"Sommerfrische" : zur Etablierung einer Gegenwelt am Ende des 19. Jahrhunderts

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Transkript:

"Sommerfrische" : zur Etablierung einer Gegenwelt am Ende des 19. Jahrhunderts Autor(en): Objekttyp: Göttsch, Silke Article Zeitschrift: Schweizerisches Archiv für Volkskunde = Archives suisses des traditions populaires Band (Jahr): 98 (2002) Heft 1 PDF erstellt am: 21.04.2018 Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-118115 Nutzungsbedingungen Die ETH-Bibliothek ist Anbieterin der digitalisierten Zeitschriften. Sie besitzt keine Urheberrechte an den Inhalten der Zeitschriften. Die Rechte liegen in der Regel bei den Herausgebern. Die auf der Plattform e-periodica veröffentlichten Dokumente stehen für nicht-kommerzielle Zwecke in Lehre und Forschung sowie für die private Nutzung frei zur Verfügung. Einzelne Dateien oder Ausdrucke aus diesem Angebot können zusammen mit diesen Nutzungsbedingungen und den korrekten Herkunftsbezeichnungen weitergegeben werden. Das Veröffentlichen von Bildern in Print- und Online-Publikationen ist nur mit vorheriger Genehmigung der Rechteinhaber erlaubt. Die systematische Speicherung von Teilen des elektronischen Angebots auf anderen Servern bedarf ebenfalls des schriftlichen Einverständnisses der Rechteinhaber. Haftungsausschluss Alle Angaben erfolgen ohne Gewähr für Vollständigkeit oder Richtigkeit. Es wird keine Haftung übernommen für Schäden durch die Verwendung von Informationen aus diesem Online-Angebot oder durch das Fehlen von Informationen. Dies gilt auch für Inhalte Dritter, die über dieses Angebot zugänglich sind. Ein Dienst der ETH-Bibliothek ETH Zürich, Rämistrasse 101, 8092 Zürich, Schweiz, www.library.ethz.ch http://www.e-periodica.ch

Schweizerisches Archiv für Volkskunde 98 (2002). 009-015 «Sommerffrische» Zur Etablierung einer Gegenwelt am Ende des 19. Jahrhunderts Silke Göttsch Die Erfindung von Gegenwelten, ihre Ausgestaltung und Deutung, sind nicht erst kulturelle Strategie der Moderne, sondern solche Entwürfe lassen sich schon weit vorher ausmachen. Aber mit dem Beginn der Moderne wurden die Anstren gungen vervielfacht, die Techniken verfeinert, um solche Kontrastwelten zu erzeu gen, der Bedarf scheint zu wachsen. Manche der Gegenwelten sind geografisch zu verorten, andere nur auf imaginären Landkarten zu finden. Der Tourismus, der sich als neue Form des Reisens um 1800 formiert', ist an deren Produktion und Popula risierung in ganz besonderer Weise beteiligt. Am Anfang des modernen Tourismus standen die Reisen ins Bad oder man folgte bildungshungrig den besternten Routen, welche die Reiseführer vorgaben. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich im allgemeinen Sprach gebrauch mit dem Wort «Sommerfrische» ein Begriff durch, der einen neuen Typ des Reisens beschreibt2; in die Sommerfrische reiste man zur Erholung. Die all jährliche Fahrt auf das Land in den Sommermonaten wurde Bestandteil bürgerli cher Lebensführung: prestigebesetzt und statusorientiert. Theodor Fontane, der selbst in vielen Briefen sein Leben in der Sommerfrische beschrieben hat, schildert in seiner Erzählung «Cécile», erschienen 1886, mit geradezu kulturwissenschaftli cher Detailfreude die grossbürgerliche Sommerfrische, das Leben im Hotel, die Ausflüge in die nähere und weitere Umgebung und den gesellschaftlichen Verkehr mit anderen Sommerfrischlern. Was zunächst Privileg gut situierter bürgerlicher Schichten war, wurde allmäh lich auch von den in jener Zeit aufsteigenden sozialen Gruppen der Beamten und Angestellten' adaptiert. Urlaubsregelungen als Teil der Arbeitsverhältnisse ermög lichten neue Formen der Freizeitgestaltung. Das Reichsbeamtengesetz von 1873 billigte den Staatsbeamten erstmals einen kurzen Jahresurlaub zu, langsam setzten sich auch Urlaubsregelungen für Angestellte durch. Die nun zur Verfügung ste hende freie Zeit erlaubte diesen neuen Schichten, die «Sommerfrische» als Reiseund Urlaubsmuster zu übernehmen, wenn auch zeitlich begrenzt, manchmal nur als eintägige Landpartie. «In die Sommerfrische fahren» war Distinktionsmittel, mit dem man den Anschluss an den bürgerlichen Lebensstil demonstrierte: Das Verfü gen über freie Zeit, die nicht zweckgebundene Form des Ortswechsels mit den da mit verbundenen Aktivitäten wie Ausflüge, Table d'hote usw. gehören in das Re pertoire demonstrativen Müssiggangs\ waren also in höchstem Masse distinktiv. Die in jener Zeit in grosser Zahl erscheinenden Anstandsbücher widmen der Som merfrische, dem Reisen, der Landpartie eigene Kapitel, auch das verweist auf die gesellschaftliche Bedeutung, die dieser Form des Freizeitverhaltens am Ende des 19. Jahrhunderts in breiteren Schichten zugewiesen wird. Selbst wer nicht in die

Silke Göttsch SAVk 98 (2002) Sommerfrische reisen konnte, wusste um ihre Bedeutung als Ausweis bürgerlicher Lebensführung und konnte sich ihre Spielregeln wenigstens lesend aneignen. Mit den Urlaubsregelungen wurde ein fester zeitlicher Bezugsrahmen geschaf fen, der die Arbeitswelt stärker denn je von der arbeitsfreien Zeit trennte. Das Recht auf Urlaub blieb allerdings lange Zeit Privileg bestimmter Berufe, deren An spruch in besonderer Weise der Legitimation bedurfte. In den Anstandsbüchern, ebenso wie in frühen Reiseführern, in den Familienzeitschriften oder der ge schmacksbildenden Literatur wurden die Bedingungen der bürgerlichen Arbeits welt in drastischen Farben ausgemalt, um die Notwendigkeit der Erholung heraus zustellen; die Arbeitsbedingungen in den Fabriken hatten in solchen Überlegungen allerdings keinen Platz. In einem frühen Reiseführer liest sich das so: «Die Anforderungen, die täglich an Geist und Körper des Einzelnen gestellt werden, werden immer grösser und je der Geschäftsmann, jeder Beamte muss heute seine ganze Kraft einsetzen, um all den Aufgaben, welche an ihn herantreten, zu genügen und daher ist es auch ganz erklärlich, wenn mehr und mehr bei allen sich das Bedürfnis einstellt, alljährlich Erholung und Kräftigung in Bädern und Sommerfrischen zu suchen, damit die vom Aktenstaub und Grossstadtluft angegriffenen Organe durch Einatmen von Seeluft, durch Bewegung in Gottes freier Natur wieder gekräftigt werden.»6 Solche und ähnliche Kontrastierungen begründen den Topos vom Urlaub als Gegenwelt zur Arbeitswelt. Konrad Köstlin hatte zur Funktion des Tourismus ganz allgemein fest gestellt, er kritisiere «den modernen Alltag, er soll die Entfremdung in der Arbeits welt kompensieren» Urlaub und Arbeit sind deshalb nur aufeinander bezogen denkbar, es bedarf der modernen Arbeitswelt, um den Urlaub mit Sinn zu füllen, um ihn als notwendigen Teil des Alltagslebens zu begründen, als alter pars: Urlaub, das ist die Erholung von den Zumutungen der Arbeit in den Büros der Gross städte. 1875 heisst es in einem Anstandsbuch: «Besonders die Grossstädter, welche den ganzen Winter hindurch die dumpfe Luft ihrer Arbeitsräume atmeten, sehnen sich nach den schönen Tagen, wo ihnen Gelegenheit geboten ist. den Staub des Winters und der arbeitsreichen Wochen abzuschütteln, frei aufzuatmen und neuen Mut und frische Kraft zum Kampf ums Dasein zu sammeln.»" Die Suche nach Erholung führte konsequenterweise auf das Land, das in jener Zeit nicht nur in der Dichoto mie von Arbeit und Freizeit zum Gegenbild der Stadt stilisiert wurde.' «Natur» wurde als Allheilmittel gegen die Folgen der grossstädtischen Zivilisation geprie sen, und das nicht nur in der heimatbewegten Literatur. In einem der auflagen stärksten Anstandsbücher um 1900 wird wie so oft mit den Worten eines Dichters dem Recht auf Sommerfrische grössere Autorität verliehen: «Welchen Kummer der Mensch auch tragen möge, die Natur bietet ihm für jeden Trost- und Heilmittel dar».1" Die Zivilisationskrankheiten des modernen Lebens, die damals viel be schworene Nervosität grossstädtischen Lebens", waren es, «die so viele Städter mit Beginn der schönen Jahreszeit hinaustreiben auf das Land, nicht zu ein- oder mehr tägigen Ausflügen, sondern zu ständigem Aufenthalte, bis der Herbst die Blätter 10

Sommerfrische-» SAVk 98 (2002) gelb färbt und die rauhen Oktoberwinde daran mahnen, dass es Zeit sei, in die Stadt zurückzukehren»1'. Solche Bilder suggerieren, dass das Land als Ort jenseits der gesellschaftlichen Zwänge und Verpflichtungen existiere, die das Leben in den Städten bestimmen und die die Anstandsbücher so ausführlich und eindringlich be schreiben. Denn auch das Regelwerk bürgerlicher Wohlanständigkeit ist in der Sommerfrische, wenn auch nicht ausser Kraft gesetzt, so doch weniger einengend. «Das Landleben gestattet uns eine ziemliche Freiheit, der Formenzwang fällt fort, der uns in der Gesellschaft in Fesseln hielt, und gerade dieses Sichgehenlassen ist nicht der geringste Reiz eines Landaufenthaltes.»" Auch hier wird mit dem Modell einer Gegenwelt gespielt, Konvention gegen (vermeintliche) Freiheit. Denn natürlich überlassen die Anstandsbücher ihre Leser auch in dieser Situation nicht sich selbst, sondern der rhetorisch angebotene Frei raum erweist sich als Floskel, der sogleich der Verweis auf die Verbindlichkeit ge sellschaftlicher Regeln auch in der Sommerfrische folgt, nämlich Anleitungen für den Umgang mit dem Vermieter, mit Fremden und anderen Sommerfrischlern, über das Einladen von Freunden, das Verhalten in der Bahn, im Hotel, in der Pension usw. usw. Was zunächst wortreich als Gegenwelt, als Remedium entworfen wird, er weist sich bei näherem Hinsehen als Interpretament «Gegenwelt», sie erstarrt letzt endlich im gleichen Korsett von Konventionen wie das Alltagsleben zuhause. Auch der Ausflug in die Natur führt ja nicht in die Wildnis, sondern zur Som merfrische gehören eigene Formen der Naturaneignung: Promenaden, Aussichts türme und -punkte, Ruhebänke. Erholung meint eine kulturelle Praxis, für die die Natur erschlossen sein muss. Nicht mehr die Sterne der Reiseführer weisen den Weg, sondern auch Landschaften, die jenseits der klassischen Routen lagen, gewin nen nun an Bedeutung: der Harz, der Schwarzwald usw. «Man sucht auf, was man einst gehöhnt hat»; so ein zeitgenössisches Handbuch der Lebensbildung und des guten Geschmacks, «die Moore, die Heide, die Eifelhochrücken sind als stim mungsvolle Schönheiten erkannt worden; nicht mehr nur der Kurort tief im Ge birgstal, unter waldigen Hängen am kühlen schäumenden Bach ist schön, sind die freien Höhen über dem Walde, wo die Brust aufgeht und der Blick sich nicht so zu sperrt wie im Tal. Weite, Himmel, Wolken sind Begriffe unserer Landschaftsästhe tik geworden...»'4. An ausgewählten Ruhepunkten, an denen Sitzbänke aufgestellt wurden, schlug man Sichtachsen in den Wald, dorthin führten beschilderte Wege. Jede Landschaft besass die Qualität der Sommerfrische; vielerorts wurden Verschönerungsvereine gegründet, die sich die Erschliessung der umgebenden Natur zur Aufgabe machten. Auch der Alpenverein (gegr. 1872 in Österreich) und der Schwarzwaldverein (gegr. 1864) verfolgten ähnliche Ziele. Die Möblierung und architektonische Gestaltung der Natur begründete man mit den Ansprüchen der Touristen nach Erholung und Erbauung, die daraus erwachsende Landschaftsästhetik spiegelte sich in der Wahr nehmung der Natur und ihrer Zurichtung. Dieses neu formulierte Verständnis verlief konträr zu früheren Nutzungsfor men. Gerade der Wald war lange Zeit Austragungsort von Machtkämpfen um den 11

Silke Göttsch SAVk 98 (2002) Anspruch auf Ressourcen (Holz, Wild) gewesen, er wurde nun als touristischer Raum neu verhandelt. 1870 stellt ein Gastwirt in einem Badeort an der Ostsee den Antrag, dass seine Sommergäste in dem nahe gelegenen Wald ungehindert spazie ren gehen dürfen. Der zuständige Forstrat, der um eine Stellungnahme gebeten wird, weist ganz im Sinne des älteren Verständnisses auf den Anlass des Verbots, den Wald betreten zu dürfen, hin. Denn sonst hätte man nicht das Recht gehabt, «den grössten Spitzbuben, der vielleicht eine Säge oder ein Gewehr verborgen un ter seinem Rocke bei sich führte, im Wald zu Rede zu stellen»'-. Aber, so fährt er fort, «anständige und bekannte Leute» sind auf «wirklichen Spaziergängen» nie aus dem Walde gewiesen worden. Der Forstbeamte setzt sich übrigens für die Bei behaltung der alten Regelungen ein, mit Übertritten und Pforten sei dem Bedürf nis der Sommergäste hinreichend gedient, so sein Standpunkt. Solche Argumentationen waren aber in jener Zeit nicht mehr haltbar. Aus der Holsteinischen Schweiz, einer frühen Tourismuslandschaft, und an der holsteini schen Ostsee z.b. häufen sich die Gesuche von Gastwirten und Privatpersonen bei den Behörden um Erlaubnis, Bänke und Tische in den Wäldern und an den Ufern der Seen anlegen zu dürfen. Es werden Register darüber geführt, wer das Recht habe, Ruhemöbel aufzustellen, für die Gebühren erhoben werden. Mit der Möblierung der Natur einher gehen wiederum distinkte Möglichkeiten ihrer Nutzung. So rechtfertigt ein Adliger den Bau einer Hütte samt Einfriedigung im Wald damit, «um meiner Frau und meinen Kindern einen von fremden Leuten ungestörten Aufenthalt im Walde zu sichern, da ein solcher sonst während der Sommermonate unmöglich geworden war...»1". Die Nutzung der Natur zur Erholung war allerdings mitnichten ein demokrati siertes Vergnügen. Während die einen mit den Bänken der Verschönerungsvereine und der Gastwirte vorlieb nehmen mussten, stellten die begüterten Villenbesitzer Anträge auf eigene Bänke und Tische im Wald und an den Ufern der Seen, selbst der oben erwähnte Adlige durfte die eingefriedigte Hütte für seine Frau und Kin der stehen lassen. Die in der zeitgenössischen Literatur beschworene «Gegenwelt Sommerfri sche» blieb ein Topos, sie unterlag den gleichen Spielregeln, die auch jenseits der «Sommerfrische» Gültigkeit besassen. An der Zubereitung der Natur für den Genuss, für das Bereisen knüpft die Tou rismuskritik jener Zeit an, die v. a. in der Heimatbewegung formuliert wird.'7 Das damals angeschlagene Leitthema lässt sich bis heute verfolgen, der Tourismus zer stört, was er sucht, nämlich die unberührte, unveränderte Welt, in die all das. was als Zivilisationsfolgen beklagt wird, noch nicht eingedrungen ist. Die Kritik an Hotel bauten, an der Verstädterung des Landlebens, an der Zurichtung der Natur zum Zwecke der Erholung durchzog die einschlägigen Veröffentlichungen. Immer wird dabei die Möglichkeit beschworen, dass die Suche doch Erfolg haben könne. Die kulturkritische Attitüde gab dieser Sehnsucht immer neue Nahrung und liess ihr Ziel zugleich konkret werden, literarisch wurde eine Welt entworfen, die sowohl reales Ziel touristischen Reisens sein konnte, als auch das ganz Andere verhiess, 12

«Sommerfrische» SAVk 98 (21X12) also Echtheit. Authentizität versprach. Im Kunstwart schreibt Avenarius unter dem Titel «Sommerfrischen» dazu: «Wir können nämlich aus unsern Sommerfrischen was machen, wir, das Publikum. Das wollen wir ja nicht vergessen, wir können es, die bezahlen. Wir sollten nur mehr fordern, uns gleichsam im Fordern üben. Und wir müssen, allerdings, wissen, was wir fordern sollen. Es lässt sich leicht auf eine Formel bringen: wir wollen keine Stadt-Imitationen, wir wollen auf dem Lande das Land.»'" Das sei allerdings nicht gleichzusetzen mit Askese, so fährt er fort, «auf dem Lande leben ja nicht nur Tagelöhner und Kossäthen, sondern auch Guts- und Ritterguts besitzer, die nicht so sehr für Askese sind», es sei die «ästhetische Kultur», die in den Sommerfrischen einen Tiefstand erreicht habe. «Da liegt's: bei den Neuanlagen und Neu-Bauten treffen wir fast überall nur ein Übertragen von Vorstadts-Idealen aufs Land, wünschen aber ein Entwickeln aus dem Heimatboden heraus.»'" Die Kritik der Heimatbewegung ist keine Kritik am Phänomen des Tourismus an sich, ganz im Gegenteil; die Sommerfrische ist für die Erholung des grossstadtgeplagten Menschen geradezu überlebensnotwendiger Bestandteil des modernen Lebens. Mit dem Lamento über die zerstörerische Kraft des Tourismus wird nicht nur das Klagen über den Verlust der Gegenwelt eingeübt, sondern auch eine An leitung zum Sehen touristischer Welten vorgegeben. Die Tourismuskritik wendet sich gegen die Verstädterung des Landes, propagiert einen regional inspirierten Baustil, der Versatzstücke traditionellen Bauens aufgreift und zu einer Heimatar chitektur verdichtet, mithin eine vorindustrielle Ästhetik, die sich vor allem aus der Differenz zur industriellen Produktion speist. Den engen Konnex von Tourismuskritik und Sommerfrische verdeutlicht das Fazit, das Avenarius aus seinen Überlegungen zieht: «Und schliesslich: gewännen wir schlicht-schöne Sommerhäuser, werden sie in manchem ihrer Gäste auch wie der den Sinn für einfache Vornehmheit stärken, und diese werden den so gestärk ten Sinn zum Herbst in die Kladderadatsch-Zinshäuser der Grossstädte tragen. Es hängt eben alles zusammen in solchen Dingen.»'" Die Kritik der Heimatbewegung am Tourismus hat kräftig zur Profilierung der Gegenwelt «Sommerfrische» beigetragen. Mit ihrer Schelte über «Massentouris mus» und Verstädterung des Landes haben sie die Gegenbilder entworfen, mit de nen die Sommerfrische beschreibbar wurde. Das regional Typische, das Heimatli che wurde zum Markenzeichen touristischer Landschaften: Ländlicher Baustil ver sus Vorstadtvilla, Tracht versus städtische Mode, Volksmusik versus Schlager und Volkskunst versus Kitsch. Die Produkte einer kunstgewerblich wiederbelebten Volkskunst konnten zudem als Souvenir mit nach Hause genommen werden und verlängerten die Fiktion einer Gegenwelt in die Alltagswelt hinein. Da die Versatz stücke, mit denen die Unverwechselbarkeit behauptet wurde, Mass nahmen an der grossstädtischen Zivilisation und zum Indikator der Andersartigkeit stilisiert wur den, standen sie für Authentizität ', konnten als Beleg für die Echtheit und Unver fälschtheit der Gegenwelt interpretiert werden. Die auf Oppositionen bauende Stilisierung des Landes half Erwartungen zu for mulieren und zu konkretisieren. So blieb «Sommerfrische» nicht nur eine spezifi- 13

1 1 Silke Göttsch SAVk 98 (2002) sehe kulturelle Praxis einer bürgerlichen Schicht, sondern wurde auch mit symbo lisch aufgeladenen Bildern besetzt. An deren Ausgestaltung die Tourismuskritik der Heimatbewegung wesentlichen Anteil hatte, denn sie bestätigte mit ihren kul turkritisch gesättigten Wertungen nicht nur die Notwendigkeit von Urlaub, son dern sie malte auch mit kräftigen Farben jene Bilder einer für die Erholung gemässen Landschaft. Sie bleibt somit immer Kritik am Reisen der Anderen, ist also Distinktionsmittel, weil sie zugleich die Idee, man könne auch «richtig reisen», im pliziert. Gerade dieses Ineinsgehen von Herausbildung eines Urlaubsmusters und Kritik am touristischen Reisen konnte Wahrnehmungen und Deutungen als dauer haftes Interpretament etablieren. Anmerkungen Siehe dazu Wolfgang Kaschuba. Erkundung der Moderne: Bürgerliche Reisen nach 18IK). In: Zeit schrift für Volkskunde 87.1991:29-52. Der Begriff stammt, so einschlägige Lexika aus dem 19. Jahrhundert, aus dem Tirolischen und be zeichnete dort eine bereits seit dem 18. Jahrhundert gängige Praxis, dass sich Städter im Sommer auf dem Land einmieteten. Sommerfrische, so das Grimmsche Wörterbuch von 1904. ist der «erholungsaufenthalt der Städter auf dem lande zur Sommerzeit». Bd. 10. Sp. 1526. Seit den Dreissiger jahren des 19. Jahrhunderts bürgerte sich der Begriff in der Literatur durch tirolische Schriftsteller ein. vgl. Historisches Schlagwörterbuch von 1906. 1 Vgl. dazu Silke Göttsch. «Motto: Bleibt natürlich!». Zur Vermittlung geschlechtsspezifischer Kör persprache in Anstandsbüchern um 1900. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 92. 1996: 63-78. ' Ursula Becher. Geschichte des modernen Lebens. Essen-Wohnen-Freizeit-Reisen. München 1990: 218 f. Vgl. dazu Thorstein Veblen. Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Insti tutionen. München 1971 (Erstausgabe 1899). Wendland. Illustrierter Führer durch Schleswig-Holstein und Lauenburg. Mit einer ausführlichen Landkarte. Altona 1904. zit. n. Astrid Paulsen. «... ein gesegneter und reizvoller Fleck Erde...-. Tourismus in der Holsteinischen Schweiz 1867-1914. Neumünster 1994: 66. Konrad Köstlin. Reisen.regionale Kultur und die Moderne. Wie die Menschen modern wurden.das reisen lernten und dabei die Region entdeckten, ln: Burkhard Pöttler unter Mitarbeit von Ulrike Kammerhofer-Aggermann (Hg.).Tourismus und Regionalkultur. Wien 1994: 18. O. Berger. Was schicklich ist! Ein Ratgeber für den Verkehr in der Familie, in der Gesellschaft und im öffentlichen Leben. Stereotyp-Ausgabe. Reutlingen o.j. (ca. 1887): 155. Man denke dabei v. a. an Dichotomisierung von Stadt und Land durch die Heimatbewegung, vgl. dazu u.a. Edeltraud Klueting (Hg.). Antimodernismus und Reform. Beiträge zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung. Darmstadt 1991. ' Franz Ebhart. Der guteton in allen Lebenslagen. 17. Aufl. Leipzig 1913:439. " Vgl. dazu Martin Scharfe. Die Nervosität des Automobilisten. In: Richard van Dülmen (Hg.). Kör per-geschichten. Studien zur historischen Kulturforschung. Frankfurt a. M. 1996: 200-222. ' Ebhart (wie Anm. 10): 439. Ebhart (wie Anm. 10): 440. 14 Eduard Heyck. Die Kultur des Reisens. In: Moderne Kultur. Ein Handbuch der Lebenshildung und des guten Geschmacks. 2. Bd. Stuttgart und Leipzig o. J. (ca. 1907): 379. Schleswig-Holsteinisches Landesarchiv Schleswig Abt. 260 Nr. 15053. Gesuch des Badewirts 15 Knoop, Haffkrug wegen Erlaubnis um Spaziergänge etc. für seine Badegäste im Gehege Reutekoppel 30.6.1870 '" LAS Abt. 260 Nr. 15081 Freiherr von Pechmann, Gremsmühlen wegen Anlegung von Sitzplätzen " im Rehmen am Dieksee 17. Juni 1903. Silke Göttsch, Frühe Tourismuskritik in der Heimatschutzbewegung. In: Burkhard Pöttler unter 14

..Sommerfrische» SAVk 98 (2002) Mitarbeit von Ulrike Kammerhofer-Aggermann (Hg.).Tourismus und Regionalkultur. Wien 1994: 25-40. Avenarius. Sommeririschen. In: Kunstwart 12/24. 1899: 387. Ebd.: 388. Ebd.: 390. Zum Problem der Authentizität im Tourismus vgl. Regina Bendix. Zur Problematik des Echtheits erlebnis in Tourismus und Tourismustheorie. In: Burkhard Pöttlcr unter Mitarbeit von Ulrike Kam merhofer-aggermann (Hg.).Tourismus und Regionalkultur. Wien 1994:57-83. 15