königs erläuterungen spezial Erläuterungen zu Johann Wolfgang von Goethe goethes faust die gretchen-tragödie von Rüdiger Bernhardt Alle erforderlichen Infos für Abitur, Matura, Klausur und Referat
1 schnellübersicht 2 J. W. von goethe: Leben und Werk 3 Textanalyse Formale Veränderungen wird während der weiteren Entstehungszeit der Tragödie nur noch unwesentlich verändert. Einschneidende Unterschiede entstehen nicht mehr durch die Figur Gretchens, sondern durch ihre sich verändernde Funktion im Stück: Während sie im Urfaust noch das Ziel von Fausts Streben und die Verwirklichung seiner Sehnsucht nach Liebe ist, wird sie danach zur Durchgangsstufe auf dem Weg zu Fausts Vervollkommnung reduziert und verliert nachdrücklich an eigenständiger Bedeutung. Urfaust endet mit Gretchens Haft, in Faust I ist die Gretchenhandlung für Faust nur eine Durchgangsphase in die große Welt. Der Urfaust hat nicht die formale Glätte des späteren Faust I. Goethes Begeisterung für Shakespeare, auch das ein Merkmal des Sturm und Drang, findet sich in zahlreichen sprachlichen Anklängen, vor allem in den Versformen, die Knittel-Verse mit freien Versen und Alexandrinern mischen. Der Prosa wird im Urfaust größerer Raum gegeben, später in Faust I verschwindet sie bis auf einen letzten Rest (Trüber Tag. Feld; Nacht. Offen Feld). zwischen Aufklärung und Sturm und Drang Politische 1740 1786: Regierungszeit Friedrich II. von Preußen Ökonom.-technische 1761 Bleistiftproduktion Faber in Nürnberg beginnt. Literarische Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten (1759); Herder: Fragmente über die neuere deutsche Literatur (1766/67); Herder: Kritische Wälder (1769) 20 johann wolfgang von goethe
4 interpretation 5 Rezeption 6 materialien Politische 1770 Sachsen schafft Folter ab. Hungersnöte in Deutschland bis 1772 Dänemark: Regierung Struensee 1771 Schweden: König Gustav III., der 1772 den Reichsrat (Adel) ausschaltet. Erste Verfassung 1772 Erste Teilung Polens zw. Russland, Österreich und Preußen England: Verbot der Sklavenhaltung 1773 Nordamerika: Widerstand gegen brit. Kolonialverwaltung formiert sich. Russland: großer Bauernkrieg 1774 Frankreich: Ludwig XVI., Krise des Absolutismus Freie Schifffahrt Schwarzes Meer Ökonom.-technische Entdeckung der Ostküste Australien (James Cook) Radiergummi entwickelt. England: Beginn des Maschinenzeitalters Börse in Wien Rheinland und Sachsen entw. bürgerl. Unternehmertum. Brennerstr. über die Alpen 2. Weltreise von James Cook Fabrikmäßiger Bau der Dampfmaschine (James Watt) Vorschlag zur ersten gusseisernen Brücke über den Severn (Großbrit.) Erste Altpapieraufbereitung (Dt.); Patent für Zylinderbohrmaschine (Engl.) Literarische Boie u.a.: Göttinger Musenalmanach (1770 ff.) Claudius: Der Wandsbecker Bote (1771 ff.); Hermes: Sophiens Reise von Memel nach Sachsen (1769 73); Klopstock: Oden und Elegien (1771); Sulzer: Allg. Theorie d. schönen Künste (1771 1774) Geßner: Idyllen (1777/78); Herder: Abhandl. über d. Ursprung d. Sprache (1772); Lessing: Emilia Galotti (1772); Wieland: Der Goldene Spiegel (1772) Bürger: Der Bauer; Goethe: Götz von Berlichingen; Herder: Von dt. Art u. Kunst; Wieland: Der Teutsche Merkur (Zeitschrift) Bürger: Lenore; Goethe: Clavigo, Die Leiden des jungen Werthers J. M. R. Lenz: Der Hofmeister goethes faust die gretchen-tragödie 21
1 schnellübersicht 2 J. W. von goethe: Leben und Werk 3 Textanalyse Politische 1775 Nordamerika: Unabhängigkeitskrieg gegen England bis 1783; Goethe kommt nach Weimar. 1776 Nordamerika: Unabhängigkeitserklärung, Erklärung der Menschenrechte 1778 Voltaire gestorben 1779 Mannheimer Nationaltheater 1780 Joseph II. Kaiser und Alleinherrscher in Österreich Ökonom.-technische Dampfmaschine im Braunkohlenbergbau (Dt.); Abort m. Wasserspülg. (Eng.); 12.000 Hessen an Engl. verkauft. USA: U-Boot (David Bushnel) Entdeckungen Lavoisiers in der Chemie Fortschritte in d. Eisenindustrie Literarische Lavater: Physiognomische Fragmente; Weiße: Der Kinderfreund (Ztsch.) Maler Müller: Schafschur; Goethe: Stella Voß: Der Ährenkranz (Idylle); Lenz: Die Soldaten; Wagner: Die Kindermörderin; Wezel: Belphegor Hippel: Lebensläufe nach aufsteigender Linie; Lessing: Erziehung des Menschengeschlechts; Herder (Hrsg.): Alte Volkslieder; Maler Müller: Fausts Leben dramatisiert Lessing: Nathan der Weise Geniezeit Der historische Kontext des Sturm und Drang Der zeitliche Hintergrund für die Gretchen-Tragödie ist der Sturm und Drang. Der junge Goethe hatte zu der literarischen Bewegung umfangreiche Beziehungen und trug mit seinem literarischen Werk unter anderem mit Götz von Berlichingen (1773) und Die Leiden des jungen Werthers (1774) zu ihrer literaturgeschicht- 22 johann wolfgang von goethe
4 interpretation 5 Rezeption 6 materialien lichen Bedeutung bei. Diese Zeit, die ihren Höhepunkt zwischen 1770 und 1780 hatte, wurde auch als Geniezeit, als literarische Revolution bezeichnet und selbst mit der Empfindsamkeit, einer Zeit der gefühlsbetonten Dichtung, in Beziehung gesetzt. Die entscheidenden Verbindungen hatte der Sturm und Drang aber zur Aufklärung; er war nicht ihr Gegensatz, sondern setzte deren programmatische Forderungen fort. Bezogen auf die Thematik der Gretchen-Tragödie im Faust wird das insbesondere durch die Nähe zu Lessings Emilia Galotti (1772) deutlich. Es geht in beiden Werken um ein zentrales Thema der Zeit, das aus dem sozialen Grundwiderspruch entstand: Das bürgerliche Selbstbewusstsein wird mit aristokratisch-feudalem Verhalten konfrontiert und besonders nachdrücklich als Frage der Geschlechterbeziehungen behandelt. 8 Das Selbstbewusstsein der bürgerlichen Menschen wehrt sich immer stärker gegen aristokratische Prinzipien, die das gesellschaftliche Leben bestimmen. Aber Emilia Galotti machte auch die Grenzen deutlich: Die bürgerlichen Rechte werden durch den Tod vor ihrer Zerstörung bewahrt; der selbstgewählte Tod Emilias war die Kapitulation vor der Willkür des Fürsten (vgl. Kap. 2.3 dieser Erläuterung). Der soziale Unterschied zwischen dem kleinbürgerlichen Gretchen und Faust, der vom Teufel aristokratisch ausstaffiert wird, ist seit dem Urfaust vorhanden. Beim ersten Treffen spricht Faust Gretchen als schönes Fräulein an, dem er Arm und Geleit anträgt. Gretchen antwortet: Bin weder Fräulein, weder schön (Urfaust, V. 457 ff.; Faust I, V. 2605 ff.). Faust versucht mit seiner Anrede eine soziale Nähe herzustellen, die Gretchen nicht akzeptieren kann, auch wenn sie nur Grundlage eines Annäherungsversuchs Nähe zu Emilia Galotti Bürgertum versus Adel Fräulein oder Jungfer? 8 Vgl. Rüdiger Bernhardt: Textanalyse und Interpretation zu Gotthold Ephraim Lessing. Emilia Galotti. Hollfeld: C. Bange Verlag, 3. Aufl. 2014 (Königs Erläuterungen, Bd. 16), S. 30 ff. goethes faust die gretchen-tragödie 23
1 schnellübersicht 2 J. W. von goethe: Leben und Werk 3 Textanalyse Verbotener Schmuck Max Klingers Stück Sturm und Drang (1776) sein sollte. Fräulein ist für Margarete in dieser Zeit unziemlich und muss sie verwirren, denn die Anrede steht nur adligen Damen, also Personen von Stande zu. Der Versuch, Gretchen zu schmeicheln und aufzuwerten, um sie verführen zu können, wiederholt sich, denn auch Mephistopheles hält angeblich Gretchen für vornehmen Besuch (Urfaust, V. 756; Faust I, V. 2902), und Marthe klärt Gretchen auf, der Herr halte sie für ein Fräulein. Die Szene erinnert an des Prinzen von Guastalla Begegnung mit Emilia Galotti nach deren Besuch der Messe in Lessings Trauerspiel Emilia Galotti (1772), das von Goethe sehr gelobt wurde, weil die Leidenschaften und ränkevollen Verhältnisse der höheren Regionen schneidend und bitter geschildert sind 9. Faust hätte zu Gretchen korrekt Jungfer sagen müssen. Solche sozial grundierten Anredeformeln waren folgenreich: Die Frankfurter Polizeiordnung bestimmte, dass Jungfern im Gegensatz zum Fräulein keinen Schmuck tragen durften, Huren sowieso nicht. 10 Gretchen versichert berechtigt: Schmuck und Geschmeide sind nicht mein. (Urfaust, V. 763; Faust I, V. 2909) Mit dem Beginn der Gretchenhandlung wird ein sozialer Konflikt benannt und ins Stück aufgenommen, der die damalige Zeit bestimmte: Es war der Gegensatz von Aristokratie und Bürgertum und damit der latent vorhandene Konflikt, der 1789 zur Französischen Revolution führte. Die Periode des Sturm und Drang erhielt ihren Namen nach Max Klingers Schauspiel Sturm und Drang (1776), das zuerst Der Wirrwarr hieß. Das dieses Stück namensgebend für die Zeit wurde, 9 Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, BA 13, S. 612. Goethes Werther hatte Emilia Galotti auf dem Pult liegen, als er sich erschoss; das war kein Zufall, sondern zeitgemäßes Programm des Sturm und Drang. 10 Frankfurter Polizeiordnung (1765): Es sollen auch die gemeinen armen dirnen und sust. (sonst) offentliche bulerin in dieser stadt keine güldener oder vergülte Ketten tragen und in der Kirche in keinem stule steen dürfen. Vgl. Friedrich/Scheithauer, S. 201 (Erläuterung zu V. 3756 ff.). 24 johann wolfgang von goethe