WIR HASSEN DAS FORELLENQUINTETT / ABER ES MUSS GESPIELT WERDEN. ZUR MUSIK IM WERK THOMAS BERNHARDS



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Transkript:

BERNHARD SORG WIR HASSEN DAS FORELLENQUINTETT / ABER ES MUSS GESPIELT WERDEN. ZUR MUSIK IM WERK THOMAS BERNHARDS 1999 ERSTE ANNÄHERUNG: EINE ART EINLEITUNG Die Musik hat es lange schwer gehabt im Denken der Philosophen und in Werken der Literatur. Bis in die Zeit der Romantik hinein galt sie als gefährliche, als den Geist und die Seele zerstreuende Kunst. Außerhalb des religiösen Rituals schien Mißtrauen angebracht den Tönen gegenüber, die imstande waren, den nüchternen Gang des Denkens aufzubrechen, aufzuheben, zu wenden in's Gefühlvoll-Erhabene. Die Musik, so dekretierte die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, setzt an die Stelle von Logik, Folgerichtigkeit und begrifflicher Welterklärung die Herrschaft des Irrationalen, des Entgrenzenden, der unkontrollierbaren Affekte

2 Die Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts sah das nicht viel anders, wertete nun aber die gleichen Vorgänge und Folgen gegensätzlich, sah positiv, was vordem negativ besetzt war. Nur in der Musik, so schien es plötzlich, sind Künstler und Zuhörer bei sich selbst, nur die Musik vermag innerhalb die ser Welt von etwas zu reden, was zwar in dieser Welt ist, aber nicht kategorial und existentiell in ihr aufgeht. Ja, in Arthur Schopenhauers Ästhetik (das "Dritte Buch" seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung, 1815-1818) wird Musik zum Medium der Erfahrung eines innerweltlich Absoluten, zur sprachlosen Wiederholung und Deutung unserer Welt - fast schon gleichrangig der Philosophie, die in Kategorien und Begriffen spricht und urteilt. Während die Philosophie analysiert und differenziert, synthetisiert die Musik die Erfahrungen der Existenz. Sie spricht vom Leben des Einzelnen und der Vielen, aber ihre Sprache ist das unmittelbare Er-leben der menschlichen Affekte, gereinigt von der Erfahrung des Empirischen, von der Sphäre, die Schopenhauer den "Willen" genannt hat. Darum erfährt die Romantik das Absolute zuerst und zutiefst in der Musik, und diese intensive Kunst-Religion hat, eigentlich bis heute, ihre Stärke und Plausibilität nicht eingebüßt.

3 Bei keinem bedeutenden Schriftsteller der letzten Jahrzehnte ist dies noch oder wieder so werk-konstitutiv wie bei Thomas Bernhard. Von Anfang an, den Frühwerken der 50er Jahre, strebt die Sprache hin zur Musik - sei es in der Sehnsucht nach Vertonung (realisiert etwa von Gerhard Lampersberg, die rosen der einöde, 1959, oder Köpfe, 1960), sei es als Moment von Sprache, Rhythmus und Motiv-Verflechtungen, sei es als frühromantische Idee eines Zusammenfalls der Künste und eines utopischen Zusammenspiels von Kunst und Empirie, Immanentem und Transzendentem. Aber schon sehr bald, nämlich den ersten abendfüllenden Theaterstücken, erscheint und ertönt Musik nicht bloß als Chiffre eines anderen Welt-Zustandes, sondern als Zeichen einer unauflöslichen Ambivalenz: der von Erlösung und quälender Auserwähltheit des Künstlers. Musik steht für eine Welt des schönen Scheins, aber auch für die unbedingte Pflicht zur Repräsentation, eine Aufgabe, die die Kräfte des Künstlers übersteigt. In dieser Doppeldeutigkeit steckt ein immenses Potential an Komik; vor allem in dem Stück Die Macht der Gewohnheit, 1974, in dessen Zentrum die Monologe des Protagonisten stehen, des Zirkusdirektors Caribaldi. Der probt, neben der täglichen circensischen Arbeit, mit seinen vier Mit-Artisten von offenbar dürftiger Qualität, Schuberts Forellenquintett, als Werk der Befreiung vom Alltag und als Legitimation ihrer schäbigen Existenz. Caribaldi spielt das Cello, dem großen Pablo Casals nachträumend. Ein Klavier steht in der Ecke und wird in der Zweiten Szene auch tatsächlich mißhandelt. Die kleine Truppe kommt nie über die ersten Takte des Werkes hinaus.

4 Dennoch sind Caribaldi und die Seinen wahrhafte Diener und Herren der Kunst, denn selbst ihr Tun und Raisonnieren partizipiert noch an der Größe und Würde der Musik. Schuberts Forellenquintett steht symbolisch für eine innerweltliche Befreiung vom Druck des Willens, der trüben Verhältnisse des Empirischen. Mehr als eine groteske Annäherung ist Bernhards Personal nicht zugestanden. Aber selbst diese knappe Bewegung aus der Zeitlichkeit hinaus in die Zeit-Losigkeit der Musik rettet die Akteure Bernhards vor der Vernichtung durch die Alltäglichkeit und Endlichkeit, um den Preis einer tragi-komischen Grundierung von allem, was sie tun und sagen. Die Probe endet im Chaos, aber Schuberts Musik, die daraufhin aus dem Radio ertönt, bleibt unaffiziert von der Banausie der Schmierenkomödianten.

5 ZWEITE ANNÄHERUNG: PERFEKTION UND ERSCHÖPFUNG Die Kunst, insbesondere die Musik, verlangt nach Vollkommenheit, aber Vollkommenheit ist unmenschlich. Gerade darum geht von ihr eine immense Faszination aus. Bernhards Geschöpfe sind Kunst-Geschöpfe in zweierlei Hinsicht: Einmal sind es Menschen, die sich vollständig der Produktion oder Re-Produktion von Kunst (oder, manchmal, auch von Philosophie) verschrieben haben, mit allen möglichen komischen, tragischen oder tragikomischen Konsequenzen; und zweitens sind sie angelegt als künstliche Figuren, deformiert in ihrem unermüdlichen Streben nach Perfektion, nach Erfüllung der Vorgaben der Alten Meister, der Genies der Vergangenheit. Mit deren Werk identifizieren sie sich bis zur Selbstaufgabe. Aus dieser Unterwerfung entsteht natürlich auch ein gegenteiliger Affekt, ein Haß auf die unveränderlichen und fordernden Kunst-Werke der europäischen Kulturgeschichte. Von dieser profunden Ambivalenz handeln viele Texte Bernhards, am Anfang dunkel getönt, mit oft letaler Konsequenz, im Spätwerk mit ironischmelancholischem Ton. Das Theaterstück Der Ignorant und der Wahnsinnige, 1972, parallelisiert zwei Vorgänge: die Vorbereitung der Sängerin der Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte auf ihren Auftritt, gefolgt von dem sich der Aufführung anschließenden Diner in den "Drei Husaren" in Wien, und zweitens die verbale Sezierung einer Leiche durch einen Arzt, den Freund der Sängerin und ihres halb-blinden und alkoholkranken Vaters.

6 Assoziativ schwingt in allen Sätzen des Doktors die immense Faszination mit, die von der Krankheit zum Tode ausgeht, an der die Sängerin leidet. Ohne daß dadurch eine Kausalbeziehung hergestellt würde, ist diese Krankheit aufs engste benachbart der Perfektion, die sich die Sängerin als Lebensaufgabe und Ziel auferlegt hat. So wird aus der Tröstung humaner Musik die Drohung einer finalen Kälte. Die Koloraturen der Königin der Nacht erscheinen als verzweifelte Ausbrüche, verzweifelt-unmenschliche Ausbruchsversuche aus der Falle einer Kunst, die nur dann bewältigt werden kann, wenn der Künstler sich in eine Kunst-Maschine verwandelt. Da Vollkommenheit unmenschlich ist, führt der Weg des Künstlers hin zur Vollkommenheit in Wahrheit in die Einsamkeit und den Tod. Auch diese Konzeption partizipiert erkennbar an romantischen, spätromantischen Vorstellungen. Der Künstler wird definiert als Auserwählter, der die Last einer Aufgabe schultern muß, von der die Außenstehenden nur in Kategorien von Amusement und Zeitvertreib denken. Wer jedoch dazugehört, weiß, daß der Dienst an der Kunst die tragi-komische Opferung alles Menschlichen fordert. Bernhards unerbittliche Kunst-Ideologie verschweigt nicht den Preis, den die Annäherung an das Werk der toten Genies vom Einzelnen verlangt.. Es ist die Eiseskälte des Artisten-Gipfels, die den Menschen dann umfängt und zugrunde richtet.

7 Davon kündet die Karriere der Sängerin, die im Stück die Königin der Nacht zum zweihundertzweiundzwanzigsten Mal singt, eine Karriere, die auf ihrem Höhepunkt angekommen ist. Der Höhepunkt ist, naturgemäß, gleichzeitig der Moment vor dem Absturz. Von dieser prekären Region handeln alle Künstlerdramen Bernhards. Sie lassen ahnen, warum immer wieder Einzelne sich dieser unmenschlichen Anstrengung einer Annäherung an die Vollkommenheit unterziehen. Es ist die Faszination durch das Außerordentliche, die Faszination durch die Sphäre des Über-menschlichen, die sie vorantreibt und scheitern läßt - von wenigen Ausnahmen abgesehen, bei denen der Ausgang des Experiments in der Schwebe bleibt. Der die Leiche und die Kunst verbal sezierende Doktor partizipiert an diesem unheimlichen Kunst-Kosmos - sonst könnte er ihn nicht be- und verurteilen - und er ist durch Beruf und Reflexion ein Außenstehender. So mischt sich in seine unerbittliche Erkenntnis auch ein Moment sadistischer Lust an der Überlegenheit des Intellektuellen, der sich den qualvollen Kunst-Exerzitien der Sänger nicht unterziehen muß. Mozarts Zauberflöte, bei Bernhard das Paradigma für Oper schlechthin, ist in diesem Laboratorium der Eiseskälte Teil einer monströsen Anforderung, die von der Existenz der Kunst ausgeht, und der niemand mehr gewachsen ist. Eine Rückkehr zur Naivität einer direkten, einer unreflektierten Kunst-Ausübung ist dem reproduzierenden Künstler unmöglich geworden, aber die Alternative - nämlich eine unerbittliche Künstlichkeit - treibt ihn in Angst, Krankheit und Tod. Was voraussetzt, daß ihm die Kunst, die Musik, die Oper mehr bedeutet als alles andere. In diese ausweglose Konsequenz denkt und redet sich der Doktor mit emphatischem und zynischem Furor hinein. Am Ende hustet die Sängerin gefahrdrohend, der Doktor hat die Leiche Kunst radikal zersetzt, und alle sind tödlich erschöpft.

8 DRITTE ANNÄHERUNG: DAS PATHOS DES ENDES UND DER VOLLENDUNG Die meisten Gestalten in Bernhards Romanen und Theaterstücken scheitern an selbstgesteckten Zielen: der Verfertigung einer künstlerisch-wissenschaftlichen Studie, der Perfektionierung der eigenen intellektuellen Fähigkeiten, der Selbstbehauptung angesichts der Übermacht der toten Genies. Dieses Bemühen gerät, vor allem in seinem Spätwerk, oft zu einer den Helden durchaus bewußten Komödie. In den frühen Texten jedoch, also denen bis zum Erscheinen der Autobiographie 1975-1981, folgt dem Scheitern nicht selten der letzte Schritt der vermeintlichen oder tatsächlichen Selbstbestimmung: der Suizid. Mit ihm entzieht sich der Protagonist der Sphäre der Macht und der drohend von außen kommenden Vernichtung. In dem Theaterstück Die Jagdgesellschaft, 1974, ist es der General, der Gegenspieler des uferlos monologisierenden und dialogisch auf zunächst undurchschaubare Weise mit den anderen Figuren verbundenen Schriftstellers, der sich in der letzten Szene erschießt.

9 In den Minuten davor ist Mozarts Haffnersymphonie zu hören. Sie stellt die Kontrafaktur dar zur Welt der Politik, der Intrigen, der eiskalten Spiele um Einfluß und Macht. Auch sie, eine der schönsten und in sich geschlossensten Symphonien Mozarts, ist ein Spiel, aber eines ohne Finalität und innerweltliche Relationen oder Bedeutungen. Der zum Tode entschlossene General legt die Platte selbst auf, hört noch eine Weile dem Schriftsteller zu, der ihn verbal zu zerstören sich anschickt - was realiter seine somatischen Krankheiten und die gegen ihn intrigierenden Mitarbeiter besorgen - geht dann in ein Nebenzimmer und macht dort, ungesehen von den Anderen und den Zuschauern, seinem Leben ein Ende. Zu hören ist ein Schuß, zu hören ist während der gesamten Szene die Haffnersymphonie. Beide führen hinaus aus der Welt des Verfalls und des unentrinnbaren Bösen. Mozarts Musik steht hier, wie in dem Roman Das Kalkwerk, 1970, als Chiffre für eine bessere, eine kategorial andere Welt. Als solche besitzt sie keine Kraft der Veränderung - ja gerade in ihrer prinzipiellen Andersartigkeit liegt ihre Stärke. Der General protestiert am Ende seines Lebens, als er erkennen muß, Opfer einer politisch-privaten Jagdgesellschaft geworden zu sein, dagegen nicht mehr verbal oder mit einer Gegen-Intrige, sondern mit der Musik Mozarts. Es wäre gänzlich verfehlt, diesen Akt der Opposition zu interpretieren als Sieg des Politischen über die Welt der Kunst, als Akt der Resignation oder der Unterwerfung; es ist vielmehr die szenische Darstellung einer unaufhebbaren Dichotomie.

10 Während der Schriftsteller, mit welchen Zielen auch immer, sich an der Jagd auf den General beteiligt und die tödliche verbale Attacke vorträgt, also sich selbst instrumentalisiert oder instrumentalisieren läßt für eine innerweltliche Macht-Auseinandersetzung, bleibt es dem unterliegenden General vorbehalten, mit der Haffnersymphonie an jene Sphäre menschlicher Hervorbringungen zu erinnern, die sich der trüben Machtpolitik, die sich den Akten des menschlichen Willens, entziehen, sich der Welt verweigern. Die groteske Kehrseite wird im Kalkwerk, dem 1970 erschienenen Roman, gleichsam antizipiert, wiewohl das Groteske nur einen Aspekt der Handlung bildet. Der das Geschehen dominierende Geistesmensch namens Konrad, einst reich, jetzt verarmt, immer in der Hoffnung, die für ihn lebensentscheidende Studie über das Gehör aufs Papier bringen zu können, was stets mißlingt, quält in der Zeit zwischen den Versuchen einer kohärenten Formulierung seine mit ihm im einsamen ehemaligen Kalkwerk lebende Frau mit vielem und mit vielerlei. Darunter auch dem unablässigen Hören der Haffnersymphonie unter Fritz Busch (einem von Thomas Bernhards Lieblingsdirigenten, notabene). Am Ende aller Hoffnungen, den Traum von der Niederschrift der Studie Realität werden zu lassen, erschießt Konrad seine in einem Rollstuhl lebende Frau und stürzt sich in eine Jauchegrube. Er überlebt freilich, anders als der General. Was im Theaterstück ein Moment tragischer Erkenntnis darstellt, die Musik als höchste Repräsentation der Welt der Vorstellung, als ästhetische Objektivation der Freiheit, ist hier, im Roman, Teil einer tödlichen Farce, aus der selbst die Haffnersymphonie keinen Ausweg weisen kann.

11 VIERTE UND LETZTE ANNÄHERUNG: GENIE UND SELBSTBEHAUPTUNG Es ist ein immer noch gängiges Klischee der Diskussion um Thomas Bernhard, sein Leben und sein Werk unter die Kategorie des Hasses zu subsumieren; mir scheint dies höchst oberflächlich, ja eigentlich falsch. Sicher speisen sich seine unterschiedlichen Aversionen aus negativen Emotionen, aber sie wären wohl eher als psychische Verletzungen und als Folgen unerwiderter Zuneigung zu bestimmen. In seinem Verhältnis zur überlieferten Kunst ist offensichtlich, wie elementar es von Verehrung, ja Liebe geprägt ist, jedenfalls gegenüber den Künstlern und den Werken der Kunst, die dem kritischen Blick des Lesenden und Hörenden standhalten. Zwar verfällt vieles dem Verdikt der Mittelmäßigkeit (zu recht oder unrecht, das sei hier nicht entschieden), aber die Philosophen und Künstler, die als Genies erkannt werden, können sich der geradezu schwärmerischen Verehrung Bernhards und seiner dem Autor darin stets gleichenden Figuren sicher sein. In der Literatur gilt dies für Novalis, in der Philosophie für Schopenhauer, in der Musik für Mozart. Unter den ausübenden Künstlern hat Bernhard niemandem eine solche Hymne gedichtet wie dem kanadischen Pianisten Glenn Gould (1932-1982) und seiner 1955 erschienen Interpretation der Goldberg- Variationen Johann Sebastian Bachs, in dem Prosatext Der Untergeher. Goulds meisterliche Deutung des Variationen-Werks erscheint als Beispiel für absolute künstlerische Durchdringung vorgegebener Vollkommenheit, erscheint als kongeniale Leistung.

12 In der fiktionalen Handlung zerstört Goulds Genialität unwissentlich und unwillentlich das Leben seiner zwei österreichischen Pianistenfreunde, des Erzählers und des ebenfalls hochbegabten, aber eben nicht genialen Klaviervirtuosen Wertheimer. Goulds unübertreffliches Klavierspiel läßt beide die Grenzen ihres Talents nur zu schmerzlich erkennen und erleben. Der Text stilisiert, nicht ohne gelegentliche Ironie und selbstkritische Reflexion, Glenn Gould zum Inbild des großen Einzelnen als Genie, des Genies als großen Einzelnen. Zu seiner exzeptionellen Begabung kommt hinzu eine lebenslange Leidenschaft, ein Kunst- Fanatismus, den der Erzähler, den der Autor Thomas Bernhard mit unerschöpflicher sprachlicher Virtuosität feiert. Deutlich wird bald, daß Bernhards Roman sich begreift als literarisches Äquivalent der musikalischen Vorlage - als Variationensatz des zentralen spätromantischen Themas von der Auserwähltheit des Genies, der Einsamkeit als unabdingbarer Voraussetzung kreativer Arbeit und der qualitativen Differenz zwischen künstlerischer Spitzenleistung und den Hervorbringungen aller anderen. Bernhards eigenwillige und eigentümliche Adoration kunst-olympischer Gipfeltaten kann man natürlich als leicht pubertäre Anbetung von Klassik- Idolen kritisieren, nicht unähnlich der Schwärmerei Heranwachsender für bestimmte Pop-Größen. Aber unbestreitbar und für die Erkenntnis der Strukturen von Bernhards Texten unerläßlich dürfte die Relevanz sein, die dichotomischen Verhältnissen in ihnen ganz grundsätzlich zukommt.

13 Von Anfang an gibt es nur genial oder abgrundschlecht, herrlich oder entsetzlich, vollständig gelungen oder vollständig mißlungen. Alles ist entweder eine Tragödie oder eine Komödie, zum Weinen oder zum Lachen. Mögen sich auch im Verlauf seiner schriftstellerischen Entwicklung diese Phänomene ein wenig komplizieren und einander angleichen - noch in seinem späten Roman Alte Meister, 1985, ist es das Lebensvergnügen des alten Privatgelehrten Reger, den Kunstwerken im Kunsthistorischen Museum in Wien Fehlerhaftigkeit und Mediokrität nachzuweisen. Ich habe die Strukturverhältnisse in Bernhards Texten jetzt ein wenig zugespitzt; und der Roman heißt auch nicht Glenn Gould, sondern Der Untergeher, meint also den Erzählerfreund Wertheimer. Die Erinnerung an ihn und an die gemeinsam mit Glenn Gould verbrachten Stunden und Tage (der Kunstfigur Glenn Gould, denn von einer persönlichen Begegnung Goulds mit Thomas Bernhard ist nichts bekannt; sie wäre theoretisch allerdings möglich gewesen bei dessen Salzburg-Aufenthalt 1957) sind konstitutiver für die Handlung als die Reflexionen über Goulds Bach-Spiel. Und dennoch ist es der Moment, in dem der Erzähler Glenn Gould zum ersten Mal spielen hört, ist es die Erinnerung an seine Interpretation der Goldberg-Variationen, die den Kern von Bernhards Reflexionen über den genialen Einzelnen bilden. Bachs Musik, so wie die Mozarts oder Schuberts, die ich mit Bernhards Texten versucht habe in Beziehung zu setzen, ertönt als Beispiel für eine Sphäre der Existenz, die ein Versprechen der Vollkommenheit und ihre temporäre Erfüllung in sich trägt und vom nachvollziehenden Genie zur Wirklichkeit entbunden werden kann.

14 Nachbemerkung Herbst 2009: Die vorliegende Skizze war, sozusagen, das gedankliche Gerüst eines der Musik im Werk Thomas Bernhards gewidmeten Abends am 29. April 1999 in der Bibliothek der Theresianischen Akademie zu Wien. Der Schauspieler Peter Gruber las von mir ausgewählte Texte Bernhards, die in engem Zusammenhang standen, jedenfalls stehen sollten, zu meinen Überlegungen. Beispiele aus Schuberts Forellenquintett, Mozarts Zauberflöte, seiner Haffner-Symphonie und aus den Goldberg-Variationen Johann Sebastian Bachs, gespielt naturgemäß von Glenn Gould, bildeten die musikalische Grundlage dieser gedanklichen Bemühungen. Ich hoffe, daß auch ohne die fiktionalen Texte und ohne die tönenden Vergegenwärtigungen meine Reflexionen nachvollziehbar und plausibel sind. Sie können gelesen werden als Gegenstück zu den Anmerkungen über bildende Kunst bei Bernhard.