Das Zwölfprophetenbuch

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Transkript:

n Jakob Wöhrle Das Zwölfprophetenbuch Vom einzelnen Buch zur Sammlung n Das Zwölfprophetenbuch wurde lange Zeit als eine eher lose Zusammenstellung eigenständiger und unabhängig zu lesender Prophetenbücher angesehen. Doch die neuere Forschung zeigt, dass das Zwölfprophetenbuch eine über einen längeren Zeitraum entstandene, bewusst gestaltete Sammlung mit einer die einzelnen Bücher übergreifenden Gesamtaussage darstellt. 1 Das Zwölfprophetenbuch als Einheit Das Zwölfprophetenbuch umfasst zwölf mehr oder weniger kurze prophetische Bücher. Darin finden sich so bekannte Bücher wie das Hosea-, das Amos- oder auch das Jonabuch, aber auch weniger bekannte Bücher wie das Obadja- oder das Nahumbuch. Die Zusammenstellung dieser Bücher zu einer gemeinsamen Sammlung zu einem Zwölfprophetenbuch findet sich schon in den ältesten erhaltenen Handschriften. Während das Jesaja-, das Jeremia- oder das Ezechielbuch jeweils auf eine eigene Schriftrolle geschrieben wurden, sind die kleinen Propheten, etwa in den berühmten Handschriften aus Qumran, stets auf einer gemeinsamen Schriftrolle zusammengefasst. Die Bücher des Zwölfprophetenbuches wurden schon früh als eine Einheit angesehen. So nennt etwa Jesus Sirach in seinem Lob der Väter neben Jesaja, Jeremia und Ezechiel die zwölf Propheten (Sir 49,10). Auch die Rabbinen erwähnen die kleinen Propheten häufig zusammenfassend als die Zwölf. Die Zusammenstellung der zwölf kleinen Propheten zu einer gemeinsamen Sammlung führte man allerdings meist auf rein pragmatische Gründe zurück. So meinten schon die Rabbinen, dass die kleinen Propheten auf einer Rolle zusammengefasst wurden, damit sie angesichts ihres geringen Umfangs nicht verloren gehen eine Sicht, die sich bis in die neuere Zeit hinein durchgehalten hat. Seit der kritischen Erforschung des Alten Testaments sah man aber immer deutlicher, dass die im Zwölfprophetenbuch zusammengefassten Bücher zahlreiche Gemeinsamkeiten bieten, die über das einzelne Buch hinausgehen. Einige Bücher beginnen etwa mit vergleichbar gestalteten Überschriften. Zudem zeigen sich zwischen den einzelnen Büchern teils sehr markante thematische Verbindungen bis hin zu wörtlichen Übereinstimmungen ganzer Verse. Diese Beobachtungen führten Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jh. zu ersten tastenden Versuchen, die Entstehung des Zwölfprophetenbuches zu erhellen und das Zwölfprophetenbuch nicht nur als Sammlung von zwölf eigenständigen Büchern, sondern als bewusst gestaltete Einheit zu lesen. So wurde angenommen, dass die Bücher des Zwölfprophe- 1 In diesem Beitrag wird neben dem Ausdruck Zwölfprophetenbuch der Ausdruck Buch/Bücher auch für die einzelnen Prophetenbücher verwandt. Andere Exegeten gebrauchen zur Abhebung des einzelnen Prophetenbuches vom Zwölfprophetenbuch den Ausdruck (Propheten-)Schrift. 2 n Bibel und Kirche 1/2013

Das Zwölfprophetenbuch tenbuches in mehreren Schritten zusammengestellt wurden. 2 Ja, man nahm sogar an, dass die einzelnen Bücher durch buchübergreifende Bearbeitungen aneinander angepasst wurden und das Zwölfprophetenbuch so mit einer die einzelnen Bücher übergreifenden Gesamtaussage versehen wurde. 3 Diese frühen Versuche, das Zwölfprophetenbuch als Einheit zu verstehen, reichten aber nicht über vage Vermutungen hinaus. Das Gros der alttestamentlichen Forschung nahm sie daher kaum wahr. Die Neuentdeckung des Zwölfprophetenbuches Diese Situation änderte sich in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In dieser Zeit kam es zu einer regelrechten Neuentdeckung des Zwölfprophetenbuches. Es wurde nun erstmals umfassend begründet, dass es sich bei dem Zwölfprophetenbuch um 2 3 4 5 6 Vgl. etwa Heinrich Ewald, Die Propheten des Alten Bundes, Bd. 1, Göttingen 1867, 74-82, oder Carl Steuernagel, Lehrbuch der Einleitung in das Alte Testament, Tübingen 1912, 669-672. So insbesondere Rolland E. Wolfe, The Editing of the Book of the Twelve, in: ZAW 53 (1935), 90-129. Vgl. James D. Nogalski, Literary Precursors to the Book of the Twelve (BZAW 217), Berlin/New York 1993; ders., Redactional Processes in the Book of the Twelve (BZAW 218), Berlin/New York 1993; Aaron Schart, Die Entstehung des Zwölfprophetenbuchs. Neubearbeitungen von Amos im Rahmen schriftenübergreifender Redaktionsprozesse (BZAW 260), Berlin/New York 1998. Einen Überblick über die neuere und neueste Forschung zum Zwölfprophetenbuch geben Aaron Schart, Das Zwölfprophetenbuch als redaktionelle Großeinheit, in: ThLZ 133 (2008), 227-246; James D. Nogalski, One Book and Twelve Books: The Nature of the Redactional Work and the Implications of Cultic Source Material in the Book of the Twelve, in: Ehud Ben Zvi/James D. Nogalski/Thomas Römer (Hg.), Two Sides of a Coin. Juxtaposing Views on Interpreting the Book of the Twelve/the Twelve Prophetic Books (Analecta Gorgiana 201), New York 2009, 11-46, sowie die Beiträge des Sammelbands Rainer Albertz/James D. Nogalski/ Jakob Wöhrle (Hg.), Perspectives on the Formation of the Book of the Twelve. Methodological Foundations Redactional Processes Historical Insights (BZAW 433), Berlin/Boston 2012. Vgl. aber auch die Kritik an der neueren Forschung zum Zwölfprophetenbuch bei Ehud Ben Zvi, Is the Twelve Hypothesis Likely from an Ancient Readers Perspective, in: Ehud Ben Zvi/James D. Nogalski/Thomas Römer (Hg.), Two Sides of a Coin. Juxtaposing Views on Interpreting the Book of the Twelve/the Twelve Prophetic Books (Analecta Gorgiana 201), New York 2009, 47-96, oder Christoph Levin, Das Vierprophetenbuch. Ein exegetischer Nachruf, in: ZAW 123 (2011), 221-235. eine Sammlung handelt, die in mehreren bewusst vorgenommenen, über die Grenzen des einzelnen Buches hinausgehenden Bearbeitungsschritten entstanden ist und daher als buchübergreifende Einheit mit einer buchübergreifenden Gesamtaussage gelesen werden kann. Als Pioniere in diesem neuen Forschungsfeld sind insbesondere James D. Nogalski und Aaron Schart zu nennen. 4 Nogalski untersuchte vor allem die Rahmenkapitel der einzelnen Bücher und konnte in diesen Kapiteln bewusste Verknüpfungen zwischen den aneinander angrenzenden Büchern aufzeigen. Dabei verteilte Nogalski diese buchübergreifenden Verbindungen bereits auf mehrere Ebenen und kam so zur Annahme, dass das Zwölfprophetenbuch in drei Stufen zu seiner vorliegenden Gestalt angewachsen sei. Schart dagegen ging von einer entstehungsgeschichtlichen Analyse des Amosbuches aus. Er wies sodann Verbindungen zwischen den einzelnen Entstehungsschichten des Amosbuches und anderen Büchern des Zwölfprophetenbuches auf und zeichnete so ein nochmals komplexeres, insgesamt sechsstufiges Wachstum der Sammlung nach. Auf diese frühen Ansätze von Nogalski und Schart folgten in den vergangenen Jahren eine Vielzahl weiterer Arbeiten. 5 Diese widmeten sich insbesondere einzelnen Teilsammlungen oder einzelnen Themen und Motiven. Zudem wurden die in den 90er Jahren entstandenen Gesamtmodelle weiter präzisiert. Auch wenn in diesem vergleichsweise jungen Zweig der alttestamentlichen Wissenschaft noch vieles unklar und umstritten ist, so zeichnen sich in der jüngsten Forschung doch einige Ergebnisse ab, die als relativ gesichert gelten können. 6 Es besteht mittlerweile etwa ein recht großes Einvernehmen, dass am Beginn der Entstehung des Zwölfprophetenbuches zunächst zwei Teilsammlungen geschaffen wurden, nämlich ein die Bücher Bibel und Kirche 1/2013 n 3

Jakob Wöhrle Hosea, Amos, Micha und Zefanja umfassendes Vierprophetenbuch sowie ein die Bücher Haggai und Sacharja umfassendes Zweiprophetenbuch. Diese beiden Teilsammlungen wurden dann wohl recht bald in eine gemeinsame Sammlung überführt sowie vermutlich in mehreren Schritten um weitere Bücher ergänzt. Eines der letzten, wenn nicht sogar das letzte der in die Sammlung integrierten Bücher ist sicherlich das Jonabuch. Die so skizzierte Entstehung des Zwölfprophetenbuches und die aus dieser Entstehungsgeschichte heraus sich ergebende Anlage dieser Sammlung soll nun ein wenig genauer dargestellt werden. 7 Das exilische Vierprophetenbuch Eines der bedeutendsten Ergebnisse der neueren Forschung zum Zwölfprophetenbuch ist die Erkenntnis, dass die Bücher Hosea, Amos, Micha und Zefanja, vermutlich in der späten Exilszeit (zweite Hälfte des 6. Jh.v.Chr.), zu einer gemeinsamen Sammlung, einem Vierprophetenbuch, zusammengefasst wurden. 8 Für diese Annahme sprechen gleich mehrere Beobachtungen. So zeichnen sich diese vier Bücher durch vergleichbare Überschriften aus. Die Bücher Hosea, Micha und Zefanja beginnen mit der gleichlautenden Wendung Wort JHWHs, das geschah zu. Das Amosbuch beginnt (wohl aufgrund einer älteren, der Vierprophetenbuch-Bearbeitung vorgegebenen Überschrift) mit der zumindest vergleichbaren Formulierung Worte des Amos..., die er geschaut hat. Alle vier Überschriften sind zudem dadurch verbunden, dass sie eine Datierung über die Regierungszeit der Könige des Nord- und Südreichs enthalten. Neben den vergleichbar gestalteten Überschriften ist den Büchern Hosea, Amos, Micha und Zefanja gemeinsam, dass sich in diesen Büchern eine Bearbeitungsschicht nachweisen lässt, die sich durch eine gemeinhin als deuteronomistisch bezeichnete, also eine vom Buch Deuteronomium her beeinflusste Sprache auszeichnet. 9 Dabei zeigen sich zwischen den in den einzelnen Büchern erkennbaren deuteronomistischen Bearbeitungen teils recht markante thematische und terminologische Gemeinsamkeiten. Von den Überschriften und den in diesen Überschriften belegten Datierungen her liest sich das exilische Vierprophetenbuch als eine Geschichte der Prophetie. Das Vierprophetenbuch schildert das Ergehen des prophetischen Wortes von der Zeit Jerobeams II. von Israel, der kurz vor dem 722 v.chr. geschehenen Untergang des Nordreichs Israel herrschte, bis zur Zeit Joschijas von Juda, der kurz vor dem 587 v.chr. geschehenen Untergang des Südreichs Juda regierte. Das Vierprophetenbuch nennt die kultischen, sozialen und politischen Verfehlungen, die in dieser Zeit begangen wurden. Es klagt dabei insbesondere die Oberschicht mit ihrem unsolidarischen Verhalten gegenüber der ärmeren Bevölkerung an (vgl. etwa Hos 3,1-4.5*; Am 8,5.6b; Mi 6,10-15; Zef 3,1-4). Und es zeigt so die Gründe auf, die zu den genannten Katastrophen führten, also zunächst zum Untergang des Nordreichs (Am 9,7-10) und sodann zum Untergang des Südreichs (Zef 3,11-13). Beachtenswert ist das Ende des exilischen Vierprophetenbuches. So wird in dem von den 7 8 9 Vgl. zum Folgenden Jakob Wöhrle, Die frühen Sammlungen des Zwölfprophetenbuches. Entstehung und Komposition (BZAW 360), Berlin/New York 2006; ders., Der Abschluss des Zwölfprophetenbuches. Buchübergreifende Redaktionsprozesse in den späten Sammlungen (BZAW 389), Berlin/New York 2008. Zum exilischen Vierprophetenbuch vgl. insbesondere Nogalski, Precursors, 176-178; Schart, Entstehung, 156-233; Rainer Albertz, Die Exilszeit. 6. Jahrhundert v.chr. (BE 7), Stuttgart 2001, 164-185; Wöhrle, Sammlungen, 241-284. Nach Wöhrle, Sammlungen, 245, sind dieser Bearbeitung Hos 1,1; 3,1-4.5*; 4,1aba.10.15; 8,1b.4b-6.14; 13,2-3; 14,1; Am 1,1*; 2,4-5.9-12; 3,1b.7; 4,13*; 5,11.25-26; 7,10-17; 8,5.6b.11-12; 9,7-10; Mi 1,1.5b-7.9.12b; 5,9-13; 6,2-4a.9aa.10-15; Zef 1,1.4-6.13b; 2,1-2.3*.4-6.8-9a; 3,1-4.6-8a.11-13 zuzuschreiben (* bedeutet, dass nicht der ganze Vers gemeint ist). 4 n Bibel und Kirche 1/2013

Das Zwölfprophetenbuch Bearbeitern des Vierprophetenbuches eingebrachten Wort Zef 3,11-13 ein Reinigungsgericht angekündigt, bei dem die Hochmütigen des Volkes entfernt werden und nur ein armes und geringes Volk übrig bleibt. Dieses arme Volk wird hier als der Rest Israels, das allein verbleibende Gottesvolk, dargestellt, in dem es kein Unrecht mehr geben wird. Am Ende des exilischen Vierprophetenbuches wird also die 587 v.chr. von den Babyloniern vorgenommene Exilierung der judäischen Oberschicht als gerechtes Gericht JHWHs gedeutet. Aber noch mehr: Mit diesem Gericht wurde eine Situation geschaffen, hinter die es kein Zurück mehr gibt. Eine Rückkehr der Exilierten oder gar eine Restauration der vorexilischen Verhältnisse ist hier nicht vorgesehen. Das Vierprophetenbuch lässt somit die Position der während des Exils im Lande verbliebenen niederen Bevölkerung erkennen. Auf Grundlage der in die Sammlung aufgenommenen Prophetenbücher stellen sie den Untergang von Nord- und Südreich wie auch die Exilierung der Oberschicht als gerechtes und definitives Gericht JHWHs dar. Mit der literarischen Rekonstruktion des exilischen Vierprophetenbuches konnte somit eine neue, so zuvor noch nicht bekannte Stimme aus der exilischen Diskussion um die Zukunft des Volkes freigelegt werden. Es zeigt sich die Stimme der armen Landbevölkerung, die sich nun allein als das wahre Gottesvolk versteht und sich gegen die Rückkehr der exilierten Oberschicht ausspricht. Die weitere Entstehung des Zwölfprophetenbuches Mit Blick auf die weitere Entstehung des Zwölfprophetenbuches ist noch vieles umstritten und Gegenstand umfassender Diskussion. Relativ sicher ist aber, dass das exilische Vierprophetenbuch schon recht bald mit dem in frühnachexilischer Zeit (Ende des 6. Jh.v.Chr.) entstandenen Haggai-Sacharja- Korpus verbunden wurde, in dem die erneute heilvolle Zuwendung JHWHs nach dem Exil verheißen wird. Im weiteren Verlauf der Entstehung des Zwölfprophetenbuches wurden der Sammlung, vermutlich in mehreren Schritten, weitere Bücher hinzugefügt. Zudem wurden weitere buchübergreifende Bearbeitungen in den einzelnen Büchern vorgenommen. Interessant sind dabei insbesondere zwei inhaltlich gegenläufige Tendenzen. 10 So wurde in zahlreichen Büchern des Zwölfprophetenbuches die Ankündigung eines universalen Völkergerichts ergänzt (Joel 4,1-3.9-17; Mi 5,7-8.14; 7,10b-13; Hag 2,6-8.21b.22; Sach 14,3.12.14b.15 u.ö.). Darin drückt sich die Hoffnung aus, dass JHWH gegen die Völkerwelt vorgehen und sie angesichts ihrer frevelhaften Taten, die sie am Gottesvolk begangen haben, bestrafen wird. Neben diesen völkerfeindlichen Worten finden sich im Zwölfprophetenbuch sodann einige, wohl nochmals später anzusetzende Nachträge, in denen gerade Heil für die Völker angekündigt wird (Joel 3,1-5; Mi 4,1-4; Zef 3,9-10; Sach 2,15-16; 8,20-23; 14,16-19 u.ö.). Es wird verheißen, dass die Völker, wenn sie sich JHWH zuwenden, durch das erwartete Gericht hindurch gerettet werden. Aufgrund dieser Bearbeitungen beschreibt das Zwölfprophetenbuch nun einen mehrfachen Weg vom Gericht zum Heil. Sowohl dem eigenen Volk als auch den Völkern wird immer wieder aufs Neue das Gericht angesagt, aber auch Heil durch das Gericht hindurch verheißen. 10 Vgl. hierzu Wöhrle, Abschluss, 139-171.335-361. Bibel und Kirche 1/2013 n 5

Jakob Wöhrle Das Jonabuch und die Gnadenformel Am Ende der Entstehung des Zwölfprophetenbuches wurde schließlich das Jonabuch in die Sammlung aufgenommen. Dieses erzählt, wie der Prophet Jona von JHWH dazu gezwungen wird, nach Ninive zu gehen und der Stadt das Gericht anzukündigen, und es stellt dar, wie die Niniviten zu JHWH umkehren, woraufhin JHWH von seinem geplanten Gericht absieht. Beachtenswert ist dabei, dass in Jona 4,2 die aus Ex 34,6-7 bekannte, gerne als Gnadenformel bezeichnete Charakterisierung der göttlichen Eigenschaften aufgenommen wird. 11 In der in Jona 4,2 belegten Version der Gnadenformel wird JHWH beschrieben als gnädiger und barmherziger Gott, langsam zum Zorn und von großer Güte, einer, der sich des Unheils gereuen lässt. Im Rahmen des Jonabuches wird mit der Gnadenformel aus dem Wesen JHWHs heraus eine theologische Begründung gegeben, warum JHWH auf die Umkehr der Niniviten reagiert. Weil JHWH ein gnädiger und barmherziger Gott ist, lässt er sich auf die Umkehr der Menschen ein und sieht von seinem geplanten Gericht ab. Neben Jona 4,2 werden die Gnadenformel sowie einzelne Elemente dieser Formel auch noch an anderer Stelle des Zwölfprophetenbuches aufgenommen. In Joel 2,13 findet sich nochmals ein Zitat der gesamten Formel. Und an einigen weiteren Stellen werden jeweils einzelne Begriffe aus der Gnadenformel aufgenommen, so in Jona 3,9 der Begriff Reue, in Mi 7,18-20 die Begriffe Barmherzigkeit und Güte, in Nah 1,3 die Wendung langsam zum Zorn und schließlich in Mal 1,9 der Begriff Gnade. Ob all diese Aufnahmen der Gnadenformel im Rahmen ein und derselben Bearbeitung eingebracht wurden, ist derzeit noch umstritten. 12 Deutlich ist aber, dass das vorliegende Zwölfprophetenbuch durch die genannten Aufnahmen der Gnadenformel einen theologischen Überbau erhält. Von der Gnadenformel her wird der im Zwölfprophetenbuch mehrfach durchlaufene Weg vom Gericht zum Heil einer theologischen Begründung zugeführt. Es wird aus dem gnädigen und barmherzigen Wesen JHWHs heraus erklärt, weshalb JHWH immer wieder aufs Neue auf die Umkehr der Menschen reagiert, die Menschen vor dem Gericht bewahrt und neues Heil schafft. Die Botschaft des Zwölfprophetenbuches Das Zwölfprophetenbuch ist, so zeigt die neuere Forschung, eine über Jahrhunderte gewachsene, bewusst gestaltete Sammlung mit einer die einzelnen Bücher übergreifenden Gesamtaussage. Die einzelnen Bücher des Zwölfprophetenbuches können und wollen daher nicht nur in ihrer Vereinzelung, sondern im Zusammenhang des gesamten Korpus gelesen und verstanden werden. Als eine das einzelne Prophetenbuch übergreifende Einheit gelesen, beschreibt das Zwölfprophetenbuch einen mehrfachen Weg vom Gericht zum Heil, und zwar gleichermaßen für das eigene Volk wie auch für die Völker. Es nennt Verfehlungen, mit denen sich das Volk und die Völker verschuldet haben, und sagt angesichts dieser Verfehlungen das Gericht JHWHs an. Es zeigt aber auch Wege durch dieses Gericht hindurch zur neuen heilvollen Zuwendung JHWHs. Und es reflektiert die theologischen Gründe für diesen immer wieder aufs Neue möglichen Weg vom Gericht zum Heil. 11 Zur Gnadenformel im Zwölfprophetenbuch vgl. insbesondere Ruth Scoralick, Gottes Güte und Gottes Zorn. Die Gottesprädikationen in Exodus 34,6f und ihre intertextuellen Beziehungen zum Zwölfprophetenbuch (HBS 33), Freiburg u.a. 2002. 12 So Wöhrle, Abschluss, 400-419; anders etwa Nogalski, Processes, 273 Anm. 79; Schart, Entstehung, 288. 6 n Bibel und Kirche 1/2013

Das Zwölfprophetenbuch Zusammenfassung Der Beitrag gibt einen Überblick über die neueren Erkenntnisse der Zwölfprophetenbuch- Forschung. Er zeigt die wichtigsten Entstehungsstufen dieser Sammlung, von den ersten Teilsammlungen bis zu seiner vorliegenden Endgestalt. Und er beschreibt die das einzelne Prophetenbuch übergreifende Botschaft des Zwölfprophetenbuches, in dem ein mehrfacher Weg vom Gericht zum Heil geschildert und theologisch reflektiert wird. PD Dr. Jakob Wöhrle ist Privatdozent für Altes Testament an der Evangelisch- Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Theologiegeschichte des Alten Testaments, insbesondere im Pentateuch, der Prophetie und den Psalmen. Seine Adresse: Universitätsstraße 13-17, 48143 Münster. E-Mail: woehrle@uni-muenster.de Anzeige Exerzitien im Alltag 14 x 21 cm; 100 Seiten; Wire-O-Bindung E [D] 12,90 E [A] 13,30 ISBN 978-3-460-32078-9 VersandBuchHandlung Silberburgstr. 121 70176 Stuttgart Tel. 07 11 / 6 19 20 37 Fax 30 E-Mail: impuls@bibelwerk.de www.bibelwerk-impuls.de Schon in der Bibel wurden die Propheten durch einen An-Ruf Gottes aus ihrem geplanten Lebenskonzept gebracht. Gott brauchte sie, so wie sie waren, für eine Aufgabe, die ihnen zunächst unerfüllbar erschien. Dieser Ruf Gottes ergeht auch heute noch an Menschen. Gott hat mit jedem etwas Wichtiges vor. Bibel und Kirche 1/2013 n 7