Es geht um Poesie. Schönste Texte der deutschen Romantik Herausgegeben von Anne Bohnenkamp Erschienen bei FISCHER Taschenbuch Frankfurt am Main, November 2013 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Friedrich Schlegel: Aus den Notizen Zur Philosophie, 1803 1807 (Freies Deutsches Hochstift/ Frankfurter Goethe-Museum, Hs-13540)
Vorwort»Wäre es nicht richtiger die [Poesie] in das Centrum zu setzen?«diese Frage Friedrich Schlegels beantworten die Dichter und Denker der deutschen Frühromantik entschieden mit Ja: Schlegels Notiz aus einem Konvolut mit Entwürfen Zur Philosophie (1803 1807) findet sich neben einer Skizze, die sich als Visualisierung des frühromantischen Konzepts einer Universalpoesie lesen lässt. Die Poesie wird hier in den Mittelpunkt eines Diagramms gesetzt, das alle anderen Bereiche»Politik Historie Kritik Aesthetik Physik Religion Mathematik Philosophie«um diese Disziplin der Disziplinen kreisen lässt: In der Poesie kreuzen, spiegeln und steigern sich alle Formen menschlicher Welterkundung. Friedrich von Hardenberg (Novalis) beschreibt in einem seiner berühmtesten Fragmente die Romantisierung der Welt als Vorgang einer qualitativen Potenzierung, bei der das Vertraute fremd und das Fremde vertraut werde: Die Poesie»in das Centrum zu setzen«bedeutet für die Romantiker, die Welt mit anderen, neuen Augen wahrnehmbar zu machen. Die bis heute nachwirkenden Innovationen der romantischen Epoche beschränken sich dabei keineswegs auf Literatur, sie beziehen Natur- und Geschichtswissenschaften ebenso ein wie Kultur- und Bildungspolitik. 9
Über die Frage, was denn die Romantik oder das Romantische sei, ist viel geschrieben worden. Schon die Romantiker selbst beteiligten sich an den Versuchen einer Bestimmung dieses Begriffs, dessen Weite und Wandelbarkeit, alltagssprachliche Verwässerung und ideologischer Missbrauch zu einer Fülle unterschiedlicher Verwendungsweisen geführt haben, die es ratsam scheinen lassen könnten, dieses problematische Etikett ganz zu vermeiden. In einem»gespräch über das Romantische«, das Clemens Brentano in seinen»verwilderten«, frühromantischen Roman Godwi aufgenommen hat, beschreiben die Romanfiguren das Romantische als»übersetzung«oder»perspectiv«. Das Wesen des Romantischen liegt damit nicht in der Bevorzugung bestimmter Gegenstände, sondern in der Art ihrer Wahrnehmung und Vermittlung:»Das Romantische ist also [ ] die Farbe des Glases und die Bestimmung des Gegenstandes durch die Form des Glases«. Wortgeschichtlich geht der Ausdruck Romantik wie der Roman auf die Bezeichnung der Volkssprachen ( lingue romane ) im Gegensatz zum gelehrten Latein zurück; das Adjektiv romantisch bedeutete daher auch romanartig und zwar in einem zunächst durchaus abwertenden Sinne von unnatürlich und ausgedacht, bis mit der Aufwertung der Kategorien des Wunderbaren und der Einbildungskraft eine neue Hochschätzung von Roman und Phantasie einsetzt. Später wird der Begriff Romantik auch zur Bezeichnung der christlich-mittelalterlichen Kunst verwendet, während er den Frühromantikern zur Benennung der eigenen Tätigkeit dient und bald auch z.b. für Heinrich Heine zur polemischen Charakterisierung einer bestimmten Strömung der eigenen Gegenwart, von der es 10
sich abzusetzen gilt. Ende des 19. Jh.s befestigt Ricarda Huch die schon von Eichendorff eingeführte Vorstellung von verschiedenen Entwicklungsphasen der Epoche Blütezeit, Ausbreitung und Verfall, die sich in der Literaturgeschichte als Frühromantik, Hochromantik oder mittlere Romantik und Spätromantik wiederfindet. In den letzten Jahrzehnten hat die literatur- und kunsthistorische Forschung allerdings herausgearbeitet, dass das vertraute Ordnungsschema der goethezeitlichen Epochenfolge (Sturm und Drang Klassik Romantik Vormärz als historisch einander ablösende Phasen) nicht haltbar ist und dass es angemessener ist, von Strömungen innerhalb einer Epoche zu sprechen. Und die Forschung zeigt, dass die klassischen (bzw. klassizistischen) und romantischen Kunstauffassungen wesentlich enger zusammenhängen, als die herkömmliche Vorstellung von diametral einander entgegengesetzten Richtungen nahelegt. Zusätzlich kompliziert wird die Bestimmung von Romantik für uns heute auch dadurch, dass die angelsächsisch geprägte internationale Verwendung des Begriffs die deutsche Unterscheidung zwischen Klassik und Romantik wenig berücksichtigt, vielmehr die von Entdeckung und Hochschätzung der Individualität gekennzeichnete Epoche generell als Ära des Romanticism bezeichnet und Goethe als den wichtigsten deutschen Vertreter dieser europäischen Schlüsselepoche sieht. Obwohl wir aus deutscher Perspektive im Sinne von Goethes Diktum»Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke«gewohnt sind, Goethe und die Romantiker als Antipoden zu betrachten, ist nicht zu bestreiten, dass Goethe zu den entscheidenden Wegbereitern der neuen Epoche gehört und europaweit so wahrgenommen wurde: Was könnte romanti- 11
scher sein als der Götz, der Werther, der frühe Faust? Während die nachfolgende Generation der deutschsprachigen Schriftsteller von Goethe fasziniert ist, sich aber auch von ihm abzusetzen strebt, reagiert dieser im hohen Alter höchst produktiv auf die vielfältige Rezeption seines eigenen Frühwerks durch die Vertreter der europäischen Romantik mit der Idee einer sich aktuell und im Dialog mit den europäischen Romantikern entwickelnden Weltliteratur und realisiert z. B. im Faust II dessen Helena-Akt ausdrücklich zur Versöhnung des»zwiespalts zwischen Classikern und Romantikern«geschrieben ist eine ganz eigene Synthese der Gegensätze. Die Situation am Großen Hirschgraben in Frankfurt am Main eröffnet gegenwärtig die Möglichkeit, die historische Konstellation dieser europäischen Schlüsselepoche auf dem Weg in die Moderne neu in den Blick zu nehmen: In unmittelbarer Nachbarschaft zu dem detailgetreu rekonstruierten Wohnhaus der Familie Goethe und der Gemäldegalerie der Goethezeit, zu der sich das 1897 gegründete und zunächst allgemein biographisch ausgerichtete Goethemuseum seit Ernst Beutler entwickelt hat, sammelt das Freie Deutsche Hochstift seit einem Jahrhundert Manuskripte der deutschen Romantiker sowie Zeugnisse der Bildenden Kunst und der Alltagskultur dieser Epoche. Diese Schätze der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und der Romantik einen Erinnerungsort zu geben war schon geplant, als das dafür ursprünglich vorgesehene Gebäude das nahe dem Goethehaus gelegene Stammhaus der Frankfurter Kaufmannsfamilie Brentano im Krieg zerstört wurde. Heute nun bietet sich durch das Freiwerden des südlich angrenzenden Nachbargrundstücks die einmalige Chance, das Ensemble von 12
Goethehaus und Goethemuseum endlich um den fehlenden öffentlichen Ort für die Literatur der Romantik zu erweitern. Ein Literaturmuseum der deutschen Romantik eröffnet zum einen die Möglichkeit, am Großen Hirschgraben tatsächlich die Poesie»in das Centrum zu setzen«. Zum andern fordert es im Sinne der romantischen Programmatik einer progressiven Universalpoesie sowohl die Einbeziehung der anderen Künste als auch die Berücksichtigung der natur- und geisteswissenschaftlichen Innovationen als auch die kritische Reflexion der heterogenen politischen Positionen der deutschen Romantiker, die von der Begeisterung für die Französische Revolution über liberale, aber auch nationalistische und antisemitische Positionen bei manchen der mittleren und späten Romantiker bis zu den sozialkritischen Schriften Bettine von Arnims reichen. Die Konzeption des Museums wird sich an den ästhetischen Verfahren der Romantik orientieren und das weite Spektrum der Themen und Protagonisten so vorstellen, dass dabei sowohl die vielfältigen Grenzüberschreitungen der Literatur zur Bildenden Kunst und zur Musik einbezogen werden als auch die Medienreflexion der Romantik. Es ist die Vision eines Ortes, an dem die interdisziplinär und intermedial geprägte Epoche der Romantik, ausgehend von den zentralen literarischen Zeugnissen, in ihrem Facettenreichtum und ihrem Fortwirken erfahrbar sein wird. In einer Kombination von Dauer- und Wechselausstellung sollen die europäische Romantik und auch die weitreichenden Folgen sowie die aktuellen Spielarten der romantischen Geisteshaltung einbezogen werden. Denn der Einspruch gegen den Status quo, das Bedürfnis nach Transzendenz und Überschreitung, kurz: das Prinzip Sehn- 13
sucht und die damit verbundenen ästhetischen Verfahren der Verfremdung reichen weit über die Epoche hinaus. Die vorliegende Anthologie kann nur einige der schönsten Texte der deutschen Romantik versammeln und erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität. Aus pragmatischen Gründen liegt ein Schwerpunkt auf Gedichten und Briefen, da die berühmten Erzählungen und die weit unbekannteren Dramen fast alle zu umfangreich sind. Meine Auswahl bietet von Wackenroders emphatischem Freundschaftsbrief an Ludwig Tieck bis zu Heinrich Heines spätem Gedicht Der Asra einen chronologisch geordneten Leseweg durch die vielgestaltige Zeit der Romantik. Sie möchte Lust machen auf fortgesetzte Lektüre und auf ein Deutsches Romantik-Museum, das nicht zuletzt die romantische Utopie einer Emanzipation der Literatur aus der Bindung an die einsame Lektüre in unsere heutige Zeit tragen will: im experimentellen und multimedialen Raum einer Ausstellung des 21. Jh.s, die dabei gleichzeitig den alten Medien der Handschrift und dem Buch gewidmet sein wird. Das Freie Deutsche Hochstift dankt dem S. Fischer Verlag für Idee und Realisierung dieser Anthologie zur Unterstützung des geplanten Romantik-Museums. Bei der Auswahl der Texte haben mich Julia Afifi, Claudia Bamberg, Wolfgang Bunzel, Gerhard Kurz, Ingrid Mittenzwei, Renate Moering, Dietmar Pravida und Joachim Seng beraten, deren viele gute Vorschläge leider nicht alle Platz fanden. Bei der Realisierung des Bandes halfen mir Selina Reimer und vor allem Charlotte Köhler. Allen gilt mein herzlicher Dank. Anne Bohnenkamp Frankfurt am Main im Sommer 2013