Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg. Amen.

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Transkript:

Predigt von Pfarrerin Elke Stamm Am 28. August 2011 (Israelsonntag) in Baierbrunn und Icking Predigttext: 2. Mose/Exodus 19,1-6: Am ersten Tag des dritten Monats nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, genau auf den Tag, kamen sie in die Wüste Sinai. Denn sie waren ausgezogen von Refidim und kamen in die Wüste Sinai Und lagerten sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge. Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der HERR rief ihm vom Berge zu und sprach: So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst. Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg. Amen. Liebe Gemeinde, der Exodus des Volkes Israel aus Ägypten, die harte Zeit der Wüstenwanderung und die Begegnung mit Gott am Berg Sinai, das ist eine Geschichte voller Dramatik und Spannung. Sie ist oft nacherzählt worden, sie ist die Geschichte des Volkes Israel, die es mit seinen Wurzeln verbindet. Und sie ist auch eine Geschichte der Christenheit, die uns wie andere Geschichten des Alten Testaments, Gott in der Begegnung mit Menschen, als Handelnder in der Geschichte, Gott in dramatischen Ereignissen und lebendigen Bildern nahebringt. Um Ostern und Weihnachten herum werden deshalb nicht nur die Geschichten von Jesu Geburt und Tod und Auferstehung erzählt. Viele Menschen kennen durch spannende Hollywood-Filme die Mose-Geschichte, den Exodus des Volkes Israel und dessen Erlebnisse am Berg Sinai mindestens ebenso gut, wie das Leben Jesu. Ich will trotzdem noch einmal kurz erzählen, wie es zu Begegnung des Volkes Israel mit Gott am Berg Sinai kommt, von deren Anfang in unserem Predigttext die Rede ist: 1

In Ägypten werden die Israeliten unterdrückt und versklavt. Sie leiden unter der Macht des Pharaos, der sich durch ihre Sklavenarbeit ein prachtvolles Denkmal setzt. Sie begehren auf, mit Gottes Hilfe, sammeln sich unter ihrem Führer Mose und fliehen schließlich mit allem was sie haben. Doch sie werden verfolgt. Als die Reiter des Pharao hinter ihnen und das unüberwindbare Schilfmeer vor ihnen sind, scheinen sie verloren, doch Gott rettet sein Volk auf wunderbare Weise, sie ziehen trockenen Fußes durchs Meer, und die Verfolger ertrinken. Viele Wochen lang wandern sie nun durch die Wüste. Hunger, Durst und Kälte, Gottverlassenheit, Verzweiflung und Wut sind dort ihre Begleiter. Manches Mal verwünschen sie die Befreiung durch Gott und wünschen sich zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens. Sie murren und begehren auf gegen ihren Führer Mose und sogar gegen Gott. Ist er denn wirklich so mächtig? Kann er ihr Leben retten und sie ins verheißene Land führen? Und wieder erleben sie die wunderbare Rettung in der Not und erfahren: Gott sorgt für sein Volk. Am Sinai erweist Gott schließlich seine Macht und Stärke, seine Nähe und seine Verborgenheit, seine Treue zu seinem Volk und seine Wahrheit für die ganze Welt. Am Sinai beginnt ein neues Kapitel der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Sie waren aufgebrochen im Vertrauen auf seinen Schutz und seine Hilfe, sie waren unterwegs im Vertrauen auf seine Begleitung und Stärkung. Nun kommt Gott zu ihnen und versichert sie seiner Treue, seiner Macht für die ganze Welt und ihrer Erwählung. Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Er kommt zu ihnen, weil er sich Israel als sein Volk auserwählt hat. Er bietet ihnen seinen Bund an: Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Liebe Gemeinde, Israelsonntag wird der heutige Sonntag genannt. Bei kaum einem Sonntag des Kirchenjahres hat die liturgische Kommission so viele Änderungen in der Perikopen-Ordnung durchgeführt wie beim Israelsonntag. Der Predigttext für diese Predigtreihe wurde oft geändert und gilt erst seit ein paar Jahren. Ich finde, er passt: 2

Soll es doch am Israelsonntag in unseren Kirchen darum gehen, uns der gemeinsamen Wurzeln von Juden und Christen und unserer Verbundenheit zu erinnern und zu vergewissern. Das scheint durchaus nötig angesichts der verhängnisvollen Geschichte der christlichen Kirchen. Die Betonung der Verbundenheit soll einmal im Kirchjahr ganz deutlich anstelle dessen stehen, was jahrhundertelang allzu oft in unseren Kirchen gepredigt wurde. Auch daran erinnern wir uns heute. Und bekennen, dass unsere Kirche in der Vergangenheit den Boden bereitete für die grausame Verfolgung der Juden in der Nazizeit. Es ist wichtig, sich daran immer wieder zu erinnern, damit so etwas nie wieder geschehen kann. Doch unsere deutsche Geschichte scheint uns auch daran zu hindern, heute offen und in Augenhöhe mit den Partnern in Israel umzugehen. Die Unsicherheit der Christen im Umgang mit den Juden ist groß. Wir bemühen uns um ein geschwisterliches Verhältnis, doch diese Bemühungen sind oft arg verkrampft. Eine Erzählung von Bernhard Schlink über einen jungen Deutschen, der sich in New York mit einer Jüdin anfreundet, macht das in einem anderen Zusammenhang anschaulich: ( ) er tat sich schwer. Musste ein falsches Wort, eine falsche Geste von ihm nicht alles zerstören? ( ) Hatten Onkel Josef und Tante Leah nicht allen Grund, ihn beim Abschied spüren zu lassen, dass sie ihn nicht wiedersehen wollten? Die falschen Worte und die falschen Gesten zu vermeiden, war anstrengend. Andi wusste nicht, was alles falsch verstanden werden könnte. Dass er gedient statt verweigert hatte? Dass er in Deutschland keine jüdischen Freunde und Bekannte hatte? Dass ihm in der Synagoge alles neu und fremd war? Dass er noch nie nach Israel gereist war? Ähnlich unsicher, krampfhaft bemüht, nichts falsch zu machen, gehen auch manche Vertreter unserer Kirche mit diesem Thema um. Die heftige Diskussion um die Änderung des sogenannten Israel-Absatzes im Grundartikel der Kirchenverfassung unserer Bayrischen Landeskirche zeugt auch davon. Der Grundsatzartikel beginnt folgendermaßen: Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern lebt in der Gemeinschaft der einen, heiligen und apostolischen Kirche aus dem Wort Gottes, das in Jesus Christus Mensch geworden ist und in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments bezeugt wird. 3

Der Grundartikel soll an dieser Stelle nun um folgenden Absatz ergänzt werden: Mit der ganzen Kirche Jesu Christi ist sie aus der tragenden Wurzel des biblischen Israel hervorgegangen, sie bezeugt mit der Heiligen Schrift die bleibende Erwählung des Volkes Israel und weiß sich dem jüdischen Volk geschwisterlich verbunden. Mit der Ergänzung des Grundartikels so der Landesbischof - soll ausgedrückt werden, dass das Verhältnis von Christen und Juden grundlegend ist für die Gestaltung des kirchlichen Lebens, für Theologie und Unterweisung, und für die Beziehungen zu und die Begegnung mit Jüdinnen und Juden und ihrer offiziellen Repräsentantinnen und Repräsentanten. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern wendet sich damit ausdrücklich ab von einer antijüdischen Auslegungstradition, die lange Zeit das Denken prägte und unheilvolle Folgen hatte. Liebe Gemeinde, gegen diese Begründung hat keiner, der ernst zu nehmen wäre, etwas einzuwenden. Doch um jedes Wort dieses Absatzes und um dessen Ort im Grundartikel der Kirchenverfassung wird gerungen und teilweise heftig argumentiert. Über dieses Thema kann man in unserer Kirche nicht einfach einige gute Worte finden, denn hinter jedem Wort vermutet irgendjemand zu wenige oder zu viele Zugeständnisse, Missverständnisse oder Unklarheiten. Andererseits zeugt diese Diskussion von der Freiheit der Theologie und der Demokratie in unserer Kirche. Auch wenn sich vor allem am scheinbar undemokratischen Verfahren die meisten Leute stoßen. Die Diskussion, die die Landessynode auch in den Gemeinden angestoßen hat, trägt dazu bei, dass sich evangelische Christen bewusst werden, in welchem Verhältnis wir zum Judentum stehen. Wenn wir über die Erwählung des Volkes Israel predigen, reden wir nie nur über die Vergangenheit. Das heutige Volk Israel definiert sich von dieser Vergangenheit her. Die Erwählung des Volkes Israel als geliebtes Volk Gottes und seine herausragende Stellung in der Welt, Gottes Heilszusage an sein Volk, der Bund Gottes mit dem Volk Israel gilt noch immer. Doch, liebe Gemeinde, gilt das denn dann auch für uns? Dürfen wir die Aussagen des Alten Testaments, die Zusage der Treue Gottes für sein Volk auch auf uns beziehen? 4

In unserem Predigttext erfahren wir: Gottes Treue hat sich in der Vergangenheit bewährt, und sie wird es auch in Zukunft tun. Der Gott, der Israel aus Ägypten geführt, bewahrt und auf Adlerflügeln aus der Bedrängnis getragen hat, eröffnet ihm seine Stellung als Eigentumsvolk, als Königreich von Priestern und als Heiliges Volk. Damit ist Israel in eine besondere Gottesbeziehung hineingeführt. Diese zeichnet sich durch Gottes Treue zu seinem Bund und die Verpflichtung Israels zum Halten der Gebote aus; zugleich hat Israel den Auftrag, von Gott Zeugnis abzulegen und Vermittler zwischen Gott und der Welt zu sein. Erwählung und Auftrag gehören zusammen. In diesen Bund sind wir Christen mit hinein genommen, als Bundesgenossen. Wir sind nicht anstelle der Juden ein priesterliches Volk, sondern mit ihnen zusammen. Wir freuen uns als jüdische Theologen darüber, dass Abermillionen von Menschen durch das Christentum in eine Beziehung zum Gott Israels getreten sind. So haben es jüdische Theologen in ihrer Schrift Dabru Emet aus dem Jahr 2000 ausgedrückt. Konkret zeigt sich die Zusammengehörigkeit auch in der Gemeinsamkeit des Doppelgebots der Liebe (Evangelium) als höchstem Gebot. Die Liebe zu den Mitmenschen ist ein Fundamentalsatz des Judentums, die Liebe zu Gott Teil des Höre Israel, verknüpft mit dem Bekenntnis zu dem einen Gott. In einer anrührenden Erzählung berichtet Albrecht Goes von seiner Erfahrung solcher Zusammengehörigkeit inmitten bitterster Trennung: Als Lazarettpfarrer ist er im zweiten Weltkrieg in Ungarn und wird bei einem jüdischen Arzt und seinem Sohn einquartiert. Beide hoffen, dass der Geistliche sie schützen kann. Er aber weiß genau, dass er das nicht kann. Ganz andere Verbände würden Einzug halten, nicht Lazarettleute, sondern Mordkommandos. Die beiden Ärzte und er stehen sich gegenüber. Und in die Stille hinein fallen ihm plötzlich diese Worte ein: Schemaj Israel, Adonai elohenu, Adonai ächad / Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einziger Gott. Feierliches Wort ihres Bundes und unseres Bundes. Da geschieht dies, schreibt Goes, kaum, dass ich das Wort ausgesprochen habe, kaum, dass hier, in der ungarischen Stube die hebräischen Laute verklungen sind, geht eine Bewegung durch die beiden. ( ) Sie gehen auf mich zu. Sie geben mir die Hand. Was Fremde war und Angst es ist alles versunken. Der Herr, unser Gott, ist ein einziger Gott. (Goes 2008, 198ff) 5

Liebe Gemeinde, Zusammengehörigkeit meint nicht Gleichheit und setzt sie auch nicht voraus. Zum Dialog gehört das eigene Bekenntnis, der Juden wie der Christen. Und auch die Bereitschaft, sich immer wieder auf das von Gott gestiftete geschwisterliche Verhältnis zu besinnen. Wir sind Geschwister im Glauben. Die Geschwister sind verschieden und gehen unterschiedliche Wege. Was uns verbindet ist die eine Wurzel und die Liebe zum Vater. Und das Herz des Vaters ist groß. Darin ist Platz für beide. Der Vater liebt den einen wie den anderen, lässt sie ihre Wege gehen, ist zornig, wenn sie seinen Willen missachten, leidet, wenn sie sich von ihm entfernen, sorgt für sie und trägt sie durch schwere Zeiten hindurch. Wie ein Adler seine Jungen trägt und sie das freie Fliegen lehrt in der Weite des Himmels. Amen. 6