Die Widerspenstigkeit. Mirko Bonné

Transkript

1 Die Widerspenstigkeit Mirko Bonné

2 Mirko Bonné Die Widerspenstig keit Ein Märchen

3 Von der Erde lernen wir mehr über uns als aus den Büchern. Denn sie leistet uns Widerstand. Antoine de Saint-Exupéry

4 1 Im Gegensatz zur Wüste in uns selbst sind die Wüsten auf der Erde keine unfreundlichen Orte. Denn im Grunde gibt es nirgendwo auf dem ganzen blauen Globus einen Fleck, der so unwirtlich wäre wie das Unglück. Jeder Landstrich, jede noch so öde, leer und trist erscheinende Wüstenei hat ein eigenes, unverwechselbares Antlitz, sogar die Sahara, die trotz ihrer unvollstellbaren Ausdehnung an keinen zwei Orten gleich ist. Sahara, das ist die Mehrzahl von Sahra, der Wüste. Sahara heißt Wüsten, und ihre Bewohner nennen die Sahara»Meer ohne Wasser«. In der Sahara sagt man: Wenn du das Antlitz der Wüsten lesen lernen willst, musst du nicht viel tun, nur dich einlassen auf ihre Gesichter. Der Verdacht, man könnte angesichts der Dünenwogen und ihres endlos scheinenden Sandmeers vielleicht gezwungen sein, den Dingen anders zu begegnen, kommt einem rasch, wenn man wie ich die Wüste Tam bereist, die zwar zur Sahara gehört, doch ganz eigen ist. Zur Erkenntnis wird dieser Verdacht aber erst dadurch, dass er sich in Gesprächen mit jemandem bestätigt, dem es genauso erging. In meinem Fall war dieser Andere, von dem ich lernte, dass ich mich in meiner Sicht auf die Wüste nur solange täuschte, wie ich sie unbedingt verstehen wollte, ein Fuchs. Er war kein herkömmlicher Fuchs, keiner von denen, wie man sie aus der Ferne zuweilen über ein Stoppelfeld schnüren sieht. Der Fuchs, von dem ich lernte, was eine Wüste alles sein kann Feuer, Meer, Tod, Leben, Kälte, Hitze, Liebe, Rache, alles das für sich und alles auch gemeinsam, dieser Fuchs hatte nicht die Scheu 7

5 der üblichen Füchse, das Wort zu ergreifen, die Scheu der Stoppelfeldfüchse. Mein Fuchs redete einfach drauflos. Wie sich wohl jeder leicht vorstellen kann, war ich verblüfft wie nur selten im Leben und empfand es als unfassbares Glück, mit einem Fuchs, und noch dazu einem so besonderen, ins Gespräch zu kommen. 2 Sechs Tage lang, erzählte er mir, war er durch die Wüste gelaufen, bis er den Punkt erreichte, dem ihm schon sein Vater geschildert hatte, als er noch ein sehr junger, ein kleiner, noch kleinerer Fuchs gewesen war. Mein Fuchs nämlich war und ist nicht sehr groß.»lauf nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam und ganz wichtig! lauf nur in den ungefährlichen, kühleren Morgen- und Abendstunden«, hatte sein Vater gesagt und angefügt, er wisse das von seinem eigenen Vater, dem schon uralten Großvater des damals noch sehr kleinen Fuchses.»Von der Stadt mit der roten Mauer ist man als Fuchs in östlicher Richtung drei Tage lang unterwegs«, hatte er gesagt.»aber dann kommst du zu einer Oase; dort kannst du dich stärken und ausruhen, bestimmt ein paar Tage lang. Du darfst nur nicht vergessen, was dein Ziel ist.«der Fuchs hatte genau das gemacht. Vor Durst entkräftet und fest entschlossen, alles Trinkbare zu trinken, hatte er die Oase am späten dritten Nachmittag seiner Wüstenreise erreicht. Eine Zeitlang hatte er die grüne Pracht der Baumwipfel, das Rauschen des Wasserfälle und das helle 8

6 Schwirren der Vögel für Halluzinationen gehalten und war bei Füchsen, wie er mir verriet, eher selten niedergeschlagen gewesen. Schließlich aber nahm er sich zusammen; er sagte sich, dass dort ja Vögel flogen, die ihm wirklich erschienen, weil er sie hören, sehen und sogar wittern konnte, und so war er unter den Palmen und Zitronenbäumen mit letzter Kraft auf die Suche nach Wasser und einem Schlafplatz gegangen. Erst vorsichtig und dann immer tiefer hatte er die knisternd trockene Schnauze in den See getaucht und dann im Schatten der Mauer, welche die Oase Tam angourin umgibt, schließlich zwei Tage und Nächte lang tief und fest geschlafen. Aber sein Ziel, seine Aufgabe, hatte er dabei für keinen Augenblick vergessen. Als Mensch macht man sich viele falsche Vorstellungen vom Empfinden und Verstehen und von den Bedürfnissen der Tiere. Was wusste ich vom Hunger, den Füchse verspüren? Wir hatten schon die Furcht voreinander verloren und uns angefreundet, da erzählte mir der Fuchs, dass seine Artgenossen und er, wenn im Tierreich die Sprache auf Durst und Hunger kam, in einem Atemzug mit Kamelen und Dromedaren genannt würden.»wer geduldig ist, langmütig und ausdauernd, muss entweder ein Wüstenschiff oder ein Wüstenfuchs sein«, laute im Tierreich ein geflügeltes Wort.»Einer wie ich«, sagte der Fuchs,»kann tagelang, und wenn es um die Wurst geht, sogar wochenlang auskommen, ohne etwas zu finden, was einem wie mir schmackhaft erscheint.«laut ihm, dem jungen Fuchs, war die Ernährung der Füchse eine Frage von Glauben. Oder Nichtglauben. 9

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8 Die Fotografien von Katrin Hupe sind Teil ihrer Arbeit»Poesie des Mülls«und entstanden 2002 in der Sahara. Für Unterstützung, Zuspruch und viele Impulse während des widerspenstigen Schreibens danke ich Hans Koch, Emina Hupe und Katrin Hupe sowie besonders Juliette Aubert. M. B.

9 Andreas Bonné Mirko Bonné, 1965 in Tegernsee geboren, ist Erzähler, Lyriker und Reisender. Seine Bücher darunter die Romane Der eiskalte Himmel und Nie mehr Nacht wurden vielfach ausgezeichnet und unter anderem ins Chine sische, Englische und Französische übersetzt. Selbst übersetzte er u. a. Keats, Stevenson und Yeats ins Deutsche. Mirko Bonné lebt in Hamburg.

10 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar by Mirko Bonné 2017 der deutschen Ausgabe: Karl Rauch Verlag GmbH & Co. KG, Düsseldorf Covergestaltung, Layout und Satz von Sebastian Maiwind, Berlin Coverzeichnung und Illustrationen: 2017 David Böhm Fotografien auf den Seiten 6, 44, 90, : 2017 Katrin Hupe Einbandmaterial von peyer graphic, Leonberg, Vorsatzmaterial von den Gebr. Schabert, Strullendorf. Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier und gebunden bei Finidr in Český Těšín. Alle Rechte vorbehalten. Printed in Czech Republic ISBN