Predigt am 9. Mai 2010 zu Psalm 98,1-6 Kreuzkirche Reutlingen Pfarrerin Astrid Gilch-Messerer und Kantorei Liebe Gemeinde, es gab einmal ein Plakat für einen Kirchentag in der damaligen DDR, das zeigte einen Vogel, der hoch oben auf einer Hochspannungsleitung sitzt und sein Lied trällert. Der Hintergrund des Plakates ist tiefschwarz bis auf die hell leuchtende Schriftzeile, die das Motto jenes Kirchentages angab: Vertrauen wagen, damit wir leben können. Das Plakat hat damals viele Menschen angesprochen, und auch mir hat es sehr gefallen. Manche sahen darin auch eine vorsichtige Anspielung auf die politischen Verhältnisse in der DDR. Singt der Vogel, ohne zu wissen, auf welcher Hochspannung er sitzt? Singt er trotz der dunklen Nacht, vielleicht, um sich selber Mut zu machen? Oder singt der Vogel schon von dem Morgen, weil die Mitternacht zugleich der Anfang eines neuen Tages ist? Vielleicht singt er deshalb: Weil er weiß, dass die Nacht nicht endlos ist. Gott sei Dank. Weil er in der Nacht schon den neuen Tag heraufziehen sieht. In unserem Gesangbuch gibt es unter den Lobliedern ein kleines Gedicht, das das Bild von dem Vogel aufnimmt, der mitten in der Nacht ein fröhliches Lied pfeift. Ich habe es auch auf dem Gottesdienstblatt abgedruckt. 1
Vögel singen in einer Welt die krank lieblos ungerecht ist vielleicht haben sie recht Vielleicht haben sie Recht Ob das eine Antwort ist? Eine vorsichtige Antwort auf die Frage, warum der Vogel auf der Hochspannungsleitung mitten in der Nacht sein Lied singt? Ob das eine Antwort ist auch auf die Frage: Wie kann man in einer so finsteren Welt noch singen? Wie kann man in einer Welt, die uns oft krank, lieblos und ungerecht vorkommt, von Heil singen? Von Liebe? Von Frieden und Gerechtigkeit? Heute haben wir viel Musik im Gottesdienst. Festliche, strahlende Musik, die unser Herz leicht und hell machen soll. Schauen wir genauer hin. Vivaldi hat sein Gloria zu der Zeit geschrieben, als er Musiklehrer am Ospedale della Pietà in Venedig war. Das Ospedale della Pietà war ein Heim für Mädchen, die 2
unerwünscht waren oder zu viel und deshalb ausgesetzt wurden, vielleicht vergleichbar mit unseren modernen Babyklappen. Trotz oder wegen ihres schweren Starts ins Leben hinein: Diese Mädchen sollten einmal Ehemänner finden, damit sie versorgt waren, und bekamen deshalb eine musikalische Ausbildung als Chorsängerinnen und die Begabteren als Gesangssolistinnen oder Instrumentalistinnen. Für diesen Mädchenchor und das Schülerinnenorchester dort hat Vivaldi dieses Gloria wohl komponiert und es auch im Gottesdienst mit ihnen musiziert. Keine heile Welt also, auch damals, bei der Entstehung und Aufführung dieser großartigen Musik nicht. Und dennoch dieser festliche, strahlende Klang. Auch wir heute Morgen singen und musizieren in einer Welt, die krank lieblos ungerecht ist Vielleicht haben wir dennoch - Recht. Vielleicht haben wir Recht, wenn wir mit unseren Liedern daran erinnern, dass Krankheit und Tod, Lieblosigkeit und Ungerechtigkeit nicht das letzte Wort behalten müssen. 3
Dass in unserem Leben und Zusammenleben nicht allein die Dissonanzen tonangebend sind, sondern dass es Gott sei Dank! darüber hinaus noch eine andere Melodie gibt. Eine neue Melodie, ein neues Lied, das Gott selbst an Ostern angestimmt hat. Ein Lied der Freude und der Hoffnung: Das Leben ist stärker als der Tod. Wir sollen, wir werden leben. Und wir sollen, wir können einander zum Leben verhelfen. Auch wenn mir im Augenblick nicht zum Singen zumute ist: Vielleicht singen andere dieses neue Lied stellvertretend auch für mich. Vielleicht singen sie mir das zu, was ich mir, zumindest nicht jetzt, nicht selber zusagen kann, nicht selber geben kann, obwohl ich es doch gerade jetzt so dringend brauche: Trost, Mut, Hoffnung. Einen Silberstreif am Horizont meines Lebens. Dass mich jemand aus dem momentanen Tief herausreißt und ich wieder auf andere, auf bessere Gedanken komme. Also doch, trotzdem, und vielleicht gerade deshalb: Singt! Im 98. Psalm heißt es: Singet dem HERRN ein neues Lied, denn er tut Wunder. Er schafft Heil mit seiner Rechten und mit seinem heiligen Arm. 4
2 Der HERR lässt sein Heil kundwerden; vor den Völkern macht er seine Gerechtigkeit offenbar. 3 Er gedenkt an seine Gnade und Treue für das Haus Israel, aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes. 4 Jauchzet dem HERRN, alle Welt, singet, rühmet und lobet! 5 Lobet den HERRN mit Harfen, mit Harfen und mit Saitenspiel! 6 Mit Trompeten und Posaunen jauchzet vor dem HERRN, dem König! Liebe Gemeinde, dieser Psalm singt von einer großen Hoffnung. Sie klingt, wie wenn ein Vogel mitten in der Nacht vom hellen Morgen singt. Und wir sind eingeladen, uns diesen weiten Blick zu Eigen zu machen. Vielleicht haben wir Christinnen und Christen Recht, wenn wir unsere Lieder singen: alte und neue Kirchenlieder, Kantaten, Gospels und Choräle. Auch wenn wir die großen Worte von Psalm 98 nur in kleinen Münzen eingelöst sehen: Gut, dass wir dennoch singen! Für Martin Luther jedenfalls war die Musik die beste Gottesgabe: Denn durch die Musik werden viele und große Anfechtungen verjagt. 5
Musik ist der beste Trost für einen verstörten Menschen, auch wenn er nur ein wenig zu singen vermag. Sie ist eine Lehrmeisterin, die die Leute gelinder, sanftmütiger und vernünftiger macht. Ich wünsche uns allen, dass die Musik auch bei uns ihre Wirkung tut nicht nur heute, sondern jeden Tag aufs Neue. Amen. Pfarrerin Astrid Gilch-Messerer 6