Unverkäufliche Leseprobe Der Babylon Code Thriller von Uwe Schomburg ISBN 978-3-404-15880-5 2008 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Kapitel 1 Osmanisches Reich Distrikt Mesopotamien 1916 Babylon. Welch ein Klang. Tausende von Jahren menschlichen Daseins hallen in diesen drei Silben wider. Größe, Macht, Eroberung und Zerstörung, mächtige Mauern und kriegerische Herrscher, Hammurapis Gesetze und der Turmbau zu Babel. Nichts davon war noch zu sehen. Nur noch Schutthügel. Die einstige Größe war zerfallen, Erde zu Erde, Staub zu Staub. Karl Steiner und Albert Krüger kauerten auf dem quadratischen Schutthügel namens Babil, der die nördliche Grenze des alten Babylons bildet. Allein der Name des Hügels erinnerte an die einstige Macht und Pracht Babylons. Babil ragte mit seinen steilen Böschungen turmhoch aus der Ebene heraus und zog sich über einen viertel Kilometer hin. Seine lehmige Oberfläche war zerklüftet, von Schächten und Stollen durchzogen wie ganz Babylon. Seit der Römerzeit hatten Diebe überall im Gelände Gräben ausgehoben, um die gebrannten Lehmziegel zu rauben. Sie waren längst wieder in Häusern, Kornkammern und Staudämmen verarbeitet worden, während die ungebrannten Lehmziegel ein Festschmaus für Hitze, Sonne und Wasser geworden waren. Zerstört. Schutt. Steiner roch seinen eigenen Schweiß. Es war kurz vor Sonnenuntergang, aber die Luft flimmerte immer noch vor Hitze, 12
und der Euphrat, nur mehr ein Rinnsal, brachte keine Abkühlung. Seine dünne Kleidung aus Hose und langem Oberteil war zwar wüstentauglich, aber sie waren in brütender Hitze aus Bagdad kommend durch die Wüste gefahren. Sie hatten einen der wenigen fahrtüchtigen Laster requiriert, über die die 6. Osmanische Armee in Bagdad noch verfügte. Der 3-Tonner-Opel stand hinter dem Hügel, weit genug von den Ausgrabungen entfernt, um nicht bemerkt zu werden. Ein letztes Mal mit dem Wüstenwind den Hauch der einstigen Größe spüren, dachte Karl Steiner, vor dem geistigen Auge Paläste und Mauern wieder aufleben lassen... Er hatte dieser Vorstellung nicht widerstehen können. In ihrer kauernden Haltung verschmolzen sie mit den Spalten und Klüften des Hügels. Sie waren aus der Ferne nicht auszumachen und konnten doch selbst die Reste der ehemaligen Königsstadt überblicken, würden frühzeitig jede Bewegung bemerken. Nichts als grau-braune Wüste erstreckte sich bis in die Ferne, die nur von einem grünen Gürtel aus Dattelpalmen an den Ufern des Euphrat unterbrochen wurde. Der Flusslauf lag einen knappen Kilometer westlich des Hügels; er näherte sich aus Nordwest kommend der Stadt, um dann in einem Knick leicht nach Westen einzuschwenken und entlang der Ruinen Richtung Süden zu fließen. Die Dattelpalmen wuchsen beiderseits des Flusses etwa einen halben Kilometer in das Land hinein, dann beendete die Wüste schlagartig die grüne Pracht. Die Palmen versperrten den Blick auf das kleine Dorf Kweiresch, wo der deutsche Ausgrabungsleiter Robert Koldewey das Expeditionshaus am nördlichen Dorfende eingerichtet hatte. Etwa zwei Kilometer südlich ihres Standortes lag mit dem Schloss der zweite markante Hügel des alten Babylons. Das Kasr ragte nicht so hoch auf wie Babil, war aber etwa vier Mal so groß und eben jener Ort, an dem die Ruinen der Königspaläste ausge- 13
graben wurden. Dort lag das zerfallene Zentrum des einst so mächtigen Reiches. Dort befand sich Irsit Babylon, der Platz Babylon, oder das Bab Ilani, die Pforte der Götter mit dem Zugang zum größten und berühmtesten Heiligtum Babylons, dem Tempel des Gottes Marduk. Einen knappen Kilometer südlich des Kasr erhob sich mit etwa 25 Metern Höhe der Hügel Amran, benannt nach dem auf dem Hügel stehenden islamischen Grabheiligtum Amran Ibn Ali, des Sohnes Alis. Dieser Hügel war der höchste im ganzen ehemaligen Stadtgebiet Babylons und lag in der Ebene Sachn, wo auch die Reste des Etemenanki, des Turmbaus von Babel, zu finden waren.»so wandeln sich die Zeiten«, hatte Robert Koldewey, der kauzige deutsche Ausgrabungsleiter, Steiner bei einer früheren Begehung erklärt.»sachn bedeutet nichts anderes als Pfanne und beschreibt den Charakter des Geländes als Ebene. Dabei war dies zu Babylons Blütezeit der heilige Tempelbezirk! Innerhalb der Ringmauern lagen der Turmbau zu Babel und der Tempel des Marduk. Und heute? Die Reste des Marduk-Tempels sind tief unter dem Schutt des Amran-Hügels begraben, vom Turmbau gibt es noch ein paar Fundamentgräben voller Grundwasser, und eine Straße zwischen zwei Dörfern führt durch das ehemals heilige Gebiet.«So ist das, dachte Steiner. Alles ist vergänglich. Die berühmteste Stadt des Orients zerstört, so vollkommen zerstört wie kaum ein anderer Ort. Gott und Könige vergessen und die Paläste einfach nur Schutt. Unter seinen Schuhen wirbelte der Wüstensand bei jeder Fußbewegung. Er hob den Kopf und sah zu Albert Krüger, der nach Osten in die grau-braune Wüste blickte, wo keine 50 Kilometer entfernt die alte Königsstadt Kišh lag, in der das Königtum in die Welt gekommen war, auf das sich auch Babylons Herrscher berufen hatten. Steiner glaubte mit einem Mal im Flimmern der Wüstenhitze 14
Heerscharen wilder Krieger, prunkvolle Paläste voller Gold und Edelsteine und massenhaft die grauen Gesichter der Namenlosen zu sehen, die unter der jahrtausendelangen Knechtschaft des Königtums gestorben waren. Es war wie eine Fata Morgana. Er schloss kurz die Augen, wandte den Kopf, und die Bilder verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waren. Im Westen, wo immer wieder Trupps marodierender Beduinen aus der Wüste auftauchten und die Ausgrabungsstätten überfielen, verschmolz die gleißende Sonne mit dem Wüstensand, und erste violette Schattenwürfe ließen das Ruinenrelief immer plastischer werden. Es wurde Zeit. Karl Steiner schlug Krüger auf die Schulter. Sie richteten sich auf und stiegen steifbeinig den Hügel hinab. Auf der Ebene beeilten sie sich, den Gürtel der Dattelpalmen zu erreichen, um in dessen Schutz Richtung Kasr zu marschieren.»werden sie kommen?«, murmelte Albert Krüger. Er war einen Kopf kleiner als Karl Steiner, schmächtig und drahtig, mit hellen, wachen Augen und so misstrauisch wie ein Schakal.»Wir werden sehen.«plötzlich wurde die Stille in den Dattelhainen durch ein Geräusch unterbrochen.»dschird«, knurrte Steiner. Eine Wasserhebeanlage, so alt wie Babylon selbst. Angetrieben von einem Stier, hob sie das Wasser des Euphrats in einem Lederschlauch hinauf in Bewässerungskanäle, die zu den höher gelegenen Feldern führten. Ohne Bewässerung würde dort keine einzige Frucht wachsen. Der Strick am Ende des Wasserschlauchs lief über eine auf zwei vorkragenden Palmenstämmen gelagerte Walze und verursachte das knarrende Geräusch.»Wir müssen aufpassen. Jetzt bloß keine Scheiße bauen«, sagte Krüger und bewegte sich noch vorsichtiger durch die Haine. Krüger war seit Jahren im Grenzgebiet zu Persien bis hinauf in das Zagrosgebirge und hinunter in das vorgeschichtliche Elam unterwegs. Als Geheimagent Seiner Majestät Kaiser Wilhelm II. 15
versuchte er, den Einfluss der Briten zurückzudrängen, die mit einzelnen Scheichs Schutzverträge abschlossen, obwohl ihre Stammesgebiete zum Osmanischen Reich gehörten. Die Briten hatten gerade erst eine Niederlage erlitten. Nachdem das Osmanische Reich 1915 auf Seiten der Achsen-Mächte in den Ersten Weltkrieg eingetreten war, waren die Briten mit einer Expeditionsarmee in Basra gelandet und hatten versucht, Bagdad zu erobern. Aber Kut-al-Amara hatte am 29. April 1916 nach monatelanger Belagerung kapituliert, und General Townsend war mit 13 000 zumeist indischen Soldaten in Gefangenschaft geraten. Karl Steiner war in Bagdad stationiert und Verbindungsoffizier der deutschen Botschaft in Istanbul zu den siegreichen osmanischen Streitkräften, die bis vor wenigen Tagen vom preußischen Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz befehligt worden waren. Seit April 1915 hatte der Freiherr, der 1909 beinahe deutscher Reichskanzler geworden wäre, in Diensten des Osmanischen Reiches gestanden und die osmanischen Streitkräfte in Mesopotamien und Persien befehligt, nachdem er bereits ein Vierteljahrhundert zuvor die große Osmanische Militärreform maßgeblich beeinflusst hatte und einer der angesehensten Ausländer im Osmanischen Reich überhaupt gewesen war. Aber Goltz Pascha, wie sie ihn nannten, war tot. Zehn Tage vor dem großen Sieg war er in Bagdad an Flecktyphus gestorben, den er sich in einem Lazarett beim Besuch Verwundeter geholt hatte. Steiner war fünf Jahre vor Goltz-Pascha in Bagdad eingetroffen und beobachtete seitdem die verdächtigen Aktivitäten der Briten. Die Agenten der East India Company waren im ganzen Land unterwegs, und außerdem bereisten zu viele Archäologen Arabien und Persien, von denen so mancher nebenbei spionierte.»behalten Sie auch unsere Ausgrabungen in Babylon im Auge«, hatte ihn die deutsche Botschaft angewiesen.»wenigstens diese Funde gehören nach Berlin!«16
Seit einem drei viertel Jahrhundert durchwühlten Schatzjäger den Boden und verschleppten die Funde in die großen Museen der Welt. Archäologie war dabei keine Wissenschaft, sondern ein wildes Buddeln und Plündern von Abenteurern, die mit ihren Schätzen Reichtum und Anerkennung in der Heimat suchten. Dabei tauchten viel zu viele der archäologischen Funde im Britischen Museum und im Louvre auf. Das Deutsche Reich wollte mit seinen Museen nicht nachstehen und förderte insbesondere die Grabungen in Assur und Babylon. Aber mittlerweile verhinderte der Krieg den Abtransport der ausgegrabenen Schätze. Robert Koldewey und seine Expedition gruben seit siebzehn Jahren in Babylon, ohne Pause, Sommer wie Winter, und die Funde stapelten sich im Schatzhaus. Es war an der Zeit, die Zelte abzubrechen. Trotz der Niederlage der Briten bei Kut-al-Amara, dachte Steiner. Mesopotamien war eine der vernachlässigten Provinzen des Osmanischen Reiches, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sich das Blatt wenden würde. Ägypten war faktisch britische Provinz, und T. E. Lawrence hetzte die arabischen Fürsten erfolgreich auf. Es gab zu viele Überraschungen in der osmanischen Politik, und Bagdad war zu weit weg von Istanbul, um auf Dauer wirksam verteidigt zu werden. Er und Albert Krüger hatten einen Plan entwickelt, der ihr Überleben sichern sollte. Sie wollten sich absetzen, bevor die für sie bestimmten Kugeln die Gewehrläufe verließen. Sie bestiegen das Kasr von Nordosten her und betraten die Überreste der breiten Straße, die zum Ishtar-Tor führte. Nichts war von der einstigen Pracht erhalten geblieben. Keine erhabenen Säulen wie in Griechenland, keine Tempelreste wie in Ägypten oder Persien, sondern nur Lehmziegel, gebrannt, ungebrannt, mit Schilf vermengt, gelegentlich mit Erdpech isoliert. An manchen Stellen war noch der mit Asphalt übergossene 17
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 15 880 1. Auflage: Mai 2008 Bastei Lübbe Taschenbücher in der Verlagsgruppe Lübbe Originalausgabe 2008 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Lektorat: Angela Küpper/Jan Wielpütz Titelillustration: HildenDesign unter Verwendung von Motiven Shutterstock Innenabbildung: Shutterstock Umschlaggestaltung: HildenDesign, München Satz: Urban SatzKonzept, Düsseldorf Druck und Verarbeitung: GGP Media, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-404-15880-5 Sie finden uns im Internet unter www.luebbe.de Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.