Zeitdruck oder Zeit in Fülle: Eine Frage der Ökonomie? E. Dirscherl, Regensburg



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Transkript:

1 Zeitdruck oder Zeit in Fülle: Eine Frage der Ökonomie? E. Dirscherl, Regensburg 1. Der ökonomische Zeitdruck und die Notwendigkeit der Unterbrechung Nicht nur der italienische Philosoph Paul Virilio auch wir selbst erfahren in unserer Gegenwart eine zunehmende Verknappung und Beschleunigung der Zeit. Der Zeitdruck steigt, nicht nur in den Pflegeberufen, auch in der Ausbildung. Stichworte wie G 8 oder Bolognareform stehen in dem Bereich, in dem ich arbeite für das selbe Phänomen, das sie in ihren Berufen erleben. Immer mehr ist in immer weniger Zeit zu leisten. Wo haben wir noch Zeit, unsere Arbeit in Ruhe zu erledigen, wo haben wir Zeit für das Nicht-Geplante, für unsere Partner und Kinder, für Träume und Phantasien, für Hobbys, für Kunst, Musik oder Sport? Der Zeitdruck korreliert mit einem Kostendruck, denn Geld ist scheinbar die alles bestimmende Größe unserer Zeit, die sogar darüber bestimmt, wie viel Zeit uns für uns selber bleibt. Die Ökonomie, die nach Effizienz und Wirtschaftlichkeit verlangt, prägt unsere Lebenswelten fundamental, die Werbung und eine Flut von Bildern in den Medien versuchen unsere Bedürfnisse so zu lenken, dass sie der Wirtschaft nutzen. In der Wirtschaft muss alles reibungslos funktionieren, sie bestimmt den Takt unseres Lebens und sie bestimmt darüber, ob wir uns Ethik leisten können. Was ist geschehen, wenn nicht der Mensch, sondern die Ökonomie das letzte Maß abgibt und wir uns scheinbar widerstandslos einer Welt überlassen, in der wir mehr die Funktionäre eines universal vernetzten globalisierten Wirtschaftsraumes als eigenverantwortlich handelnde Personen mit je einzigartiger Bedeutung und je eigenen Freiräumen zu sein scheinen? Vielsagend ist ein Artikel aus der FAZ vom 22.10. 2010. Unter dem Titel: Sprechminute bei Dr. Schweiger wird das Phänomen beschrieben, dass sich Ärzte zu wenig Zeit für das Gespräch mit den Patienten nehmen können und festgestellt: darunter leidet alles, insbesondere auch die Gesundheit des Therapeuten. Die Überfrachtung mit nichtärztlichen Tätigkeiten in Zeiten der High-Tech-Medizin und mit zunehmenden Verwaltungsaufgaben wird dafür verantwortlich gemacht, dass kaum noch Zeit für das Gespräch bleibt. Dies ist auch deshalb zu beklagen, weil eine

2 vertrauensvolle Beziehung zwischen Patient und Arzt nicht unwichtig für den Therapieverlauf ist, ja besonders in der Onkologie und Palliativmedizin einen Einfluss auf das Befinden der Patienten hat. Gefordert wird von Thomas Cole und Nathan Carlin, eine sprechende Medizin, die auch den Ärzten selbst hilft, die immer mehr an burn out und unter Erschöpfungszuständen leiden. Wenn Institutionen den tiefen Spalt nicht erkennen, der zwischen den hohen moralisch ethischen Anforderungen des Arztberufs, die nicht mehr erfüllt werden können, und den limitierenden Umständen des Arbeitsalltags bestehen, unterminieren sie die Gesundheit ihrer Mitarbeiter. Das gilt sicher auch für das Pflegepersonal und andere Bereiche bis hinein in die Kirche. Der Zeitdruck erfasst alle Bereiche und führt zu unmenschlichem Druck. Diesen Druck müssen wir unterbrechen! Der Soziologe Hartmut Rosa stellt in seiner Untersuchung über die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne fest, dass wir keine Zeit haben, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen. 1 Das Life-Magazine warnte angesichts immer neuer technologischer Entwicklungen 1964 vor einem massiven Zeitüberfluss, der zu gravierenden psychologischen Problemen führen werde, weil uns Maschinen immer mehr Zeit ersparen. 2 Wie wir wissen kam es anders. Es kam für Rosa zu einer ständigen Erweiterung des Möglichkeitshorizontes, der zu einer Angst führte, Wichtiges zu verpassen. Die Beschleunigung lebensweltlicher Prozesse im Bereich der Informationstechnologie und der Ökonomie führen zu einer Beschleunigung sozialer und kultureller Veränderungsraten und zu dem Druck, auf dem Laufenden zu bleiben. Wer sich eine Auszeit nimmt, bekommt die Veränderungen in seinem Bereich nicht mit und muss entweder das Versäumte aufholen oder er wird im Rückstand bleiben. 3 Besonders heikel ist die Diagnose der Desynchronisation von soziökonomischer sowie wissenschaftlicher und technologischer Entwicklung auf der einen und politischem Gestaltungshandeln und Bildungsprozessen auf der anderen Seite, die zur Beschleunigung gezwungen werden und die Angst, abgehängt zu werden bei vielen forcieren. Gestaltung braucht Zeit, die aber nicht zur Verfügung steht, wenn sofort unter Druck gehandelt werden muss. Zu Recht spricht Rosa von einer Umstrukturierung der Wertordnung aus Zeitproblemen. 4 Nahezu jede Form der sozialen Anerkennung steht unter wachsendem zeitlichen Vorbehalt: Liebes- 1 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M. 2005, 11. 2 Vgl. Rosa, 11. 3 Vgl. Rosa, 14-16. 4 Rosa, 482.

3 und Freundschaftsbeziehungen geraten unter Kontingenzverdacht, und Leistungen müssen unaufhörlich erneuert und verbessert werden, wenn sie ihre Funktion der Sicherung sozialer Wertschätzung nicht verlieren sollen. Dies mag eine der wesentlichen subjektbezogenen Ursachen der oft konstatierten notorischen Unruhe und der Dominanz jener der Ideologie der Freiheit widersprechenden Rhetorik des Müssens in modernen Gesellschaften sein. 5 Rosa zitiert Ödön von Horváths Bonmot: Eigentlich bin ich ganz anders, nur komm ich so selten dazu, um die Entfremdungserfahrung, keine Zeit mehr für die wichtigen Dinge des Lebens zu haben, humorvoll zur Sprache zu bringen. 6 Aber es bleibt die nüchterne Bilanz, dass die Zeit des Heimisch- und Vertrautwerdens mit Gefühlen und Lebensstilen ebenso wie mit Bekannten und Freunden, mit Gebrauchs- und Arbeitsgegenständen uns durch die Beschleunigung mehr und mehr genommen wird. 7 Eine solcher Tag wie heute ist eine der Gelegenheiten, solche Zusammenhänge und Mechanismen zu unterbrechen, eine Auszeit zu nehmen und sich bewusst anzuschauen, was eigentlich in unserem Alltag passiert, was ihn bestimmt, was in ihm gelingt und was möglicherweise zu ändern ist, wenn uns bestimmte Vorgänge den Atem zu nehmen drohen. Johann Baptist Metz sprach davon, dass die kürzeste Definition von Religion lautet: Unterbrechung. Unterbrechen, um Innezuhalten, nachzudenken, zu handeln, zu verändern, Zeit und Raum für neues Handeln zu gewinnen. Glauben bedeutet heute Unterbrechung um des Menschen und Gottes willen. 8 2. Die Schöpfung als Haus und der Mensch als Bild Gottes: Ökonomie als verantwortete Zeit in Fülle Die biblische Rede vom Menschen als Ebenbild Gottes bedeutet, dass der Mensch Repräsentant Gottes in der Zeit ist. Wir tragen nicht nur eine Verantwortung für unser eigenes Leben, sondern auch für den Anderen, ohne den wir unser Leben nicht leben können. Wenn wir in die Welt treten, sind die Anderen schon da, vor uns. In dem Wort Verantwortung ruht das Wort Antwort. Der Mensch ist der 5 Rosa, 482. 6 Vgl. Rosa, 483. Diesen Gedanken hat Udo Lindenberg als Lied umgesetzt. 7 Rosa, 483. 8 Rosa bezieht sich in seiner Untersuchung auf W. Benjamin, (der ja auch Metz inspiriert hat) allerdings hinsichtlich einer radikalen Revolution im Dienst der Re-Synchronisation, der Entschleunigung auf ein humanverträgliches Maß (488f.).

4 Angesprochene, er ist von Anfang an in der Situation des Antwortens, denn die Welt und die Sprache beginnen nicht mit ihm, sie gehen ihm voraus. Erlauben Sie mir einen Blick auf das erste Kapitel des Buches Genesis. Hier wird erzählt, dass Gott die Welt schafft, indem er Zeit und Raum strukturiert. Er schafft durch sein Wort, er spricht und darauf hin geschieht es. Das Sprechen Gottes bedeutet wirkmächtiges Wort. Seine Sprache konstituiert Welt, Sinn und Orientierung. Das gilt analog auch für die menschliche Sprache. In ihr sprechen wir uns aus, in ihr bilden wir die Welt, in ihr geschieht Nähe zwischen uns. Das Wort Gottes ordnet das anfängliche Chaos. Das Siebentagewerk spricht von der Erschaffung der Zeit im Wechsel von Tag und Nacht, von Sonne und Mond, und von der Eröffnung des Raumes der Erde und des Himmels, in dem alle Lebewesen Platz finden, um ihr Leben zu leben. Erich Zenger hat sehr schön gezeigt, dass die Schöpfung als Haus Gottes verstanden wird, in dem die Lebewesen Wohnung finden. Gott eröffnet dem Menschen und dem Kosmos Zeit und Raum, damit sie sich entfalten können. Er schenkt Zeit in Fülle und nimmt sie nicht. Das ist der Sinn der Ökonomie Gottes. Oikonomia bedeutet ja ursprünglich Hauswesen, von gr. Oikos, Haus. Die göttliche Ökonomie meint in der Zeit der frühen Kirche die Heilsordnung in der Welt, sie spricht von der Nähe Gottes, der dem Leben Raum gibt. Erich Zenger spricht davon, dass Schöpfung göttliche Setzung des Grundwertes Leben bedeutet. Genau das aber hat ethische Konsequenzen. Ethik bedeutet grundlegend, dass wir unser Leben immer schon angesichts der Nähe anderer Menschen leben, dass über das Verhältnis zum anderen Menschen nachzudenken ist und sich die Frage stellt, in welche Verantwortung jeder von uns eingesetzt ist. Was bedeutet Verantwortung? Der Mensch als Ebenbild Gottes hat die Aufgabe als Repräsentant Gottes das Leben zu mehren und zu ermöglichen. Sein eigenes und das der Anderen. Der uns bekannte und missverständliche Begriff von der Herrschaft des Menschen über die Schöpfung bedeutet im hebr. radah eigentlich das Umherziehen des Hirten mit seiner Herde, also die Sorge um die Lebewesen. Hier wird jenes Bild des Hirten grundgelegt, das wir auch in der Rede von Gott und von Jesus Christus wiederfinden. Hirte zu sein ist die Bedeutung des Menschen! Und da die Ebenbildlichkeit des Menschen im Kontext der ägyptischen Religion eine königliche Erwählung darstellt, können wir feststellen, dass diese in der Erzählung der Gen auf alle Menschen demokratisch ausgeweitet wird: jeder Mensch ist im Besitz einer

5 königlichen Erwählung. Der eigentliche König ist Gott und damit sind wir wieder beim Gedanken der Repräsentanz: Der Mensch ist König und Hirte, er vergegenwärtigt den Schöpfer in der Schöpfung. Dazu wird ihm die Fähigkeit des Sprechens verliehen. Unsere Sprache ist schöpferisch, sie kann Leben fördern oder behindern, in der Sprache können wir uns und anderen Raum und Nähe eröffnen oder verschließen, in der Sprache kommt die Bedeutung und der Sinn unseres Tuns in die Welt. Das, was in der Zeit geschieht, erhält erst durch die Sprache seine Bedeutung. Von daher ist es bedeutsam, wenn der Mensch von Gott die Aufgabe und Fähigkeit erhält, die Lebewesen zu benennen, denn der Name steht für Bedeutung und Identität. Der Sprache kommt nicht nur im Umgang mit den anderen Menschen eine herausragende Bedeutung zu, denn in ihr, in der menschlichen Sprache offenbart sich Gott: Gottes Wort geschieht im menschlichen Wort. Der Sabbat am Ende der Schöpfungsgeschichte bringt Ruhe ins Spiel, er unterbricht das Schaffen und er bezeugt, dass dem Menschen die Ruhe Gottes vorausgeht und dass der Mensch in der Geschichte nicht so sehr die Schöpfung weitertreibt, sondern ihr antwortet. Für diese Antwort eröffnet Gott den Zeit-Raum. Der Mensch antwortet von Anfang an einem Ruf, einem Wort. Dadurch wird der Mensch aber nicht der Getriebene und unter Zeitdruck gestellte, denn: Aktivität und Ruhe gehören zusammen, beides muss im Leben Raum und Zeit erhalten. Der Sabbat lässt die Schöpfung sein, feiert ihr Dasein, das sein gelassen wird. Der Gedanke der Gelassenheit hat hier seinen Ort, er bedeutet, sein Leben auch unterbrechen und sein lassen zu können, durchzuatmen, innezuhalten, um sich darüber klar zu werden, wie viel uns im Leben geschenkt wird. Können wir genau sagen, was in unserem Leben von uns und von anderen kommt, was wir aktiv tun und passiv empfangen. Und wenn wir unser Leben und die Beziehungen, in denen wir leben, nicht selber hergestellt, sondern empfangen haben was bedeutet uns das? Können wir das Leben als Gabe zur Sprache bringen, das uns geschenkt wurde, bevor wir überhaupt etwas dafür hätten tun können. Ein unverdientes Geschenk Gnade! Kann es sein, dass dieses Wort Gnade uns heute so altertümlich erscheint, weil wir meinen, uns alles verdienen zu müssen, weil uns in der Ökonomie des Geldes die Ökonomie Gottes in Vergessenheit zu geraten droht. Hier ist der Sabbat für die Juden wie der Sonntag für die Christen nicht nur eine Oase der Ruhe und Unterbrechung, sondern auch ein Erinnern dieser Gnade: Die Zeit, die wir haben, sie

6 ist uns geschenkt und eröffnet von einem Anderen. Kann uns das für einen Moment entlasten und uns die Anspannung nehmen, immer aktiv sein zu müssen? Der französische Theologe P. Gisel sagt: Ich bin nicht ursprünglich. Ich komme hernach. Ich finde von Geburt an eine Schöpfung vor, die schon gesprochen worden ist, hoheitlich, souverän, denn eben dies hat sie zur Schöpfung gemacht. Ich kann also nur antworten, meinerseits das Wort ergreifen. Ich bin geschaffen. Diese Vergangenheit und diese Gegebenheit bezeichnen einen geschehenen Abschluss. Ich komme erst hernach. Hier finden wir das Phänomen der Verantwortung und Nachfolge vor. Gott ruft uns ins Dasein, er eröffnet und lässt dem Menschen einen Zeit-Raum, in dem dieser in Freiheit dem zuvor ergangenen Wort Gottes antworten kann. Mit der Schöpfung ist die Zeit erschaffen, die zwischen Schöpfer und Schöpfung geschieht, und damit wird der Anfang eines spannenden Beziehungsgeschehens in der Geschichte gesetzt. 3. Jesus angesichts seines nahen Todes: Zeitverknappung oder Präsenz für alle? Jesus hat den Tod vor Augen, er weiß, wohin ihn sein Weg führen wird. Wenn der Tod kommt, wie viel Zeit bleibt da dem Menschen noch? Was fängt der Mensch mit seiner Zeit an, wenn das Ende naht? Der nahe Tod löst auch bei Jesus menschliche Gefühle der Angst und Not aus. Er sucht das Gebet, er sucht seinen Vater. Er ringt mit dem Willen Gottes, er bittet die Jünger, mit ihm zu wachen, aber sie schlafen. Jesus fühlt eine Verlassenheit. Der Tod steht für eine letzte Verlassenheit. Er ist unausweichlich, wir müssen uns ihm stellen, keiner kann uns hier vertreten. Petrus findet zu einer Panikattacke und will die Situation durch das Schwert lösen und Jesus mit Gewalt vor dem Tod bewahren. Doch er muss sich den Satz anhören: wer das Schwert zieht, wird durch das Schwert umkommen. Jesus hat nicht mehr viel Zeit, er will sich seinem Schicksal, in dem er den Willen Gottes erblickt, nicht entziehen, er will seinen Weg für Gott und für die Menschen konsequent zu Ende gehen, auch wenn seine Zeit zu Ende geht. Müsste Jesus nicht als Sohn Gottes mit siegesgewisser Überzeugung und ohne Hadern seinen Weg gehen? Widersprechen Zweifel und Angst nicht seiner Göttlichkeit? Aber auch hier haben wir es mit einer Spannung zu tun: Jesus Christus ist wahrer Mensch und wahrer Gott. Beides muss zur Sprache kommen! Nicht nur Johannes Paul II. rang mit

7 diesem Phänomen und sprach davon, dass der Sohn Gottes, um wirklich wie wir ein Mensch zu sein, auf jedes göttliche Wissen verzichtet hat. Er wollte wie wir Menschen fühlen, glauben und hoffen, sein Leben einem Gott anvertrauen, den er von Kind auf als Gott Abrahams, Issaks und Jakobs kennengelernt hat, und dessen Herrschaft und d.h. Gegenwart er in der Welt zum Durchbruch verhelfen will. Im Menschsein Jesu und seiner Lebenszeit geschieht die Gegenwart Gottes. Jesus spürt, dass die Zeit knapp wird. Was tut er? Er füllt die Zeit, die ihm bleibt, mit einer Geste, die bis heute identitätsstiftender Grund unseres Glaubens ist. Es geht um ihn und um uns, um sein Leben und um unser Leben. Es ist das letzte Mahl mit den Seinen, kurz vor seinem Tod. Er nimmt sich Zeit für die Seinen und für sich. Es geht um die Frage, was bleiben wird. Welche Spuren hat und wird er hinterlassen. Versetzen wir uns doch in diese zeit vor seinem Tod, die noch nicht weiß, was alles geschehen wird. Jesus hat wie wir eine offene Zukunft vor sich, die ihm alle Hoffnung abverlangt. Wüsste er sicher, was passieren, dass er am dritten Tage auferstehen würde was wäre das für eine Hoffnung, die mit dem sicheren Sieg rechnen kann? Wozu Angst und Sorgen, wozu dann flehende Gebete zum Vater? Jesus als der ewige Logos, als das Wort Gottes, ist ganz und gar in die Zeit eingetreten, wo eine göttliche Allwissenheit der zeitlichen Abfolge unterworfen wird. Er setzt sich unserem Zeitlauf aus, in dem wir nicht schon alles wissen und die Zukunft kennen können. Dennoch aber müssen wir Entscheidungen treffen, die für die Zukunft bedeutsam sind. Wie können wir das wagen? Worauf können wir uns verlassen? Jesus stellt sich die Fragen auch. Er verlässt sich radikal auf Gott, auf seine Jünger kann er sich anscheinend nicht verlassen, das zeigt der Verrat des Petrus, der ihn dreimal verleugnet, ebenso wie der Schlaf der Jünger und der Verrat aus den eigenen Reihen. Er verlässt sich auf Gott und auf sich selber. Er will sich dem Willen Gottes überlassen, er setzt sich Gott und den Menschen aus. Und er reicht den Jüngern das Brot mit den Worten: mein Leib für euch. An diesem Abend vor seinem Tod steht Jesu Identität auf dem Spiel, die er, trotz ihrer Schwächen und ihres Versagens, an die Identität seiner Jünger bindet: Tut dies zu meinem Gedächtnis. Das was geschehen ist, wird als Spur der Erinnerung eingegraben und kann somit lebendige Gegenwart bleiben. Jesus hat für die Menschen gelebt und für Gott, er hat Menschen Zeit und Raum für ihr Leben, für Umkehr, Heilung, Tröstung und Vergebung geschenkt, er wollte, dass sie menschlich leben können und er wusste,

8 dass sie der helfenden Nähe Gottes bedürfen, die immer wieder im Alltag verschüttet zu werden droht. Er hat den Menschen die Augen für eine Leben spendende Gegenwart Gottes eröffnet, die sie entdecken konnten wie die Kraft eines unscheinbaren Samenkorns, das zum Schatz und zur Kraftquelle für die Zukunft werden kann. Wenn diese verborgene Gegenwart Gottes von uns entdeckt wird, dann kann sie wirken und sich entfalten, für uns und für die anderen in unserer Nähe. Jesus Christus steht für diese Leben spendende Nähe Gottes und daher gibt er sich und seine Zeit den anderen im Zeichen des Brotes. Wer von diesem Brot isst, tritt in die Gegenwart Jesu Christi ein und er tritt in unsere Gegenwart ein. Seine Gegenwart ist beim letzten Abendmahl für Gott und die Menschen unendlich geöffnet, eine große Weite in dem kleinen Zimmer des Abendmahles. Er schenkt seine Zeit und d.h. sein Leben auch angesichts des Todes den Menschen, er verschließt sich nicht in Angst und Trauer, sondern holt alle in seine Hoffnung hinein, die die Gegenwart überdauern wird. Diese Gegenwart ist grenzenlos offen, er teilt seine Zeit mit uns, in seinem Leben und seinem Sterben. Er schließt uns und auch die schwachen Jünger aus seinem Leben und seiner Zeit nicht aus, sondern vertraut sich uns und ihnen an, im Wissen um unsere Stärken und Schwächen. Welches Vertrauen kommt uns entgegen! Wir neigen wie die Jünger dazu, nur unsere Stärken oder unsere Schwächen in den Mittelpunkt zu stellen, entweder himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt zu sein. Jesus führt uns in einen wohltuenden Abstand zu unserem Leben, so dass wir beides entdecken können: Glücken und Scheitern. Er weiß, dass seine Jünger mit ihm treu unterwegs waren, viel Gutes getan haben, dass sie von Zweifeln geschüttelt wurden und doch wieder zu ihm hielten, dass sie der Vergebung und Versöhnung bedürfen, die Jesus ihnen im Namen des liebenden und verzeihenden Gottes immer neu gewährt. Auch in Verstrickungen von Schuld wird uns wieder neuer Raum und neue Zeit eröffnet, kann in der Zeit wieder gut werden, was zuvor zerbrochen war. Zeit ist heilsame Beziehung, ein Bote Gottes, wie Papst Franziskus sagt. Auferweckung bedeutet, dass diese zeitliche und durch den Tod bedrohte begrenzte Präsenz Jesu von Gott verwandelt wird in eine ewige Präsenz, die für alle reicht. Tod bedeutet, in die Liebe Gottes hinein zu sterben, die schon in unserem Leben geschieht und die nicht enden wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis: Dies ist der Appell an unsere Verantwortung: wie gehst du mit dem Schatz der Zeit um, in der Gott wohnt? Was geschieht für dich

9 in der Zeit? Bist du dir bewusst, dass du in der Haltung Jesu lebst, wenn du deine Zeit mit anderen teilst? Bist du dir bewusst, dass die Zeit, die du dir nimmst für dich, Zeit werden wird, die anderen zugute kommt? So wie Jesus sich die Zeit nimmt, zu fragen was bleibt und das Bleibende anderen anvertraut, damit es grenzenlos wachsen und immer neu Raum und Zeit für das gelungene Leben der Menschen eröffnen kann, so können auch wir mit der Zeit umgehen und darin die Gegenwart Gottes, die Liebe zwischen uns spürbar werden lassen. Papst Franziskus ruft uns daher zu einer Revolution der Zärtlichkeit im Umgang miteinander auf. Wir haben die Zeit in Fülle, warum unterbrechen wir nicht den unmenschlichen Zeitdruck unserer Zeit um des Menschen willen?