnen haben Erfahrungen mit Diskriminierungen und ein dadurch mit bedingtes niedrigeres Selbstwertgefühl. Sie trauen sich deshalb nicht über den sexuellen Missbrauch zu sprechen, weil sie Angst haben in eine gewisse Schublade gesteckt zu werden. 4) Vielfach fehlt ihnen das Wissen über die Hilfeangebote, da viele Informationsbroschüren auf deutsch oder nur in wenigen ausgewählten Fremdsprachen erscheinen. 5) Es fehlen spezifische Hilfeangebote für Kinder mit Migrationshintergrund. 6) Kulturelle Unterschiede spielen eine Rolle. So wird in einer mehr auf das Kollektiv ausgerichteten Kultur die Aufdeckung eines sexuellen Missbrauchs vielfach als Nestbeschmutzung betrachtet, insbesondere wenn sich das Kind an Stellen außerhalb der eigenen Community wendet. 7) Unterschiedliche Wertvorstellungen über Sexualität, Sexualität vor der Ehe oder Homosexualität beeinflussen das Aufdeckungsverhalten der Mädchen und Jungen. Aber Vorsicht: Nicht alle Kinder mit Migrationshintergrund sind gleich!

Es besteht kein konsistenter Zusammenhang zwischen der Schwere des Missbrauchs und der Zahl der Kinder, die ihn aufdecken. Je mehr Angst die Kinder vor den Konsequenzen der Aufdeckung haben, umso länger benötigten sie dazu. Dabei machen sich die Kinder oft mehr Sorgen um andere Menschen als um sich selbst und den Täter. Insbesondere bei innerfamilialen sexuellen Missbrauch machen sie sich vielfach Gedanken über die nicht missbrauchenden Mütter, die sie vor den negativen Folgen einer Aufdeckung schützen möchten. Ein typisches Zitat dazu: Ich wollte es immer ansprechen. Nicht ihr gegenüber - aber bei allen anderen. Ich wollte, dass jeder es wusste. Aber nicht sie. Ich glaube, sie wäre damit nicht fertig geworden. Ich weiß nicht, warum. Ich weiß wirklich nicht, warum. Weißt du, man schützt seine Eltern (Armstrong 1985, 121). Je mehr sich die Kinder für den Missbrauch mitverantwortlich fühlen, desto länger brauchen sie in der Regel für die Aufdeckung. Ältere Kinder fühlen sich meist stärker verantwortlich als jüngere Mädchen und Jungen.

Außerdem sind Scham und Schuldgefühle bedeutsam. So gaben bei einer Studie z.b. von 228 Frauen 76 (33%) an, sie hätten deswegen geschwiegen (Roesler & Wind 1994, 333). Findet der Missbrauch kurz vor der Pubertät, während oder nach der Pubertät statt, sprechen vergleichsweise viele Mädchen und Jungen über die sexuelle Ausbeutung - insbesondere wenn die Täter nicht viel älter sind als sie selbst. Wie die Kinder ihre Eltern und ihre Reaktionen einschätzen ist von großer Bedeutung. Wenn die Kinder davon ausgehen, ihnen wird geglaubt, ziehen sie ihre Eltern häufiger aktiv ins Vertrauen. So stieg in einer Studie die Wahrscheinlichkeit für die Aufdeckung um das 3,5-fache auf 63 Prozent, wenn die Eltern als unterstützend eingeschätzt wurden (Lawson & Shaffin 1992, 538). Kinder, die gleichzeitig physische Misshandlungen erlitten, berichten häufiger über den sexuellen Missbrauch häufiger auf als Kinder, die ausschließlich sexuell missbraucht wurden. Die Kinder, die verschiedene Formen der Gewalt erfahren, fühlen sich dem Täter gegenüber zu weniger Loyalität verpflichtet. Ihre Bindungen an den Täter sind durch die zusätzlichen Misshandlungen schwächer.

Werden Kinder direkt durch Professionelle nach einem sexuellen Missbrauch befragt, äußern sich im Durchschnitt etwa zwei Drittel dazu. Die Raten variieren bei den Studien zwischen 24 und 96 Prozent. Bei einer Untersuchung von 28 Kindern, die eine auf einen sexuellen Missbrauch zurückzuführende Geschlechtskrankheit und noch nicht über den sexuellen Missbrauch gesprochen hatten, sprachen im ersten Gespräch mit einem speziell ausgebildeten Sozialarbeiter nur zwölf (43%) über den sexuellen Missbrauch (Lawson & Shaffin 1992, 537). Andere Untersuchungen, die ebenfalls auf Kinder fokussieren, die mit hoher Sicherheit missbraucht worden sind, weisen allerdings deutlich höhere Raten von 75 bis 96 Prozent auf (London u.a. 2005, 211). Schulkinder scheinen bei solchen Befragungen häufiger über den Missbrauch zu berichten als Vorschulkinder. Außerdem hängt die Aufdeckungsrate davon ab, in welchem Kontext und auf welche Art die Kinder befragt werden. So kommt es bei Psychotherapien häufiger zu einer Verleugnung des sexuellen Missbrauchs als bei offiziellen Befragungen durch Kinderschutzfachkräfte oder Polizisten.

Widerrufe sind bei den meisten Kindern kaum festzustellen. Die Zahl schwankt in den methodisch anspruchsvolleren Untersuchungen von vier bis acht Prozent. Damit können Studienergebnisse als relativiert gelten, bei denen ein Viertel aller Kinder zwischenzeitlich ihre Aussage widerriefen und im Laufe der Zeit zu ihren Anschuldigungen zurückkehrten. Studie Untersuchte Kinder Widerruf des Vorwurfs Rückkehr zum Vorwurf Jones & McGraw 1987 309 8% - Sorenson & Snow 1991 116 22% 92% Gonzales u.a. 1993 63 27% 88% Elliott & Briere 1995 399 7% - Bradley & Wood 1996 234 4% -

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass es Kindern und Erwachsenen generell schwer fällt, über sehr persönliche und schambehaftete Themen mit anderen zu reden. Über körperliche Misshandlungen, über abweichende sexuelle Phantasien oder über Alkoholmissbrauch zu sprechen, ist ebenfalls nicht einfach. Bei solchen Themen tauchen dementsprechend die gleichen oder ähnliche Barrieren wie beim sexuellen Missbrauch auf: Die Kinder schämen sich, sie haben Angst bestraft zu werden, sie möchten ihre Freiheiten nicht verlieren und ihren Eltern keinen Kummer bereiten. Sexuell missbrauchte Mädchen und Jungen und ihre Eltern stehen also zum Teil vor den gleichen Problemen wie andere belastete Familien.

Wenn Kinder über ihren Missbrauch sprechen, dann in erster Linie mit Familienmitgliedern und je älter sie werden mit Freundinnen bzw. Freunden. So wandten sich z.b. bei der Studie von April R. Bradley und James M. Wood (1996, 885) 35 Prozent der 234 erfassten Kinder an ein Familienmitglied meist die Mutter, 16 Prozent an einen Freund oder einen nahen Bekannten und 13 Prozent an einen Lehrer. Jugendliche wenden sich dagegen vorwiegend an Freunde und/oder Partner und andere Familienmitglieder als die Eltern wie z.b. Geschwister. Von 1.244 befragten jung erwachsenen Frauen und 249 Männern aus Schweden zogen 63 Prozent der Frauen und 69 Prozent der Männer eine/n Freund/in ihres Alters ins Vertrauen. Die Mütter folgten mit 28 bzw. 17 Prozent an zweiter, die Väter mit 13 und 14 Prozent an dritter und die Geschwister mit jeweils 12 Prozent an vierter Stelle (Priebe & Svedin 2008, 1100). Sozialarbeiter/innen und Polizisten/innen spielen in allen Untersuchungen keine nennenswerte Rolle. Die primäre Aufdeckung findet also in der Regel in einem inoffiziellen Rahmen statt. Die Zugangshürden zum Hilfesystem für die Kinder müssen folglich deutlich abgesenkt werden.

Die meisten nicht missbrauchenden Mütter und Väter glauben und unterstützen ihre Kinder. Dies führt allerdings nicht immer zur Beendigung des sexuellen Missbrauchs. Bei der Studie von Thomas A. Roesler und Tiffany Weismann Wind (1994, 332) ging der innerfamiliale sexuelle Missbrauch bei 52 Prozent der Kinder nach der Aufdeckung noch mindestens ein Jahr weiter. Bei vielen der 228 erfassten Frauen reagierten die Eltern mit wenig Unterstützung. Allerdings waren die Reaktionen der Professionellen noch weniger angemessen. Sie reagierten hauptsächlich mit Hilflosigkeit, Anschuldigungen und Bagatellisierungen. Von 252 sexuell missbrauchten 13- bis 17-jährigen Jugendlichen aus Genf hatten 51 Prozent der Jungen und 74 Prozent der Mädchen den sexuellen Missbrauch aufgedeckt. 26 Prozent gaben an, es sei daraufhin nichts geschehen. 44 Prozent wurden aufgefordert den sexuellen Missbrauch weiterhin geheim zu halten. 5 Prozent stießen auf Unglauben. 27 Prozent von ihnen wurden angemessen unterstützt (Halperin u.a. 1996, 1328). Bei einer Befragung von 35 Betroffenen aus Italien wurden die Reaktionen der Eltern, anderen Angehörigen und Freunden als weitgehend unterstützend angesehen, während die Reaktionen der Professionellen eher als weniger hilfreich und negativ eingeschätzt wurden (Crisma u.a. 2004, 1042).

Zwei Beispiele aus der Studie sollen dies illustrieren: Ornella war hospitalisiert aufgrund ihrer schweren Essstörungen und psychischen Probleme in Folge des sexuellen Missbrauchs. Keiner fragte sie jemals, ob sie andere Probleme neben den offensichtlichen habe. Patrizia, 19 Jahre alt, wurde von ihrem Großvater sexuell missbraucht. Sie erzählte ihren Eltern alles, aber sie glaubten ihr nicht. Einige Monate später, brachte sie ihre Mutter zum Neurologen, weil sie sich die ganze Zeit auffällig verhielt. Das Mädchen hatte die Courage, dem Neurologen alles zu erzählen. Er verschrieb ihr eine Medizin und meinte, das andere sei ihr persönliches Problem, welches sie selber lösen müsste (ebd., 1043).

Silke B. Gahleitner (2005, 91) kommt aufgrund von 22 biografischen Interviews mit betroffenen Frauen und Männern für Deutschland zu einem zumindest im Rückblick fast schon vernichtendem Urteil über das Hilfesystem: Die Erfahrungen der befragten Klientinnen und Klienten zeigen für Opfer komplexer Traumatisierungen gravierende Lücken im psychosozialen Hilfenetz auf. In keinem der Fälle wurde das Helfersystem seiner Aufgabe gerecht, während der Kindheit und Jugend angemessen zu reagieren. Die Befragten berichten im Rückblick auf ihre Kindheit und Jugend sowohl von blinden Flecken im Hilfesystem als auch von aktiv verweigerter Hilfeleistung. Selbst bei Klinikaufenthalten und im Rahmen ambulanter Maßnahmen wurde die zugrundeliegende Problematik nicht erkannt, sondern als pubertärer Konflikt klassifiziert und in die Verantwortung der Familie zurückverortet. Die wenigen `schützenden Inselerfahrungen` in ihrem Leben durch positive und unterstützende Begegnungen schildern die Klientinnen und Klienten jedoch als überaus wichtig für die Bewältigung der sexuellen Gewalterlebnisse.

Es gibt aber auch Studienergebnisse, nach denen die Aufdeckung von vielen Betroffenen als hilfreich empfunden wird. So gaben bei einer Studie 45 Prozent der Befragten an, ihre Situation hätte sich dadurch verbessert, während nur 15 Prozent meinten, sie hätte sich verschlechtert. 40 Prozent sahen keine Veränderung (Ullman & Filipas 2005, 774) Trotz aller Widrigkeiten nach der Aufdeckung kommen bei der Studie von Lucy Berliner und Jon Conte (1995, 382) 81 von 82 der untersuchten Kinder zu der Einschätzung, es sei gut und richtig gewesen, den sexuellen Missbrauch aufzudecken. Sie raten dementsprechend anderen missbrauchten Kindern, dies ebenfalls zu tun. Dabei müssen die ersten Reaktionen der Eltern und anderen Vertrauenspersonen noch nicht einmal unbedingt angemessen seien, um von den Kindern als unterstützend wahrgenommen zu werden. Allein das Ausbleiben der von den Kindern erwarteten negativen Reaktionen scheint für einen Teil der Kinder schon hilfreich zu sein. 69 Prozent der Kinder waren dementsprechend erleichtert über die Aufdeckung. Ein Mädchen dazu: Ich fühlte mich etwas anders. Zuerst dachte ich nicht, dass meine Mama mir glaubt und dann tat sie es doch. Ich war glücklich darüber (ebd.).

Wichtig ist angesichts dieser Erkenntnisse für zukünftige Präventionsstrategien deshalb Folgendes: Den Kindern müssen klare und verständliche Hinweise geben werden, an wen sie sich wenden können und was eine Aufdeckung zur Folge hat. Für die Mädchen und Jungen sind die Hürden bisher einfach zu hoch. Für Kinder und Eltern müssen im Falle eines Falles Gewohnheiten im normalen Familienablauf gegeben sein, die es ihnen ermöglichen, über einen sexuellen Missbrauch zu sprechen. Das Unbegreifliche und Peinliche, das mit dem Thema verbunden ist, müssen überwunden werden. Mütter und Väter, Erzieher und Lehrer, Sozialarbeiter und Psychologen müssen bei plötzlich und unerklärlichen Verhaltensänderungen oder -auffälligkeiten einen sexuellen Missbrauch in ihre Überlegungen nach den Gründen für dieses Verhalten ihrer Kinder einbeziehen. Generell gilt: Die Aufmerksamkeit für das Thema darf nicht wieder zurückgehen. Wir müssen uns sonst in zehn oder zwanzig Jahren die Frage von betroffenen Frauen und Männer gefallen lassen, warum wir ihnen angesichts des runden Tisches sexueller Missbrauch und den ganzen Diskussionen nicht geholfen haben.