6 Vorwort Helmut Friedel. 14 Arthur Roessler und der Mythos Egon Schiele Ursula Storch

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Transkript:

6 Vorwort Helmut Friedel 14 Arthur Roessler und der Mythos Egon Schiele Ursula Storch 36 Wie man wird was man ist Schieles Selbstdarstellungen 96 Offenbarung in der Krise: Egon Schiele und die Geheimlehren um 1900 Astrid Kury 110 Natur, Religion und Kunst 158 Beschleunigte Wahrnehmung: Raumexperimente, sexuelle Drastik und ihre japanischen Vorbilder 172 Sexualität und Sexualisierung des Kindes Klaus Albrecht Schröder 230 Rilke, Kafka und Musil gelesen vor den Bildern Schieles Helmut Friedel 244 Anhang Biografie Werkliste 7 Foreword Helmut Friedel 15 Arthur Roessler and the Myth of Egon Schiele Ursula Storch 37 How One Becomes What One Is Schiele s Self-Representations 97 Revelation in Crisis: Egon Schiele and the Occult around 1900 Astrid Kury 111 Nature, Religion, and Art 159 Accelerated Perception: Experiments with Space, Explicit Sexuality and Its Japanese Models 173 Sexuality and Sexualization of the Child Klaus Albrecht Schröder 231 Rilke, Kafka, and Musil Read in front of Schiele s Pictures Helmut Friedel 244 Appendix Biography List of Works

Helmut Friedel Foreword Am 15. Februar 1912 eröffnete die Münchner Kunsthandlung Neue Kunst Hans Goltz die erste Einzelausstellung von Egon Schiele im Ausland. 1 Damit legte sie den Grundstein für die internationale Erfolgsgeschichte des österreichischen Expressionisten. Doch war die Ausstellung Schieles nicht die einzige historisch bedeutende Veranstaltung in den Räumen von Hans Goltz in jenem Spätwinter: Nur drei Tage zuvor hatte ebenfalls dort die zweite Ausstellung der Künstlergemeinschaft Der Blaue Reiter begonnen, die unter dem Titel Schwarz-Weiss den Schwerpunkt auf Grafik legte und über 300 Blätter der Künstler des Blauen Reiter zeigte, zu denen sich Paul Klee gesellt hatte, wie auch der Brücke, des Schweizer Modernen Bundes und von Künstlern der französischen und russischen Avantgarde. Hundert Jahre später ist Egon Schiele wieder zu Gast in München, diesmal im Kunstbau des Lenbachhauses, dem Ort der bedeutendsten Sammlung des Blauen Reiter. Die erste umfassende Präsentation von Zeichnungen, Aquarellen und der Druckgrafik des Blauen Reiter hat das Lenbachhaus im Jahr 2010 gezeigt ohne jedoch eine historische Rekonstruktion von Schwarz-Weiss anzustreben. Anschließend wanderte die Ausstellung nach Wien in die Albertina, wo die Münchner Exponate um eigene Bestände ergänzt präsentiert wurden. Im Gegenzug erhält nun das Lenbachhaus eine umfangreiche Auswahl herausragender Blätter Schieles aus der Albertina, die die weltweit bedeutendste Sammlung seiner Werke auf Papier beheimatet. Die Verbindungen Schieles zum Blauen Reiter erschöpfen sich nicht in den parallel laufenden Ausstellungen bei Hans Goltz. Wie Schieles Korrespondenz mit Franz Marc zu entnehmen ist, war er ein großer Bewunderer des Blauen Reiter (Abb. 4). So schlug Schiele eine gemeinsame Ausstellung in Wien vor, denn er glaubte, dass seine Werke in den Ideenkreis ihrer Veranstaltungen passen. 2 Obwohl es zu keiner Zusammenarbeit kam, 3 erhielt der Almanach Der Blaue Reiter einen Ehrenplatz in Schieles Vitrine (Kat. 1), die in seinem Atelier stand und in der er ihm bedeutsame Gegenstände versammelte. Im Sommer 1912 schickte Egon Schiele seiner Mutter aus München eine Postkarte mit Franz Marcs Gelber Kuh gezeigt auf der ersten Ausstellung des Blauen Reiter (1911) und unterstrich so seine Begeisterung für diesen Künstler. Schiele bemühte sich stets um künstlerischen Austausch. Bereits 1911 schloss er sich der Münchner Gruppe Sema an (Abb. 1), zu der Künstler wie Paul Klee und Alfred Kubin gehörten. In diesem Rahmen wurde 1912 ein Selbstbildnis Schieles (Kat. 3) in der Modernen Galerie Heinrich Thannhauser ausgestellt, in der Ende 1911 die erste Ausstellung des Blauen Reiter stattgefunden hatte. Aber auch außerhalb Münchens nahm Schiele an wichtigen Kunstereignissen seiner Zeit teil, wie etwa an der Kölner Sonderbund- Ausstellung 1912. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs plante er die Gründung einer Kunsthalle für den kulturellen Wiederaufbau, an der sich bildende Künstler, Literaten und Musiker beteiligen sollten. Das Projekt scheiterte aus finanziellen Gründen. Schieles organisatorisches Geschick kulminierte 1918 in der 49. Ausstellung der Wiener Secession (Kat. 4), die ihm kurz vor seinem Tod zum endgültigen Durchbruch verhalf. Diese Verbindungen werfen ein anderes Licht auf Egon Schiele, der meist isoliert von seinem zeitgenössischen Umfeld wahr genommen wird: So stark wie kaum ein anderer Künstler steht der Österreicher für die Verschmelzung von Biografie und Werk. Sein früher, tragischer Tod, die turbulente Beziehung zu seinem Modell Wally und die sogenannte Neulengbach - Affäre, in deren Verlauf der Künstler 1912 wegen der vermeintlichen Verführung einer Minderjährigen 24 Tage in Haft verbrachte, förderten ein anhaltendes öffentliches Interesse an Schieles Privatleben. Seine bekanntesten Arbeiten wurden deshalb vielfach herangezogen, um diesen engen Fokus auf das Biografische zu bestätigen: Aktdarstellungen junger Frauen, die in provokativen Posen ihre Geschlechtlichkeit zeigen, und pathologisch wirkende Selbststilisierungen. Nachdem vor 21 Jahren die letzte Schiele-Ausstellung in München stattgefunden hat, bietet das 100-jährige Jubiläum der Goltz-Ausstellungen nun einen willkommenen Anlass für eine Revision des immer noch weitverbreiteten Künstlermythos Egon Egon Schiele s first solo exhibition outside Austria opened on February 15, 1912 at Hans Goltz s art gallery in Munich, which thus laid the groundwork for the Austrian expressionist s international success. 1 But the Schiele exhibition was not the only event of historical significance to be held at the gallery during those late winter days: only three days earlier, it had launched the second exhibition of works by the Blauer Reiter (Blue Rider) group. The focus of this show, called Schwarz-Weiss (Black and White), was on the group s works on paper, and on display were more than 300 works by Blue Rider artists, as well as some by Paul Klee, Die Brücke (The Bridge), the Swiss Moderner Bund, and artists representing the French and Russian avant-garde. Now, a hundred years later, the city of Munich is again playing host to Schiele s work, this time in the rooms of the Kunstbau at the Lenbachhaus, home to the world s most important Blue Rider collection. The Lenbachhaus staged the first comprehensive show of Blue Rider drawings, watercolors, and prints in 2010, albeit without attempting a historical reconstruction of the original Schwarz-Weiss exhibition. The show traveled to the Albertina in Vienna, where works from the Lenbachhaus were exhibited alongside items from the Albertina s own collection. In return, the Lenbachhaus is now able to present a comprehensive selection of Schiele s outstanding drawings on loan from the Albertina, which itself is home to the world s most important collection of Schiele s works on paper. Schiele s connection to The Blue Rider was not limited to the parallel exhibitions at Hans Goltz s gallery. A look at Schiele s own correspondence with Franz Marc reveals that he was a great admirer of the group (fig. 4); he even suggested a joint exhibition in Vienna, believing that his own works fit in the conceptual compass of their events. 2 Although no cooperation actually took place, 3 Schiele gave his copy of The Blue Rider Almanac a place of honor in the glass cabinet (cat. no. 1) he kept in his studio to display objects that were important to him. The postcard with a picture of Marc s Gelbe Kuh (Yellow Cow) shown at the first Blue Rider exhibition in 1911 that Schiele sent his mother from Munich 6 7

Gedicht von Egon Schiele um 1910

8 Selbstporträt mit erhobenem rechten Ellbogen, 1914, Gouache, Aquarell und schwarze Kreide, Alice M. Kaplan, The Bridgeman Art Library 9 Männlicher Rückenakt mit gespreizten Beinen sitzend, 1910, Kohle und Aquarell, Privatbesitz, IMAGNO/Austrian Archives 8 Self-Portrait with Right Elbow Raised, 1914, gouache, watercolor, and black chalk, Alice M. Kaplan 9 Seated Male Nude, Back View, 1910, charcoal and watercolor, private collection 10 Weiblicher Akt, schwarze Kreide, Aquarell und Gouache, Albertina, Wien 11 Selbstporträt, 1910, Gouache, Aquarell und schwarze Kreide, Standort unbekannt, courtesy Galerie St. Etienne, New York 10 Female Nude, black chalk, watercolor, and gouache, Albertina, Vienna 11 Self-Portrait, 1910, gouache, watercolor, and black chalk, whereabouts unknown the role played by the face is marginal. The head is often hidden, sometimes even cut off (figs. 9). Corporeality dominates in these pictures. All other elements have been excluded in favor of depicting an endless range of physical changes and their impact on the human body. Consequently, the limbs are endowed with extreme mobility. All of these depictions illustrate the subject s loss of control over the body. Individual parts are even liberated from it, thus asserting their autonomy. Mostly it is the hands which move independently. In Female Nude (fig. 10), for instance, a spider-like hand appears and moves on the body of the amputated supine female figure. In a self-depiction of 1910 (fig. 11), two hands emerge out of nowhere to supplement a self-portrait consisting otherwise only of a head. The rest of the body has disappeared, allowing the hands to move unhindered in space. Especially the hand appearing from below makes it impossible to piece together the three depicted elements to form a unitary human figure. Mysterious Substances In a letter written in 1911 to the collector Oskar Reichel, Schiele declares: When I see myself whole I will myself have to see, even know, what I want, not only what is happening in me but to what extent I have the ability to see what means are mine, of what mysterious substances I am composed, of how much more than what I perceive, what I have perceived of myself so far. 12 Schiele s assumption that he is made of mysterious substances is indicative of his preoccupation with the debate on the issue of the subject, for Ernst Mach in particular had pointed out that the ego complex consists of a combination of diverse elements that elude the human faculty of knowing. The inexhaustible diversity of Schiele s self-representations and their decentralization receive their theoretical counterpart in relation to the mysterious substances. What is interesting is the concern with self-knowledge exhibited in the excerpt from Schiele s letter. Schiele grasps self-knowledge here as a dynamic process involving multiplicity and based on the affirmation of becoming. Thus, in the passage quoted, he equates what he wants with what he is. The central role of Rätselhafte Substanzen In einem Brief an den Sammler Oskar Reichel schrieb Schiele 1911: Wenn ich mich ganz sehe, werde ich mich selbst sehen müssen, selbst auch wissen, was ich will, was nicht nur vorgeht in mir, sondern wie weit ich die Fähigkeit habe, zu schauen, welche Mittel mein sind, aus welchen rätselhaften Sub stanzen ich zusammengesetzt bin, aus wie viel von dem mehr, was ich erkenne, was ich an mir selbst erkannt habe bis jetzt. 12 Schieles Annahme, er sei aus rätselhaften Substanzen zusammengesetzt, verdeutlicht seine Beschäftigung mit der zeitgenössischen Diskussion über die Subjektfrage, denn vor allem Ernst Mach hatte klargestellt, dass der Ich-Komplex aus der Kombination vielfältiger Elemente bestehe, die sich der menschlichen Erkenntnisfähigkeit entziehen. Die unerschöpfliche Vielfalt von Schieles Selbstdarstellungen und ihre Dezentralisierung erhalten durch den Bezug auf die rätselhaften Substanzen ein theoretisches Pendant. Aufschlussreich ist dabei das Bemühen um Selbsterkenntnis, wie dem zitierten Briefauszug zu entnehmen ist. Schiele versteht hier Selbsterkenntnis als einen dynamischen Vorgang, der eine Vielfalt umfasst und auf der Bejahung des Werdens basiert. So setzte er in dem Brief das, was er will, mit dem gleich, was er ist. Auch die zentrale Rolle der Selbstdarstellung in Schieles Werk deutet darauf hin, dass diese Bilder nicht nur die Unbeständigkeit des eigenen Ichs thematisieren, 13 sondern zugleich den Versuch, dieses immer werdende Selbst als Individuum zu begreifen. Ein Subjekt, das einer ständigen Veränderung unterworfen ist, muss sich auch stets neu definieren. Egon Schieles Drang, sich selbst auf solch unterschiedliche Art und Weise darzustellen, verweist auf seine Suche nach Identität in der Vielfalt. Gleichzeitig ist er Zeugnis der Unmöglichkeit, eine einheitliche Antwort darauf zu geben: Es geht um eine im Werden begriffene Selbsterfahrung, die mit Nietzsches Formel Wie man wird, was man ist 14 umschrieben werden könnte. Schieles Rollenspiel und Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge Schiele benannte einige seiner Selbstdarstellungen mit Titeln, die auf den ersten Blick nicht so recht dazu passen wollen, wie etwa Anarchist, Rufer oder Seher. Die ersten inszenatorischen Versuche von 1909 gewannen zwischen 1910 und 1913 an Komplexität, sowohl im Hinblick auf die Gestik als auch auf die Kostüme. Schiele verbirgt sich zunehmend hinter dieser Maskierung und hinter den eingenommenen Rollen. Dabei verdeutlicht die Diskrepanz zwischen Benennung und Darstellung die Suche nach empirischer Selbsterfahrung und den Verzicht auf ein vorgegebenes Identitätsbild. Am Beispiel des Predigers (Abb. 6) kann dies anschaulich gemacht werden: Die Gestalt erscheint auf diesem Blatt mit nach vorn gebeugten Schultern und gesenktem Kopf. Auf den Auftritt eines Predigers weist nur die leicht erhobene rechte Hand hin. Dagegen zeigen die ernste Haltung sowie die stumme Miene eine in sich selbst verschlossene Figur. Dennoch hat Schiele rechts unten in einem Kästchen neben seiner Signatur das Wort Prediger eingefügt und damit der Darstellung nachträglich 15 eine über raschende Wendung gegeben: So wie das Subjekt keine Einheit mehr bildet, gibt es keine Vorgaben für die Darstellung eines Predigers; er ist nunmehr eine stumme Figur. Diese Praxis lässt sich in Verbindung mit einer zentralen Episode von Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge bringen, die zum Verständnis der Komplexität von Schieles Rollenspielen beitragen kann. In diesem Roman, der zu den Lieblingslektüren Schieles zählte, 16 beschäftigte sich Rilke intensiv mit dem Thema der Selbstwahrnehmung. Das Buch schildert die Erfahrungen Maltes, eines jungen dänischen Adligen, in der für ihn fremden Großstadt Paris. Rilke bezieht sich auf den allgemeinen Verlust der Persönlichkeit, wenn er über die vielen Gesichter der Menschen schreibt. 17 Darauf folgt Maltes Feststellung seines eigenen Persönlichkeitsverlustes: Wozu soll ich jemandem sagen, daß ich mich verändere? Wenn ich mich verändere, bleibe ich ja doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas anderes als bisher. 18 Immer wieder versucht Malte, self-representations in Schiele s work suggests that these pictures deal with the phenomenon of the inability to grasp one s own self. 13 But more importantly, they simultaneously attempt to grasp this perpetually becoming self as an individual. A subject that undergoes perpetual change must also constantly redefine itself. Egon Schiele s compulsion to depict himself so variously is a mark of his quest for identity in multiplicity. At the same time, it testifies to the impossibility of giving a unitary answer: it is a question of a self-experience in process of becoming, which one might paraphrase with Nietzsche s formula How one becomes what one is. 14 Schiele s Roleplay and The Notebooks of Malte Laurids Brigge Schiele gave some of his self-representations titles that at first sight can seem inappropriate, for example Anarchist, Crier, or Seer. His first experiments in self-depiction of 1909 grew more complex from 1910 13, with respect to both gestures and dress. Schiele progressively conceals himself behind these masks and behind the roles he assumes. The discrepancy between name and depiction bears witness to the quest for empirical self-experience and the rejection of prescribed pictures of identity. The Preacher (fig. 6) is a good example. The shoulders of the figure on this sheet are tilted forward, the head lowered. The only thing that recalls a preacher is the partly raised right hand. The gravity of the pose and the taciturn mien, however, are those of an introverted figure. Nevertheless, at the bottom right, in a box next to his signature, Schiele added the word Preacher, and thus retrospectively 15 gave the picture a surprising slant. Just as the subject is no longer a unity, so, too, there is no right way of depicting a preacher; henceforth he is a silent figure. This practice evinces parallels with a central episode in Rilke s The Notebooks of Malte Laurids Brigge, which can contribute toward understanding the complexity of Schiele s roleplays. In this novel, which was one of Schiele s favorite books, 16 Rilke deals intensively with the topic of selfperception. The book describes the experiences of Malte, a young Danish aristocrat, in Paris, where he 40 41

9 In Zusammenarbeit mit Anton Josef Trčka Egon Schiele With Anton Josef Trčka Egon Schiele 1914 10 In Zusammenarbeit mit Anton Josef Trčka Egon Schiele in Pose With Anton Josef Trčka Egon Schiele Posing 1914 56 57

15 Der Maler Max Oppenheimer The Painter Max Oppenheimer 1910 16 Bildnis der Tänzerin Moa Portrait of the Dancer Moa 1911 62 63

29 Gruppe von drei Mädchen Group of Three Girls 1911 30 Rückenansicht zweier Knaben Back View of Two Boys 1910 76 77

71 Schiele mit Aktmodell vor dem Spiegel Schiele, Drawing a Nude Model before a Mirror 1910 178 179

106 Liegender weiblicher Akt mit gespreizten Beinen Reclining Female Nude with Legs Spread Apart 1914 107 Sitzende Frau mit hochgeschobenem Kleid Seated Woman with Raised Dress 1914 214 215

112 Mädchenakt Nude Girl 1918/19 113 Sitzendes Paar Seated Couple 1915 220 221