Scheidungskinder Ein Beitrag von Hans-Jörg F. Karrenbrock
Die Verzweiflung, die Menschen überkommt, wenn die Familie zerbricht, kann so gross sein, dass gelegentlich schlimme Kurzschlusshandlungen möglich werden: Die Zeitungen berichten immer wieder von Familientragödien. Normal ist das nicht. Und auch in keinem Falle vorbildlich oder nachahmenswert. Denn wir haben die Aufgabe, unsere Kinder ins Leben zu führen und nicht in den Tod. Selbst Scheidungs- oder Trennungskinder können eine (wenn auch irgendwie andere) Sozialisation und geistige Reife erfahren, die sie fähig macht, ihr Leben zu meistern. Sowohl für die Kinder als auch für den Verlassenen ist die Trennung ein so schmerzhafter Vorgang, dass er zeitlebens nie vergessen wird. Tonnenweise Bücher gibt es zu diesem Thema. Sie alle münden (mehr oder minder) darin, sich der Sprachlosigkeit zu stellen, den Schmerz zu durchleben, die Zusammengehörigkeit zu pflegen, die Liebe zu bewahren und den Kindern nahe und für sie da zu sein. Seite 2
In der plötzlichen Trennung von den Millionen kleinen Pflichtigkeiten eines aktiv tätigen Familienvaters ("Schatz, fährst Du morgen früh die Kinder zu..."- "Hol' doch heute abend noch Klopapier und Zucker, wenn du schon..." etc) liegt auch eine grosse Chance. Ein alleingelassener Vater hat viel mehr Zeit, sich reflektiven und philosophischen Betrachtungen hinzugeben. Und da er nicht mehr der "tägliche Mahner, Ermahner und Erzieher" ist, kann er viel gelassener mit den Kindern umgehen. Das mögen Kinder! Mutter wird oft als "nervend" empfunden; gerade, weil sie sich durch die Doppelbelastung (Schuldgefühle + Erziehungsstress) an die Wand gedrängt fühlt. Natürlich weiß eine jede Frau, die ihrem Mann die Kinder weggenommen hat, das sie auch Schuld am Unglück der Kinder hat. Die Kinder können ihrer Mutter zwar den Vorwurf nicht direkt machen, solange sie noch klein und bei ihr wohnend abhängig sind, aber der Kausalbezug geht den Kindern nicht verloren. Um so wichtiger für den Vater, den täglichen Telefonanruf und die regelmässigen und vor allem verlässlichen (!!) Besuche zu pflegen. Männer, die verlassen wurden, haben nun eine neue Herausforderung und Verpflichtung. Sie müssen ihren Kindern jeden Tag beweisen, dass sie sich aus dem Leben nicht herausschneiden lassen, dass sie ihre Kinder lieben und dass sie immer ihr Papa seien wollen. Geduldig, ohne unnötigen juristischen Druck, vertrauend auf die ausgleichende Hilfe Gottes, sollen sie einzig das Wohl ihrer Kinder im Auge haben. Ohne Groll und Rachegedanken gegenüber der Frau, die sie verließ, und der Seite 3
sie, neben diesem entsetzlichen Verlust und Schmerz, immerhin auch die wohl schönsten Augenblicke ihres Lebens verdanken: Denken Sie an die rosenroten Tage der frischen Liebe, die Geburt der Kinder, die überstandenen Krisen... diese Frau war Ihnen einmal sehr nahe, sie war (neben den Kindern) der Hauptgrund für Ihr Handeln und Streben. Sie hat Ihr Leben verändert und bereichert, Sie gestärkt und getröstet, zerstreut und oft genug zum Lachen gebracht. Wenn Sie sich erinnern, dann daran. Denn ein gütiger, ja herzensguter Ex-Ehemann ist viel schwerer zu ertragen, als ein auf Rache sinnender! Paulus schreibt im Römerbrief "Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken; tust du das, dann sammelst du glühende Kohlen auf seinem Haupt" (Röm. 12,20). Ein zugegeben heute ungelenk empfundenes Bild, aber doch eine verständliche Aussage. Mario Luzi umschreibt es moderner: "Verzeihen ist nicht Dummheit, sondern die einzige Möglichkeit, erlittenes Unrecht an den Urheber zurückzuschicken". Und aus der Kraft der Verzweiflung kann die Kraft wachsen, noch besser für die Kinder da zu sein, als früher. Vorsichtig, Schritt für Schritt, Gebet für Gebet führt der Herr uns wieder ins Licht. Ähnlich wie Elia, der sich schwer geprüft mit den Worten "Es ist genug!" in der Wüste unter einen Strauch legt, um zu sterben. (1.Könige 19,4-5) Seite 4
Und es ist auch völlig legitim, die Klage zu erheben, und auch, sich so schwach zu fühlen, als könne man die Belastung nicht mehr ertragen! Denn spätestens dann, wenn man nicht mehr kann und mag, sendet der Herr Hilfe. Bei Elia ist es ein Engel, der ihn anrührt und Brot und Wasser bereitstellt: "Steh auf und iß!" Das sagt der Engel sogar dreimal zu Elias, so hartnäckig kann Gott seine Hilfe offerieren. Doch wann kommt diese Hilfe und in welcher Form? - Eine Bekannte aus New York schrieb mir mal den Satz: "God is not in hurry, but he is always in time." - So geht es auch Elia. Gestärkt wandert er weitere 40 Tage durch die Wüste, um am Heiligen Berg Horeb eine neue Berufung, Aufgabe und Legitimation zu erfahren. So ist es auch mit uns. Vorsichtig, Schritt für Schritt, Gebet für Gebet führt der Herr uns wieder ins Licht. Und wir dürfen gewiss sein: Auf der Hochzeit unserer Kinder werden wir tanzen und bei der Taufe unserer Enkel werden wir singen! Vertrauen, Zuversicht und Hoffnung sind indes die Wegzehrung auf unserer Wanderschaft durch die Wüste dieser Krise. Vertrauen, Zuversicht und Hoffnung sind Geschenke Gottes. Wir, die wir glauben, wissen das. Seite 5