Friedrich Nietzsche DER WANDERER UND SEIN SCHATTEN

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Transkript:

Friedrich Nietzsche DER WANDERER UND SEIN SCHATTEN Zweiter und letzter Nachtrag zum Buch für freie Geister Anaconda

Der Wanderer und sein Schatten bildet die zweite Abteilung des zweiten Bandes der Sammlung Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, die Nietzsche als solche 1886 bei Fritzsch in Leipzig herausgab. Die Einzelausgabe erschien zuerst im Dezember 1879 bei Schmeitzner in Chemnitz unter dem Titel Menschliches, Allzumenschliches. Zweiter und letzter Nachtrag: Der Wanderer und sein Schatten. Der Text des vorliegenden Bandes folgt der Ausgabe Stuttgart: Kröner, 8. Auflage 1978. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte biblio graphische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2012 Anaconda Verlag GmbH, Köln Alle Rechte vorbehalten. Umschlagmotive: Hand stencil-dyed paper, Japanese School (20th century), FuZhai Archive/bridgemanart.com (Fond). istockphoto, Illych (Ahornblatt) Umschlaggestaltung: Druckfrei. Dagmar Herrmann, Köln Satz und Layout: Roland Poferl Print-Design, Köln Printed in Czech Republic 2012 ISBN 978-3-86647-746-9 www.anacondaverlag.de info@anacondaverlag.de

Der Schatten: Da ich dich so lange nicht reden hörte, so möchte ich dir eine Gelegenheit geben. Der Wanderer: Es redet: wo? und wer? Fast ist es mir, als hörte ich mich selber reden, nur mit noch schwächerer Stimme als die meine ist. Der Schatten (nach einer Weile): Freut es dich nicht, Gelegenheit zum Reden zu haben? Der Wanderer: Bei Gott und allen Dingen, an die ich nicht glaube, mein Schatten redet; ich höre es, aber glaube es nicht. Der Schatten: Nehmen wir es hin und denken wir nicht weiter darüber nach, in einer Stunde ist alles vorbei. Der Wanderer: Ganz so dachte ich, als ich in einem Walde bei Pisa erst zwei und dann fünf Kamele sah. Der Schatten: Es ist gut, daß wir beide auf gleiche Weise nachsichtig gegen uns sind, wenn einmal unsere Vernunft stille steht: so werden wir uns auch im Gespräche nicht ärgerlich werden und nicht gleich dem andern Daumenschrauben anlegen, falls sein Wort uns einmal unverständlich klingt. Weiß man gerade nicht zu antworten, so genügt es schon, etwas zu sagen: das ist die billige Bedingung, unter der ich mich mit jemandem unterrede. Bei einem längeren Gespräche wird auch der Weiseste einmal zum Narren und dreimal zum Tropf. Der Wanderer: Deine Genügsamkeit ist nicht schmeichelhaft für den, welchem du sie eingestehst. Der Schatten: Soll ich denn schmeicheln? Der Wanderer: Ich dachte, der menschliche Schatten sei seine Eitelkeit; diese aber würde nie fragen:»soll ich denn schmeicheln?«der Schatten: Die menschliche Eitelkeit, soweit ich sie kenne, fragt auch nicht an, wie ich schon zweimal tat, ob sie reden dürfe: sie redet immer. 5

Der Wanderer: Ich merke erst, wie unartig ich gegen dich bin, mein geliebter Schatten: ich habe noch mit keinem Worte gesagt, wie sehr ich mich freue, dich zu hören und nicht bloß zu sehen. Du wirst es wissen, ich liebe den Schatten, wie ich das Licht liebe. Damit es Schönheit des Gesichts, Deutlichkeit der Rede, Güte und Festigkeit des Charakters gebe, ist der Schatten so nötig wie das Licht. Es sind nicht Gegner: sie halten sich vielmehr liebevoll an den Händen, und wenn das Licht verschwindet, schlüpft ihm der Schatten nach. Der Schatten: Und ich hasse dasselbe, was du hassest, die Nacht; ich liebe die Menschen, weil sie Lichtjünger sind und freue mich des Leuchtens, das in ihrem Auge ist, wenn sie erkennen und entdecken, die unermüdlichen Erkenner und Entdecker. Jener Schatten, welchen alle Dinge zeigen, wenn der Sonnenschein der Erkenntnis auf sie fällt, jener Schatten bin ich auch. Der Wanderer: Ich glaube dich zu verstehen, ob du dich gleich etwas schattenhaft ausgedrückt hast. Aber du hattest recht: gute Freunde geben einander hier und da ein dunkles Wort als Zeichen des Einverständnisses, welches für jeden dritten ein Rätsel sein soll. Und wir sind gute Freunde. Deshalb genug des Vorredens! Ein paar hundert Fragen drücken auf meine Seele, und die Zeit, da du auf sie antworten kannst, ist vielleicht nur kurz. Sehen wir zu, worüber wir in aller Eile und Friedfertigkeit miteinander zusammenkommen. Der Schatten: Aber die Schatten sind schüchterner als die Menschen: du wirst niemandem mitteilen, wie wir zusammen gesprochen haben! Der Wanderer: Wie wir zusammen gesprochen haben? Der Himmel behüte mich vor langgesponnenen, schriftlichen Gesprächen! Wenn Plato weniger Lust am Spinnen gehabt hätte, würden seine Leser mehr Lust an Plato haben. Ein Gespräch, das in der Wirklichkeit ergötzt, ist, in Schrift verwandelt und 6

gelesen, ein Gemälde mit lauter falschen Perspektiven: Alles ist zu lang oder zu kurz. Doch werde ich vielleicht mitteilen dürfen, worüber wir übereingekommen sind? Der Schatten: Damit bin ich zufrieden; denn alle werden darin nur deine Ansichten wiedererkennen: des Schattens wird niemand gedenken. Der Wanderer: Vielleicht irrst du, Freund! Bis jetzt hat man in meinen Ansichten mehr den Schatten wahrgenommen als mich. Der Schatten: Mehr den Schatten als das Licht? Ist es möglich? Der Wanderer: Sei ernsthaft, lieber Narr! Gleich meine erste Frage verlangt Ernst. 7

1 Vom Baum der Erkenntnis. Wahrscheinlichkeit, aber keine Wahrheit: Freischeinlichkeit, aber keine Freiheit, diese beiden Früchte sind es, derentwegen der Baum der Erkenntnis nicht mit dem Baum des Lebens verwechselt werden kann. 2 Die Vernunft der Welt. Daß die Welt nicht der Inbegriff einer ewigen Vernünftigkeit ist, läßt sich endgültig dadurch beweisen, daß jenes Stück Welt, welches wir kennen ich meine unsre menschliche Vernunft, nicht allzu vernünftig ist. Und wenn sie nicht allezeit und vollständig weise und rationell ist, so wird es die übrige Welt auch nicht sein; hier gilt der Schluß a minori ad majus, a parte ad totum, und zwar mit entscheidender Kraft. 3»Am Anfang war.«die Entstehung verherrlichen das ist der metaphysische Nachtrieb, welcher bei der Betrachtung der Historie wieder ausschlägt und durchaus meinen macht, am Anfang aller Dinge stehe das Wertvollste und Wesentlichste. 4 Maß für den Wert der Wahrheit. Für die Höhe der Berge ist die Mühsal ihrer Besteigung durchaus kein Maßstab. Und in der Wissenschaft soll es anders sein! sagen uns einige, die für eingeweiht gelten wollen, die Mühsal um die Wahrheit soll gerade über den Wert der Wahrheit entscheiden! Diese tolle Moral geht von dem Gedanken aus, daß die»wahrheiten«eigentlich nichts weiter seien, als Turngerätschaften, an denen wir uns wacker müde zu arbeiten hätten, eine Moral für Athleten und Festturner des Geistes. 8