Toleranz. Hilfsgerüst zum Thema: 1. Der christliche Ursprung der Toleranz nach dem Bundesverfassungsgericht

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Lieferung 9 Hilfsgerüst zum Thema: Toleranz Die letzte Vorlesung in diesem Semester findet am 18. Juli 2014 statt. 1. Der christliche Ursprung der Toleranz nach dem Bundesverfassungsgericht Elemente in unserem Bewusstsein aufdecken, die christlicher Herkunft sind und eventuelle nur daher verständlich Christentum als Kulturfaktor Bundesverfassungsgericht: [Es] sind über die Jahrhunderte zahlreiche christliche Traditionen in die allgemeinen kulturellen Grundlagen der Gesellschaft eingegangen, denen sich auch Gegner des Christentums und Kritiker seines historischen Erbes nicht entziehen können. [... ] Es handelt sich um Werte und Normen, die, vom Christentum maßgeblich geprägt, weitgehend zum Gemeingut des abendländischen Kulturkreises geworden sind. 1 Als Beispiel nennt das Gericht die Toleranz: Die Bejahung des Christentums bezieht sich insofern auf die Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors, nicht auf bestimmte Glaubenswahrheiten. Zum Christentum als Kulturfaktor gehört gerade auch der Gedanke der Toleranz für Andersdenkende. Deren Konfrontation mit einem christlich geprägten Weltbild führt jedenfalls so lange nicht zu einer diskriminierenden Abwertung nichtchristlicher Weltanschauungen, als es nicht um Glaubensvermittlung, sondern um das Bestreben nach Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit im religiösweltanschaulichen Bereich gemäß der Grundentscheidung des Art. 4 GG geht. 2 1 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 93 1 (16. May 1995). 2 Ebd.

2 Toleranz 2. Die Ambivalenz des Toleranzbegriffs heute Toleranz ist ein Grundbegriff unserer Zeit. Aber in bestimmten Fällen sind wir ungeniert intolerant. Null Toleranz für... Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt. (Thomas Mann, Der Zauberberg) 3. Die anstrengende Tugend der Toleranz Toleranz ist eine Tugend, d. h. sie wird aufgrund von Wiederholung gelernt. Toleranz setzt eine Selbstüberwindung voraus. Gleichgültigkeit ist nicht Toleranz. Feigheit ist nicht Toleranz. Konformismus ist nicht Toleranz. in der Demokratie Toleranz gilt als Grundwert der Demokratie. Dennoch sind Demokratien ironischerweise besonders intolerant. Der Druck der politischen Korrektheit Die tolerante Person ist eine komplexe Identität.

Toleranz 3 Rainer Forst: Schließlich muss, um dies zu wiederholen, der Versuchung widerstanden werden, das tolerante Bewusstsein als ein skeptisches zu verstehen, das sich in Sachen letzter Wahrheiten eines Urteils enthält. Um die der sich selbst gewissen Vernunft entsprechende Selbstrelativierung vorzunehmen, bedarf es keines Verzichts auf den Anspruch absoluter ethischer Wahrheiten, sondern einer Einsicht in die Differenz von Kontexten der Rechtfertigung, in denen jeweils bestimmte Gründe gefordert sind. 3 R. Forst: Dabei ist die Autonomie des Toleranz Übenden im zweifachen Sinne im Widerstreit zu sehen: einerseits im Widerstreit der eigenen ethischen Überzeugungen mit den Überzeugungen der Anderen und andererseits im Widerstreit mit sich selbst, da die ethische Ablehnung der Anderen den Impuls in sich trägt, diese Negativwertung auch zur Grundlage des Handelns bzw. allgemeiner Normen zu machen. Die Tugend der Toleranz setzt voraus, dass dieser Impuls aus moralischer Einsicht gebremst wird. Darin liegt, wie bemerkt, ein gewisses Vermögen der Selbstbegrenzung und auch der Selbstüberwindung. 4 R. Forst: Das tolerante Selbst ist daher auch kein gespaltenes Selbst, das zwischen ethischen und moralischen Wertungen hin- und hergerissen wäre und in dem Falle, in dem Letzteren Vorrang gewährt wird, einen Teil von sich selbst abschnitte. Es ist vielmehr ein komplexes Selbst, dessen Identität sich in der Spannung zwischen verschiedenen normativen Polen konstituiert. Die Identität ergibt sich aus der Fähigkeit der Person, diese verschiedenen Pole zu integrieren, d. h. um diese Spannungen zu wissen und sich zu ihnen reflektiert zu verhalten. 5 R. Forst: Entscheidend ist, dass auch eine solchermaßen dezentrierte Person aus einer eindeutigen Überzeugung heraus Toleranz übt, auch wenn sie in sich einen Konflikt verspürt, der bestehen bleibt. Indem sie sich ihrer Verantwortung anderen gegenüber stellt, stiftet sie innerhalb ihrer selbst eine gewisse Ordnung in der Pluralität eigener Überzeugungen. Die Herrschaft, die sie in der Toleranz über sich selbst ausübt, ist daher eine der Freiheit, die sich bestimmter ethischer Impulse erwehrt, diese dabei aber nicht unterdrückt, sondern einordnet und ggfs. bremst; die Person lässt sich von ihren ethischen Ablehnungsurteilen nicht bestimmen, sieht diese Wertungen aber als bestimmenden Teil ihrer Selbst an. Sie erkennt die irreduzible Differenz verschiedener normativer Standpunkte, die sie 3 R. Forst, Rainer, Toleranz im Konflikt: Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004), 674. 4 R. Forst, Rainer, Toleranz im Konflikt: Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004), 666. 5 R. Forst, Rainer, Toleranz im Konflikt: Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004), 669.

4 Toleranz gleichwohl wie gesagt: nicht ohne Spannung zu integrieren vermag. 6 Wahrheit ist gegenüber Falschheit gleichsam intolerant. Aber Personen können Personen gegenüber tolerant sein. Letzten Endes ist Toleranz nur möglich mit Bezug auf Gott. da Gott die Wahrheit selbst ist, das heißt, da er Einzelwahrheiten transzendiert. 4. Die christliche Tugend der Toleranz ist eine Form der Liebe Klaus Schreiner: In der theologischen Gedankenwelt Augustins nimmt tolerantia den Charakter einer sozialen Grundtugend an, die für den Zusammenhalt der christlichen Gemeinden eine unabdingbare Voraussetzung darstellt. Den Sprachgebrauch der alten Kirche brachte er auf eine knappe Formel, als er schrieb, patientia, sustinentia und tolerantia seien verschiedenartige Bezeichnungen für die gleiche Sache (sive patientia, sive sustinentia, sive tolerantia nominetur, pluribus vocabulis eandem rem significat) 7. Die Notwendigkeit, Geduld (tolerantia) zu üben, ergibt sich nach Auffassung Augustins aus der Grundverfassung des Menschen, der in dieser Welt keine feste Bleibe hat. Als endliches, sündhaftes Wesen bedarf der Mensch der tolerantia seiner Mitmenschen. Friedenstiftende Geduld (tolerantia pacifica) verbürgt, daß wir uns gegenseitig in Liebe ertragen. Weil Liebe, wie der Apostel Paulus versichert, alles erträgt (quia caritas omnia tolerat; 1. Kor. 13, 7), sollen wir cum tolerantia selbst die Sünden anderer ertragen. 8 6 R. Forst, Toleranz im Konflikt: Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004), 670 671. 7 Patrologia latina, Suppl. 2, 759. 8 K. Schreiner, Duldsamkeit (tolerantia) oder Schrecken (terror). Reaktionsformen auf Abweichungen von der religiösen Norm, untersucht und dargestellt am Beispiel des augustinischen Toleranz- und Gewaltkonzeptes und dessen Rezeption im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Religiöse Devianz: Untersuchungen zu sozialen, rechtlichen und theologischen Reaktionen auf religiöse Abweichung im westlichen und östlichen Mittelalter, hrsg. von D. Simon (Frankfurt am Main, 1990), 159 210; hier 165 166.

Toleranz 5 Augustins Umdeutung des Gleichnisses vom Umkraut: Damit zeigt er hinreichend, daß, wenn diese Befürchtung nicht besteht, wenn man ganz sicher ist, daß das gute Korn feststeht, d. h. wenn das Verbrechen eines einzelnen bekannt ist und es alle so abscheulich finden, daß es keinen Verteidiger findet [... ], dann soll die Strenge der Zucht nicht schlafen, denn je sorgfältiger die Nächstenliebe gewahrt wird, um so wirksamer ist die Züchtigung der Verderbtheit. 9 Die spätere Intoleranz: Das compelle intrare Wenn deshalb die Kirche kraft der Gewalt, die ihr Gott zu gegebener Zeit übertragen hat, mit Hilfe der religiösen und gläubigen Könige jene in ihren Schoß einzutreten zwingt, die sie auf den Wegen und an den Hecken findet, d. h. unter den Schismen und Häresien, so sollen sich jene nicht beklagen, daß man sie gezwungen hat, sondern sollen schauen, wohin man sie treibt. 10 Papst Johannes Paul II., Fides et ratio, nr. 92: An die Möglichkeit des Erkennens einer allgemeingültigen Wahrheit zu glauben, ist keineswegs eine Quelle der Intoleranz; im Gegenteil, es ist die notwendige Voraussetzung für einen ehrlichen und glaubwürdigen Dialog der Menschen untereinander. Nur unter dieser Voraussetzung ist es möglich, die trennenden Uneinigkeiten zu überwinden und gemeinsam den Weg zur ganzen, ungeteilten Wahrheit einzuschlagen, indem wir jenen Pfaden folgen, die allein der Geist des auferstandenen Herrn kennt. Die Handlung ist nicht die Liebe selbst. 5. Die Feindesliebe Mt 5, 43 48:»Ihr habt gehört, daß gesagt ist:»liebe deinen Nächsten«und hasse deinen Feind. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet, denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr dafür? 9 Augustinus, Contra epistulam Parmeniani, III, II, 13. 10 Augustinus, Brief Nr. 185, 24.

6 Toleranz Machen nicht auch die Zöllner dasselbe? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr da Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Seid ihr also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.«lk 6, 27 35:»Aber euch, die ihr hört, sage ich: Liebet eure Feinde, tut Gutes denen, die euch hassen. Segnet, die euch fluchen, und betet für die, welche euch verleumden. Wer dich auf die Wange schlägt, dem halte auch die andere hin, und dem, der dir den Mantel nimmt, verweigere auch den Rock nicht. Jedem, der dich bittet, gib; und von dem, der dir das Deine nimmt, fordere es nicht zurück. Und wie ihr wollt, daß euch die Leute tun, so sollt auch ihr ihnen tun. Wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr da? Denn auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. Wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank habt ihr da? Denn auch die Sünder tun das. Wenn ihr denen leiht, von denen ihr es wieder zu erhalten hofft, welchen Dank habt ihr da? Denn auch Sünder leihen Sündern, um das gleiche zurückzuerhalten. Vielmehr liebet eure Feinde, tut Gutes und leihet, ohne etwas zurückzuerwarten, und euer Lohn wird groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein, denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.«Robert Spaemann: Das Schwierige bei Reden gegen Hass ist, daß man Leidende anpredigen und anklagen muß. Denn ihr Hass ist und bleibt böse, auch wenn es der Hass dessen ist, dem Unrecht geschieht. Die Schwierigkeit liegt darin, daß es nur eine Predigt gibt, die an die Wurzel des Hasses geht, die Predigt der Feindesliebe. Gandhi war ein solcher Prediger. Er hielt zeitlebens daran fest, daß Gewalt besser sei als Hass und Feigheit. Aber er glaubte, daß Gewaltlosigkeit, die aus der Überwindung des Hasses entsteht, der Kraft des Hasses überlegen ist. Und zwar ist sie es deshalb, weil kein Mensch, der haßt, glücklich ist und kein Glücklicher haßt. 11 Spaemann: Feinde zu besänftigen und in Freunde zu verwandeln, dies ist immer der beste Weg. Aber er steht nicht immer zur Verfügung. Der schlechteste aber kann immer vermieden werden, der Weg des Hasses. Und da stärkste Argument gegen diesen Weg ist, daß mit ihm der Hassende sich selbst den größten Schaden zufügt. Dem eigenen Hass ausgeliefert zu sein ist ein schreckliches Schicksal. Hass 11 R. Spaemann, Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns (Stuttgart 2001), 183.

Toleranz 7 macht blind. 12 Eine hypothetische Interpretation der Feindesliebe. eine Wahrheit, die gemeint sein könnte Die Gottesbezogenheit der Feindesliebe Die Existenz der Lehre selbst. anstössig genug 1 Joh. 3, 13:»Wundert euch nicht, wenn die Welt euch haßt...«spezifisch christlich? Hans Küng:»Nach Jesus ist Liebe nicht nur Nächstenliebe, sondern entscheidend Feindesliebe. Und nicht die Menschenliebe, auch nicht die Nächstenliebe, sondern die Feindesliebe ist das für Jesus Charakteristische. Nur bei Jesus findet sich die programmatische Forderung der Feindesliebe.«Die Feindesliebe ist gleichsam das Probierstein der christlichen Liebe. 12 R. Spaemann, Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns (Stuttgart 2001), 184.

8 Toleranz L. Tolstoi, Krieg und Frieden:»nur seinen Feind kann man mit göttlicher Liebe lieben.«der Schwierigkeitsgrad der Feindesliebe bedeutet nicht, sie sei die höchste Art der Liebe. Thomas von Aquin:»Den Feind zu lieben ist höher als bloß den Freund zu lieben, weil es eine größere Gottesliebe [caritas] zeigt [demonstrat]. Wenn wir aber jene beiden Akte in sich selbst betrachten, so ist es besser, den Freund zu lieben als den Feind, und besser ist es, Gott zu lieben als den Freund. Nicht das Schwere, das darin liegt, den Feind zu lieben, macht etwas aus für das Wesen des Verdienstlichen, es sei denn, sofern sich darin die Vollendung der Liebe erweist, die dieses Schwere besiegt. Wenn daher die Liebe so vollkommen wäre, daß sie die Schwierigkeit völlig aufhöbe, so wäre dies noch verdienstlicher.«13»es ist böse, den Feind deshalb zu lieben, weil er ein Feind ist.«(de caritate, a. 8, ad 12) Es handelt sich nicht darum, aus einem Feind einen Freund zu machen. Ein weiteres Mißverständnis: Man kann den Feind nicht gerade deshalb lieben, weil er mein Feind ist. Das Liebenswerte an ihm soll man lieben. Gottes wegen soll man ihn lieben. 13 Thomas von Aquin, De caritate, a. 8, ad 17.

Toleranz 9 Thomas:»Der Feind, als Feind, ist nicht Objekt der Liebe, aber er kann es sein insoweit, als er auf Gott bezogen wird.«14»in Gott«lieben in Gott sehen die Gottesbezogenheit Wie kann man diese Sichtweise erlernen? Alle Menschen beabsichtigen immer etwas Gutes. Thomas von Aquin * «Was auch immer tätig sein mag, verrichtet jedwede Tätigkeit aufgrund von einer Liebe.» 15 * «Bei jeglichem Streben handelt es sich immer um ein Streben nach Gutem. Das ist so, weil das Streben nichts anderes ist als gewissermaßen eine Hinneigung des Strebenden zu etwas nichts aber wird zu etwas hingelenkt, wenn nicht zu etwas Ähnlichem und Passendem. Wenn also ein jegliches Ding, insofern es ein selbständiges Seiende (ens et substantia) ist, ein Gut ist, folgt daraus, daß jegliche Hinneigung auf ein Gutes zielt.» 16 * Gott liebt alles, sofern es Existenz hat: «Gott liebt alles, was existiert. Denn alles Existierende, sofern es ist, ist gut. Denn das Sein selbst von jedwedem Ding ist ein Gut.» 17 * Als die umfassende Gutheit ist Gott gleichsam das Innere, der Sinn, das Ziel aller Liebe. «In der Liebe zu jedwedem Guten wird die höchste Gutheit geliebt.» 18 * «Durch Gott als die Gutheit [... ] wird alles andere geliebt [... ]. Auch im Wegezustand neigt 14 De caritate, a. 8, ad 6. 15 Summa theologiae, I-II,28,6c. 16 Summa theologiae, I-II, q. 8, a. 1c. Wenn gesagt wird,»gut ist, was alle erstreben«, ist das nicht so zu verstehen, als ob ein gewisses Gut von allen Wesen erstrebt wird, sondern weil, was auch immer erstrebt wird, den Aspekt des Guten hat (rationem boni habet). Ebd., I, q. 6, a. 2, ad 2). 17 Summa theologiae, I, q. 20, a. 2c. 18 De caritate, a. 12, ad 16.

10 Toleranz sich die Liebe zuerst auf Gott (in Deum) hin, und von ihm leitet sie sich auf andere ab (ex ipso derivatur).» 19 * «Das Ziel nun aller menschlichen Handlungen und alles menschlichen Verlangens ist die Gottesliebe.» 20 * Gott wird implizite in allem geliebt. «Das sekundäre Ziel wird nur erstrebt durch die Kraft des primären Ziels (finis principalis), die darin gegenwärtig ist, sofern es nämlich darauf hingeordnet ist oder seine Ähnlichkeit in sich trägt. Und darum wird Gott [... ] in jedem Ziel erstrebt. Das aber heißt implizite zu Gott hinstreben.» 21 * Die Bewegung auf Gott und auf ein Einzel-Gut ist ein und dieselbe: «Alle Einzel-Güter sind in Gott [... ]. und somit ist Gott lieben und jedwedes Gut lieben ein und dasselbe.» 22 Selbst Hass läßt sich als gut, als eine Gestalt der Liebe sehen. * Thomas von Aquin:»Notwendigerweise ist die Liebe früher als der Hass, und notwendigerweise wird nichts gehaßt, wenn nicht dadurch, daß es dem mit dem Geliebten Übereinstimmenden entgegengesetzt wird. Und demgemäß gilt, daß jeglicher Hass durch Liebe verursacht wird.«23 Infolgedessen: Wenn ich den Feind hasse, so bedeutet das schließlich, daß ich etwas Weltliches mehr liebe als Gott. 19 Summa theologiae, II-II, q. 27, a. 4c. 20 Summa theologiae, II-II, q. 27, a. 6c. 21 De veritate, q. 22, a. 2c. 22 De caritate, a. 7, ad 3. 23, Summa theologiae, II II, q. 29, a. 2.

Toleranz 11 6. Die Gewissensfreiheit Als Beispiel für das verbreitete gegenteilige Vorurteil: Brockhaus: Allgemeine deutsche Realencyclopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon, Bd. 14 (Leipzig, 9 1847), 327, an: Der Grundsatz der Toleranz, welcher seine Berechtigung in der Gewissensfreiheit hat, gehört der neueren Zeit an. Das Mittelalter kannte keine Toleranz und alle, die von der herrschenden päpstlichen Kirche abwichen, verfielen der Inquisition und wurden als Ketzer verfolgt und vertilgt. Das Prinzip: Die Liebe zur Wahrheit gründet die Toleranz. Kein Mensch erkennt die Wahrheit, sondern nur einzelne Wahrheiten bzw. vermeinte Wahrheiten. Thomas: Der irrende Verstand stellt sein Urteil als wahr dar, und infolgedessen als von Gott abgeleitet, von dem alle Wahrheit herrührt. 24 die Wahrheit selbst [Veritas bzw. Veritas prima] und eine Wahrheit [verum] Moral entsteht aus der Wahrnehmung des Verstandes Der Grund und die Wurzel menschlicher Gutheit ist der Verstand. 25 Der ideale Zusammenhang: Das einzelne Gut muß materiell, das allgemeine göttliche Gut aber formal gewollt werden. 26 Man kann Menschen aus diesen beiden Ebenen betrachten. (a) Die Mehrschichtigkeit des Gewissens Thomas von Aquin: Der Wille ist in der Weise auf sein Objekt bezogen, wie ihm dieses von der Vernunft vorgestellt wird. 27 24 Summa theologiae, I II, q. 19, a. 5, ad 1. 25 Summa theologiae, I-II, q. 66, a. 1c. Vgl. Summa contra Gentiles, III, c. 10: In actu igitur voluntatis quaerenda est radix et origo peccati moralis. 26 Summa theologiae, I-II, q. 19, a. 10c. 27 Ebd., corpus.

12 Toleranz Thomas: Es kann aber etwas von der Vernunft auf verschiedene Weise betrachtet werden, so daß es in der einen Hinsicht gut, in einer anderen jedoch nicht gut ist. 28 Thomas von Aquin: Wenn daher jemandes Wille etwas will, insofern es gut ist, so ist dieser Wille selbst gut; wenn der Wille eines anderen mit Bezug auf dasselbe will, daß es nicht sei, insofern es schlecht ist, so wird dieser Wille ebenfalls gut sein. 29 Thomas von Aquin: Es liegt kein Widerstreit in den Willen, wenn mehrere Verschiedenes, aber unter verschiedenem Gesichtspunkt wollen, sondern nur dann, wenn von dem einen etwas unter einer Hinsicht gewollt und von dem anderen nicht gewollt wird. Nur darin läge ein Widerstreit der Willen. 30 (b) Ein irrendes Gewissen bindet. Der Entdecker ist Thomas von Aquin. Vgl. Summa theologiae, I II, q. 19, a. 5; De veritate, q. 17, a. 4. Das Zweite Vatikanische Konzil: Nicht selten jedoch geschieht es, daß das Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt, ohne daß es dadurch seine Würde verliert. 31 Thomas: Eine menschliche Handlung wird als moralisch bzw. unmoralisch beurteilt gemäß dem wahrgenommenen Gut, zu dem der Wille sich eigentlich bewegt, und nicht gemäß dem tatsächlichen Inhalt der Handlung. Tötet jemand zum Beispiel tatsächlich einen Hirsch, während er glaubt, seinen Vater zu töten, so begeht er die Sünde des Vatermordes; und, umgekehrt, tötet ein Jäger, trotz gebührender Vorsicht, zufällig seinen Vater, während er glaubt, einen Hirsch zu töten, so ist er frei von dem Verbrechen des Vatermordes. Wenn also aufgrund eines irrigen Gewissens jemand etwas, das an sich nicht gegen das Gesetz Gottes ist, als gegen das Gesetz Gottes wahrnimmt und sein Wille sich in diesem Sinne dazu bewegt, dann ist es klar, daß der Wille zu dem bewegt 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd., zu 3. 31 Das Zweite Vatikanische Konzil, Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute, Art. 16.

Toleranz 13 wird, was an sich betrachtet und formal gegen das Gesetz Gottes ist, jedoch materiell betrachtet zu dem, was nicht gegen das Gesetz Gottes ist, ja vielleicht sogar zu dem, was gemäß dem Gesetz Gottes ist. Und es ist infolgedessen klar, daß wir es hier mit einer Mißachtung des Gesetzes Gottes zu tun haben, und deshalb ist auch klar, daß wir es hier mit Sünde zu tun haben. Infolgedessen muß gesagt werden, daß jedes Gewissen, ob richtig oder irrig, ob bei Dingen, die in sich böse sind, oder bei indifferenten Dingen, verpflichtend ist, so daß wer gegen sein Gewissen handelt, sündigt. 32 (c) Der Vorrang des Gewissens gegenüber einer Autorität Martin Luther: Weil denn Eure allergnädigste Majestät und fürstlichen Gnaden eine einfache Antwort verlangen, will ich sie ohne Spitzfindigkeiten und unverfänglich erteilen, nämlich so: Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde; denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, daß sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen! 33 Nach Thomas von Aquin beeinträchtigt selbst ein Gebot Gottes das Gewissen nicht. Der Spruch des Gewissens ist nichts anderes als das Ankommen (perventio) des Gebotes Gottes bei dem, der ein Gewissen hat. 34 Der Primat des irrigen Gewissens des Einzelnen gilt auch gegen ein Gebot eines Prälaten. Thomas: Die Bindung des Gewissens mit der Bindung, die von dem Gebot eines Prälaten stammt, zu vergleichen, ist nichts anders als, die Bindung eines 32 Quodlibet III, q. 12, a. 2. Vgl. De veritate, q. 17, a. 4, arg. 9 u. ad 9. 33 Martin Luther, Verteidigungsrede auf dem Reichstag zu Worms, 18. April 1521. 34 De veritate, q. 17, a. 4, ad 2. Vgl. Summa theologiae, I II, q. 19, a. 5, ad 2.

14 Toleranz göttlichen Gebotes mit der Bindung des Gebotes des Prälaten zu vergleichen. Da also ein göttliches Gebot gegen das Gebot des Prälaten bindet und mehr als das Gebot des Prälaten bindet, wird die Bindung des Gewissens ebenfalls größer als die Bindung des Prälaten sein, und das Gewissen wird auch dann binden, wenn das Gebot des Prälaten im Widerspruch dazu steht. 35 * Thomas: Obwohl der Vorgesetzte höher steht als der ihm Untergebene, ist dennoch Gott, aufgrund dessen Anordnung das Gewissen bindet, größer als der Vorgesetzte. 36 * J. Ratzinger: Über dem Papst als Ausdruck für den bindenden Anspruch der kirchlichen Autorität steht noch das eigene Gewissen, dem zuallererst zu gehorchen ist, notfalls auch gegen die Forderung der kirchlichen Autorität. Mit dieser Herausarbeitung des Einzelnen, der im Gewissen vor einer höchsten und letzten Instanz steht, die dem Anspruch der äußeren Gemeinschaften, auch der amtlichen Kirche, letztlich entzogen ist, ist zugleich das Gegenprinzip zum heraufziehenden Totalitarismus gesetzt und der wahrhaft kirchliche Gehorsam vom totalitären Anspruch abgehoben, der eine solche Letztverbindlichkeit, die seinem Machtwillen entgegensteht, nicht akzeptieren kann. 37 Auch in bezug auf den Glauben an Christus: Thomas: An Christus zu glauben ist in sich gut und für das Heil notwendig, aber der Wille wird dazu bewegt nur, sofern es vom Verstand dargestellt wird. Wenn von daher es als schlecht dargestellt wird, würde der Wille dazu als schlecht bewegt werden, nicht weil es in sich schlecht wäre, sondern weil es aufgrund der Wahrnehmung des Verstandes zufällig (akzidentell) schlecht ist. 38 sogar Gott selbst gegenüber: Die Wahrheit ändert sich nicht aufgrund der Verschiedenheit der Personen; wenn jemand die Wahrheit sagt, kann er also nicht besiegt werden, mit wem auch immer er das Streitgespräch führt. 39 35 De veritate, q. 17, a. 5c. 36 De veritate, q. 17, a. 5, ad 3. 37 Papst Benedikt XVI., Kommentar zu Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 14, 329 330. 38 Summa theologiae, I II, q. 19, a. 5 corpus. 39 Thomas von Aquin, In Job, c. 13.

Toleranz 15 7. Verzeihung die höchste Leistung der Toleranz (a) Die Lehre Jesu Vater, verzeih ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! (Lk 23, 34) Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muß ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt? Siebenmal? Jesus sagte zu ihm: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal. (Mt 18, 21 22) Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unsern Schuldnern vergeben haben. (Mt 6, 12) (b) Verzeihung ist mehr als Entschuldigung Entschuldigung genau genommen bedeutet, daß der, der mich verletzt hat, gar nicht schuldig war. Es gut sein lassen. So bist Du eben. Du kannst nicht anders. Niemand wird gegenüber dem, was er wirklich für sehr böse hält, Toleranz aufbringen. (c) Verzeihung berücksichtigt zugleich das Böse und die Menschenwürde des Bösen Verzeihung: Nein! So bist du eben nicht! Verzeihung erkennt die innere Ambivalenz einer menschlichen Person an. Die versteckten Möglichkeiten werden zugelassen und bejaht. Es gibt auch eine Art ontologische, vor-moralische Verzeihung.

16 Toleranz Man verletzt jemanden, aber ohne moralische Verantwortung. Dennoch bittet man um Entschuldigung bzw. Verzeihung, und erwartet sie auch zu bekommen. Robert Spaemann: Als Erwachte, als Denkende erweisen wir uns eben darin, daß wir nicht einfach, wie die Dinge, verdrängen und verdrängt werden, sondern Verdrängen und Verdrängtwerden aufeinander beziehen, also uns als Verdrängte an das eigene Verdrängen erinnern und das Ganze als einen Prozeß der Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts der Gerechtigkeit verstehen und bejahen. 40 * R. Spaemann: Derjenige Akt, der diese Situation der Zweideutigkeit in die sittliche Eindeutigkeit bringt und die Einheit von Zurechnung und Nichtzurechnung vollzieht, ist die Verzeihung. In der ontologischen Verzeihung erlauben wir es dem anderen, das Versprechen nicht zu halten, das er als vernünftiges Wesen ist. 41 Spaemann: Was geschieht in der Verzeihung? Derjenige, der verzeiht, nimmt die Wirklichkeit des anderen, sein Selbstsein jenseits des So-seins wahr, das in seinem Handeln oder Unterlassen sichtbar wurde, und er erlaubt ihm, sich selbst davon zu distanzieren. 42 Durch die Verzeihung des Verletzten wird der Schuldige gewissermaßen befreit. Nein, so bist du nicht! R. Spaemann: Nicht daß jemand so ist, wie er ist, sondern daß er sagt: Ich bin eben so, wie ich bin oder in seinem Handeln dies ausdrückt, ist das, was Verzeihung nötig macht. 43 Dankbarkeit ist die angemessene Reaktion auf Verzeihung. 40 R. Spaemann, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik (Stuttgart, 1989), 240. 41 Ebd., 245. 42 Ebd., 246. 43 Ebd., 248.