Das Wesen der Seele Ein Beitrag von Hans-Jörg F. Karrenbrock
Die Frage ist so alt, wie die Menschheit: Was ist, woraus besteht die menschliche Seele? Es ist stets angenommen worden, die Seele sei etwas dem Menschen eigenes: - die Sammlung seiner positiven Eigenschaften, - der Ort, wo der gesunde Menschenverstand zuhause ist, - das Zentrum jener geistigen Hülle, die sich im irdischen Tod vom Körper löst, - die Liebe usw. Unbegründet und unerklärlich bleibt bei dieser Ansichtsweise, weshalb sich die Seele überhaupt vom Körper trennt und woher sie weiß, wohin ihre Reise gehen soll. Verabschieden wir uns doch von dieser Sichtweise und wagen wir eine andere. Gehen wir davon aus, daß die Seele überhaupt nicht dem Menschen eigen ist. Dafür ist sie auch zu unerklärlich, zu unsichtbar, zu mysteriös, zu vage, zu ungrifflich. Vergegenwärtigen wir uns den folgenden Aspekt: Gott legt die Seele in jedes beseelte Wesen, ob Mensch, Tier oder sonsteine beseelte Lebensform. Die Seele ist daher nichts materielles, irdisches oder gar rein menschliches, sondern etwas göttliches. Die Seele ist das Samenkorn Gottes. Das Samenkorn Gottes - ein schönes und gleichzeitig kluges Bild! Seite 2
Wenn die Seele, die uns innewohnt, von Gott in den Menschen gegeben wurde, würde sich augenblicklich erklären - warum Gott in und bei jedem Menschen ist, - wie Gott uns so nahe sein kann, obwohl das Universum so groß und allumfassend ist, - warum Gott in jedem Teil der Schöpfung lebt und wirkt, - warum sich alle beseelten Wesen irgendwie miteinander verbunden fühlen, - und: woher die Seele weiß, wohin sie nach dem irdischen Tod gehen soll. Da sie ein Teil Gottes in uns ist, kennt sie auch den Weg zurück. Das ist ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt: Die Seele ist nicht nachweisbar. Sie ist nicht sichtbar, man kann sie nicht beschreiben, wiegen, messen oder identifizieren. Und doch ist sie DAS Bindeglied zwischen den Menschen und Gott. Dies kann sie nur sein, wenn sie von Gott selber in jede beseelte Lebensform gespendet wird. Eine Art Geschenk, das eine flat-rate-dauerverbindung zwischen unserem irdischen Leben und der göttlichen Liebe darstellt. Geht unser irdisches Leben zuende, wandelt die Seele wieder zurück zu Gott und nimmt dabei unser ganzes Wirken mit: das Gute und das Böse, das wir getan haben. Was schwerer wiegt, wird später abgewogen. Aber genau. Seite 3
Doch warum ist die Seele nicht nur "ein Teil Gottes" in uns, sondern sein "Samenkorn"? Dieses Bild verdeutlicht, daß Gott uns unsere Seele gibt, damit diese in uns aufkeimt, Triebe ausbildet, wächst und aufblüht. Gott legt nicht nur einen immer gleichbleibenden Teil seiner Güte, Liebe und Barmherzigkeit in uns, sondern eine dynamische Einheit: die Seele kann wachsen, sich ausbilden und Wurzeln schlagen in uns. So begründet diese Annahme auch unseren Auftrag, den wir von Gott erhalten. Wir sollen -geleitet und behütet von unserer göttlichen Seele, von jenem Teil Gottes, der immer in uns ist und bleibt- unser Leben beeinflussen lassen von der inneren Kraft der Seele. Wie oft hört man die Floskel "Der Mensch hat eine ungeheure Ausstrahlung!" - Doch ausstrahlen kann ich nur, was auch in mich hineinstrahlt. Und wenn wir die Seele als innere Erleuchtung des Herrn in unser menschliches Wesen begreifen, dann wird auch klar, was mit Einstrahlung und Ausstrahlung gemeint ist: Gerade jene Menschen, die "ihren Frieden mit Gott gemacht haben" und die sich von der göttlichgeschenkten Seele durchströmen und durchstrahlen lassen, empfinden wir als Menschen mit besonderer Ausstrahlung. Das hat -von Gandhi bis Mutter Theresa oder Pater Pio- nichts mit Schönheit, Reichtum oder Macht zu tun! Es ist jene bescheidene Wesensart, die die Ausstrahlung ausmacht, und die immer dann entsteht, wenn ein Mensch sich von dem göttlichen Samenkorn hat durchwachsen lassen: Seite 4
- Sich der Führung durch die Seele hingeben, - sich berufen und leiten lassen, - Gott Raum geben, unser Leben zu gestalten! Das ist eine grosse Herausforderung für alle, die dachten, sie seien immer und zu jeder Zeit Herr über ihre eigenen Handlungen. Und doch stoßen wir immer wieder (zumindest aber doch einmal in unserem Leben) auf einen Punkt, an dem unser ganzes energisches Handeln, Zielen und Planen zu keinem Resultat führt. Aus einer Tagebucheintragung kennen wir die folgenden Zeilen: Ich erhielt nichts von dem, was ich erbat; aber alles, was gut für mich war. Gegen mich selbst wurden meine Gebete erhört. Ich bin unter allen Menschen ein gesegneter Mensch. Hier wird ganz deutlich, daß Gott uns manchmal an unsere Grenzen führt, um ihn annehmen zu können. Viele Menschen können aber Gott weder ansprechen, noch zu ihm beten, denn sie wissen nicht "wo er für uns erreichbar ist". Sie suchen -dummes Bild- eine Art Telefonzelle mit dem direkten Draht nach oben. Wenn wir die Seele als gottgehörig annehmen, haben wir unseren direkten Draht. Er führt und endet in uns und jedem beseelten Wesen. Und am Ende unseres irdischen Lebens holt Gott jenes Samenkorn wieder zu sich, es findet seinen Weg heim wie von selbst und unbeirrt. Gott wird dann betrachten, wie sein Samenkorn gediehen ist! Seite 5
Oder ob der Mensch sein Geschenk nicht annehmen wollte oder konnte, oder wie verkümmert das Samenkorn geblieben ist. Vielleicht auch, weil sich der Mensch auf Erden dem Ruf der Seele widersetzte und Böses tat: all die Menschenverführer, Diktatoren, Machtund Profitmenschen, all jene, die die Schöpfung mit Füßen treten und die Achtung vor jedem anderen Lebewesen (ob Mensch oder Tier) verloren haben. Die Seele als Samenkorn Gottes ist ein Angebot. Ein ständiges und direktes Angebot Gottes, uns zu öffnen, uns zu besinnen und uns zu wandeln, wandeln zu lassen. Darum beten wir voll Zuversicht: Herr, nimm alle Seelen in den Himmel auf. Besonders jene, die (durch die Sünde beschwert) Deiner Barmherzigkeit am meisten bedürfen. Doch dürfen wir gewiss sein, dass unsere Gebete erhört werden? In jedem Augenblick, bei jedem Wimpernschlag werden Millionen von Wünschen und Bitten zum Herrn geschickt: aus ärmlichen Hütten und aus prunkvollen Palästen, von Sterbenden und Gezeugten, von Verliebten und Verlorenen. Und das nicht nur von der Erde, sondern von jeder beseelten Lebensform des unergründlichen Universums und darüber hinaus. Was soll mein Gebete da schon bedeuten? Welches Gewicht hat mein flehentliches Rufen? Seite 6
Betrachten wir die Seele als von Gott in uns hineingegeben, dann können wir gewiss sein, dass unser Gebet gehört und -wenn es denn zu unserem Vorteil ist- auch erhört wird. Denn über die Seele sind wir immer direkt mit Gott verbunden - ohne Umweg und ohne Störung. Er hört uns. Er ist bei uns. Wir, die wir glauben, wissen das. Seite 7