Jugend zwischen Anpassung und Auflehnung



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Transkript:

2009 Jugend zwischen Anpassung und Auflehnung Kindern und Jugendlichen gilt die besondere Aufmerksamkeit der SED. Von klein auf sind sie in der Kinderkrippe, der Schule und den Jugendorganisationen Manipulationsversuchen ausgesetzt. Dennoch sind es gerade Jugendliche, die sich in der DDR für die Freiheit einsetzen und dafür manchmal sogar ein hohes persönliches Risiko in Kauf nehmen. Der Staat verfolgt nicht nur politischen Widerspruch, sondern reagiert auf jede Form abweichenden oder unangepassten Verhaltens mit Bestrafung. Jugendliche, deren Äußeres, deren Lebensstil oder deren Freizeitgestaltung nicht der Norm entsprechen, geraten schnell in das Visier der Staatssicherheit. In der DDR gibt es ein gut ausgebautes Netz staatlicher Betreuungseinrichtungen. Die Kleinsten gehen in die Kinderkrippe und den Kindergarten, Schulkinder nach dem Unterricht in den Hort. Der Staat versucht, sich das Erziehungsmonopol zu sichern und die Kinder von Anfang an im Sinne der SED-Ideologie zu formen. Sie sollen von den Ideen des Sozialismus überzeugt und in die sozialistische Gemeinschaft eingegliedert werden. Hohen Stellenwert hat die Wehrerziehung: In vielen Kindergärten gibt es Spielzeugsoldaten und Spielzeugpanzer, es werden Lieder gesungen, die die Armee verherrlichen, Schüler üben im Mathematikunterricht das Potenzrechnen anhand der Flugbahnen militärischer Geschosse. Im Jahr 1978 wird das Schulfach Sozialistische Wehrerziehung eingeführt. Wer Abitur machen möchte, muss nicht allein gute schulische Leistungen aufweisen. Ebenso wichtig sind die richtigen politischen Ansichten, die man unter anderem durch die Mitgliedschaft in der Pionierorganisation und in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) zeigt, die ideologische Kaderschmieden sind, allerdings nicht nur politisch erziehen wollen, sondern auch attraktive Angebote für die Freizeitgestaltung machen, um ihre Mitglieder eng an sich zu binden. Die weitaus meisten Schülerinnen und Schüler gehören ihnen an. Nach der Einschulung tre-

Jugend zwischen Anpassung und Auflehnung Seite 2 ten sie den Jungen Pionieren bei, die zu besonderen Anlässen ein blaues Halstuch tragen. In der 4. Klasse folgt der Übergang zu den Thälmannpionieren, erkennbar an einem roten Halstuch. Pionierorganisation und Schule sind eng miteinander verbunden. Am Beginn eines jeden Unterrichtstages steht in vielen Klassen der Pioniergruß. Die Lehrkraft tritt den Schülern mit dem Aufruf Seid bereit! gegenüber, diese antworten im Chor: Immer bereit!. Ab der 8. Klasse werden die Jugendlichen Mitglied in der FDJ und tragen als Uniform das Blauhemd. In dieser Zeit legen sie auch die Jugendweihe ab, die von der SED 1954 als Ersatz für Konfirmation und Firmung eingeführt worden ist, um den Einfluss der Kirchen zurückzudrängen. Nach anfänglicher Zurückhaltung nehmen Ende der 1950er Jahre bereits über 80 Prozent und seit den 1970er Jahren etwa 98 Prozent der Jugendlichen an dem Zeremoniell teil. Sie werden an diesem Tag in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen und geloben in einer öffentlichen Veranstaltung, für den Sozialismus zu kämpfen. Die Jugendweihe etabliert sich zu einem wichtigen Familienfest. Die Teilnahme daran oder die Mitgliedschaft in der FDJ sind allerdings nicht immer Ausdruck der politischen Überzeugung. Bei der Jugendweihe sind für die meisten die feierliche Aufnahme in die Erwachsenenwelt und die Geschenke wichtiger als der ideologische Hintergrund. In die FDJ treten viele Jugendliche ein, weil dies alle tun - und weil sie wissen, dass sie andernfalls ihre berufliche Zukunft gefährden. Es gibt in der DDR auch Jugendliche, die sich selbst vordergründig nicht von Staat und Partei vereinnahmen lassen. Manch einer sträubt sich gegen die Uniformierung und setzt sich für Freiheitsrechte ein, sei es durch Flugblattaktionen oder die Mitarbeit in den Gruppen der Menschenrechts-, Umwelt- und Friedensbewegung. Bereits in den Anfangsjahren der DDR organisieren sich Jugendliche in oppositionellen Gruppen zum Beispiel in Werdau und Eisenberg. Sie verteilen Flugblätter, schreiben Parolen an Wände oder stören mit Stinkbomben politische Veranstaltungen. Es geht ihnen um freie Wahlen, nationale Einheit, Presse- und Versammlungsfreiheit. Meist ist ihr Protest gewaltlos. Viele von ihnen werden verhaftet, einige zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt, zum Beispiel der 19-jäh-

Jugend zwischen Anpassung und Auflehnung Seite 3 rige Achim Beyer aus Werdau 1951 zu acht Jahren, von denen er fünfeinhalb Jahre unter menschenunwürdigen Bedingungen absitzen muss. Er flieht nach seiner Entlassung in den Westen, wie dies bis zum Mauerbau 1961 viele ehemalige politische Häftlinge tun. Oppositionelles Denken unter Jugendlichen ist besonders an Oberschulen, Hochschulen und Universitäten anzutreffen. Aber auch in Betrieben und auf dem Land lehnen sich junge Menschen gegen die Einschränkung ihrer Freiheit auf. Viele sind beim Volksaufstand am 17. Juni 1953 dabei. Nach dem Mauerbau, als die meisten Erwachsenen in Resignation verfallen, sind es gerade junge Leute, die sich nicht mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR arrangieren. Sie wollen insbesondere die forcierte Militarisierung nicht widerspruchslos hinnehmen. Diese spürbare Ablehnung von Wehrerziehung und Militärdienst trifft das SED-Regime an einer empfindlichen Stelle, legitimiert es sich doch ganz wesentlich durch die Prämisse, die DDR verteidige den Frieden, Kapitalismus dagegen bedeute Krieg. Diese Lesart macht sich auch die Ost-CDU zu eigen, die Anfang 1962 erklärt: Wer sich in Westdeutschland dem Kriegsdienst entzieht, schwächt die imperialistischen Kriegskräfte; wer sich aber unseren Verteidigungsmaßnahmen zu entziehen sucht, schwächt den Frieden. Nur wenige Monate zuvor, kurz nach der Errichtung der Mauer, hat der Nationale Verteidigungsrat der DDR die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht angekündigt. Offenbar hat man so lange gewartet, damit nicht noch mehr junge Männer in den Westen fliehen. Nun haben sie keine Möglichkeit mehr, sich dem Militärdienst zu entziehen. Nur wer sich als Zeitsoldat verpflichtet, kann sich seines Studienplatzes sicher sein. Während die große Mehrheit die Einberufung zur Nationalen Volksarmee hinnimmt, regt sich vereinzelt Widerstand. Fälle von Verweigerungen des Dienstes an der Waffe und der Druck der Kirchen bewegen die SED-Führung 1964 dazu, einen waffenlosen Wehrdienst einzuführen: Die Bausoldaten, wegen ihrer Schulterklappen auch Spatensoldaten genannt, werden meistens zu militärischen Bauaufgaben herangezogen. Doch nur wenige der Gemusterten gehen diesen Weg: Von 1978 bis 1989 sind es zwischen 0,4 und 1,4 Prozent; zumal Informationen über diese Form, die Wehrpflicht zu erfüllen, nur schwer ausfindig zu machen sind. Außerdem ist allgemein bekannt, dass Bausoldaten damit rechnen müssen, im Beruf und bei der Vergabe von Studienplätzen benachteiligt zu werden. Wer sich dennoch dafür entscheidet, riskiert

Jugend zwischen Anpassung und Auflehnung Seite 4 die Verwirklichung seiner beruflichen Träume und Karrierewünsche. Viele ehemalige Bausoldaten engagieren sich später in der Friedensbewegung. Nicht jedes unangepasste Verhalten von Jugendlichen ist politisch motiviert. Viele lehnen sich nicht in erster Linie gegen Staat und Partei auf, sondern gegen die ältere Generation und deren Angepasstheit. Sie wollen sich nicht vorschreiben lassen, welche Kleidung sie tragen und welche Musik sie hören. In den Augen der Machthaber gelten sie als feindlich-dekadent. Oft werden sie überwacht und sind staatlicher Gewalt ausgesetzt. Erst aus diesen Erfahrungen mit der Diktatur erwächst dann oft ein dezidiert politisches Engagement. Bereits in den 1950er Jahren kommt es zu Konflikten zwischen unangepassten Jugendlichen und dem Staat. Der Rock n Roll findet auch unter jungen Leuten in der DDR Anhänger. Sie treffen sich auf der Straße und in Parks und hören gemeinsam die aktuellen Hits. Elvis Presleys Frisur und der wilde, körperbetonte Tanzstil werden mit Begeisterung imitiert. Bis zum Mauerbau übt West-Berlin für Jugendliche aus dem Umland eine große Anziehungskraft aus. Sie gehen dort ins Kino und kaufen modische Kleidung, vor allem aber Schallplatten und Zeitschriften, die in der DDR nicht erhältlich sind. Die abschätzig Cliquen, Meuten oder Halbstarken genannten Jugendlichen erregen Anstoß. Eltern und Großeltern zeigen keinerlei Verständnis für die neue Musik und den in ihren Augen provokanten Habitus der Rock n Roll-Anhänger. Gelegentliche Krawalle verstärken die negative Sichtweise. Unter den Funktionären der SED ist die Ablehnung besonders massiv. Sie fürchten den Einfluss des kapitalistischen Westens auf die Jugend der DDR und sehen in der Verbreitung der Rock n Roll-Musik ein Mittel des Klassenfeindes im Kalten Krieg. Nach dem Mauerbau liberalisiert die Führung der SED für kurze Zeit ihre Kulturund Jugendpolitik. Während der Rock n Roll zuvor klar abgelehnt wurde, heißt es nun in einem Beschluss des Politbüros, man wolle keine bestimmten Tanzstile vorschreiben: Welchen Takt die Jugend wählt, ist ihr überlassen: Hauptsache, sie bleibt taktvoll! Seit dem Deutschlandtreffen der Jugend 1964 in Ost-Berlin gibt es mit dem Sonderstudio DT64 ein eigenes Rundfunkprogramm für diese Zielgruppe, das auch Beatmusik sendet. 1965 wird in der DDR sogar eine Beatles-LP herausgegeben.

Jugend zwischen Anpassung und Auflehnung Seite 5 Doch das innenpolitische Tauwetter hält nicht lange an. Auf dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED im Dezember 1965 korrigiert die Partei wieder ihren politischen Kurs: Zeitungen verunglimpfen die Beat-Anhänger. Lehrer, Polizisten und linientreue Mitschüler sorgen dafür, dass den so genannten Gammlern die langen Haare abgeschnitten werden. Am 31. Oktober 1965 treffen sich in Leipzig mehrere hundert junge Leute vor allem Lehrlinge und Arbeiter zu einem Protestmarsch gegen die staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen. Die Volkspolizei reagiert brutal und setzt Schlagstöcke, Hunde und einen Wasserwerfer ein. 267 Teilnehmer werden verhaftet, viele zur mehrwöchigen Arbeitserziehung im Braunkohleabbau verurteilt. Ende der 1960er, insbesondere jedoch in den 1970er Jahren finden der Geist von Woodstock und die Ideen von Love and Peace auch in der DDR Anklang. Die Angehörigen der ostdeutschen Flower-Power-Generation tragen lange Haare, üppige Bärte, abgetragene Jeans und Parkas, Jesuslatschen, selbstgenähte Umhängetaschen oder Rucksäcke. Sie hören die Musik von Jimi Hendrix oder Bob Dylan und nennen sich Tramper oder Kunden. An den Wochenenden reisen sie ihren Lieblingsbands hinterher, die in Kneipen, Dorfsälen und Kirchenräumen auftreten. Dort möchten sie der Spießigkeit des Alltags entfliehen und ein Stück Freiheit erleben. Ein Teil engagiert sich auch in oppositionellen Gruppen. In den 1980er Jahren schockieren die Tramper alleine durch ihr Äußeres kaum noch Jemanden. Ganz anders die Punks, die sich gegen jede Art staatlicher und gesellschaftlicher Bevormundung wehren und anarchistisches und pazifistisches Gedankengut pflegen. Mit ihrem Aussehen und ihrem Auftreten fallen sie auf wie keine andere Subkultur. Ihre Bands tragen Namen wie Planlos, Wutanfall, Namenlos oder Schleimkeim. Diese offen zur Schau gestellte Andersartigkeit fordert die Staatsmacht heraus. Sie lässt die Punks überwachen und kriminalisiert sie. Verhaftungen und Verurteilungen sind an der Tagesordnung. Die staatliche Unterdrückung politisiert die Anhänger der Szene und motiviert manche, sich der Oppositionsbewegung anzuschließen. Unterschlupf gewähren den Jugendlichen einzelne Kirchenmitarbeiter und -gemeinden, wo sie betreut werden und Konzerte veranstalten können.

Jugend zwischen Anpassung und Auflehnung Seite 6 Nicht nur besonders auffällige Jugendliche wie Punks geraten in den 1980er Jahren mit Sicherheitskräften aneinander. Angehörige der Volkspolizei und der Staatssicherheit greifen ein, prügeln und verhaften, wenn sich junge Menschen zum Beispiel in Ost-Berlin an der Mauer versammeln, um Open-Air-Konzerten in Westberlin zu lauschen, in der Jenaer Innenstadt ein Frühstück unter freiem Himmel oder in Leipzig ein Straßenmusikfestival organisieren. Jede unabhängige, nicht vom Staat angeregte Initiative soll im Keim erstickt werden. Doch die Jugendlichen werden zunehmend selbstbewusst, wollen sich die staatliche Gängelung immer weniger gefallen lassen und sind im Herbst 1989 bereit, für ihre Freiheit auf die Straße zu gehen.