Ludwig van Beethoven Eine Sendereihe von Eleonore Büning

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1 Sonntag, 15. Februar Uhr Eine Sendereihe von Eleonore Büning 7. Folge: Sprecht lauter, schreyt, denn ich bin taub Willkommen zur siebten Folge. Diesmal geht es um den letzten Willen. Im Herbst 1802 macht Ludwig Beethoven sein Testament. Er ist 31, ein Mann in den besten Jahren; heutzutage würde man ihn vielleicht sogar einen jungen Mann nennen, schließlich hat sich in den letzten zweihundert Jahren die Lebenserwartung, zumindest in den Industrieländern, fast verdoppelt. Damals jedoch, zur Beethovenzeit, war die Gesellschaft noch so jung, wie sie sich heutzutage sehnt, zu sein. Die Lebenserwartung liegt im Schnitt um die vierzig. Mit 23 Jahren wird Joseph II. gekrönt, mit 25 schreibt Goethe seinen Werther, mit 22 Schiller die Räuber. Für Beethoven wird dieser 6. Oktober 1802, an dem er sich in der Herrengasse in Heiligenstadt an den Schreibtisch setzt, der Tag, an dem er seine Lebensbilanz zieht. Er blickt zurück. Nach vorn zu schauen, ist ihm in der tiefen Depression, in der er steckt, unmöglich. Er schreibt von Selbstmord. Nur seine Musik habe ihn bisher daran hindern können: Virgin LC 7873 Track 002 Streichquartett F-Dur op.18,1 Daraus: 2.Satz Adagio affettuoso ed apassionato Artemis Quartett 2009/ O ihr Menschen die ihr mich für Feindseelig, störrisch oder Misantropisch haltet oder erkläret, wie unrecht thut ihr mir, ihr wißt nicht die geheime ursache von dem, was euch so scheinet Mit diesen berühmten Worten beginnt Beethovens Heiligenstädter Testament. Er hat es an seine beiden jüngeren Brüder adressiert - zugleich richtet er sich damit an die ganze Menschheit. Oder auch: An sich selbst. Es ist mehr als nur ein Testament obgleich es das natürlich auch ist, im juristischen Sinne: Der Nachlass wird verteilt, die Instrumente, das Geld. Aber dieses in Reinschrift sauber abgeschriebene, in einem Umschlag in der Schublade verwahrte Dokument ist zugleich ein Manifest. Wir erfahren daraus viel über Beethovens Kunst-, sein Welt- und Selbstverständnis. Wir erfahren von seinem Geheimnis: Dass ihn, wie er schreibt, ein heilloser Zustand überfallen habe, aus dem ein dauerndes Übel wurde, seit vielen Jahren schon. und doch war s mir noch nicht möglich, den Menschen zu sagen, sprecht lauter, schreyt, denn ich bin Taub! Virgin LC 7873 Track 002 Streichquartett F-Dur op.18,1 Daraus: 2.Satz Adagio affettuoso ed apassionato Artemis Quartett 2009/

2 7. Folge Seite 2 von 11 Im Sommer 1802 war Beethoven nach Heiligenstadt gereist damals noch ein von Wäldern umgebenes Dörfchen mit Heilquellen außerhalb Wiens, heute Teil der Stadt, als 19.Wiener Bezirk. Insgesamt verbrachte er ein halbes Jahr dort, in aller Stille, bei Bädern und Spaziergängen. Sein Arzt, Johann Adam Schmidt, hatte ihm diese Kur verschrieben, zur Wiederherstellung des Gehörsinn. Alles umsonst. Beethoven schreibt: Geliebte Hofnung, die ich mit hieher nahm, wenigstens bis zu einem gewissen Punkte geheilet zu seyn. wie die blätter des Herbstes herabfallen, gewelkt sind, so ist - auch sie für mich dürr geworden, fast wie ich hierher kamm, gehe ich fort. Der Hohe Mut er ist verschwunden...mit freuden eil ich dem Tode entgegen befreyt er mich nicht von einem endlosen Leidenden Zustand?... Lebt wohl und vergesst mich nicht ganz So endet Beethovens Heiligenstädter Testament. Spiegelt sich diese tiefe Depression auch in der Musik? Verschiedentlich wurde das behauptet. Anton Schindler zum Beispiel berichtet, der Quartettsatz La Malinconia aus op.18 Nr.6 sei so entstanden. Andere haben das Largo aus der Klaviersonate op.10 Nr.3 als Beethovens Todessehnsuchtsmusik identifiziert. Und auch der zweite Satz aus dem F-Dur-Quartett op.18,1 ist ein gern zitierter Kandidat dafür. Es handelt sich um eine Musik mit Programm, eine stockende Trauermusik, mit Tremoli und Seufzerfiguren. In den Skizzen zu diesem Adagio affettuoso ed apassionato findet sich eine Anmerkung, die Beethoven auf französisch notierte, eine Regieanweisung aus der Grabszene von Shakespeares Romeo & Julia : Il prend le Tombeau/ Desespoir/ il se tue/ les derniers soupirs. (Er umarmt das Grab. Verzweiflung. Er tötet sich. Letzte Seufzer ). Virgin LC 7873 Track 002 Streichquartett F-Dur op.18,1 Daraus: 2.Satz Adagio affettuoso ed apassionato Artemis Quartett 2009/ Das Artemis-Quartett spielte den zweiten Satz, Adagio affettuoso ed apassionato aus Beethovens Streichquartett op.18, Nr.1. Markig-militärische Trauermärsche hat Beethoven etliche komponiert. Aber Bekenntnismusiken mit Lamentogestus, in denen nicht objektiv getrauert, sondern subjektiv Verzweiflung ausgedrückt wird, sind bei ihm eher selten. Dass all die Werke, die man mit Beethovens Heiligenstädter Testament in Verbindung gebracht hat, sehr viel früher entstanden sind, spricht aber nicht gegen solche Theorien. Wir können davon ausgehen, dass dies nicht die erste und einzige depressive Phase war, die Beethoven durchmachte. In diesem Sommer in Heiligenstadt hatte er zwar nichts oder jedenfalls nicht viel komponiert. Ich bin auf m Land, und lebe ein wenig faul, um aber hernach wieder destho thätiger zu leben schreibt er dem Verleger Hoffmeister nach Leipzig, im Juli Allerdings, unmittelbar danach findet sich in dem ersten Stück, das er fertig stellt nach Heiligenstadt, dann doch so etwas wie ein biographischer Reflex. Als erster hat der Beethovenforscher Maynard Salomon darauf hingewiesen, dass eine Beziehung besteht zwischen dem Heiligenstädter Testament und dem Oratorium Christus am Ölberge. Und mittlerweile wurde sogar nachgewiesen, dass er die ersten Notizen dazu nicht erst post Heiligenstadt aufschrieb, sie tauchen schon früher in Beethovens Skizzenbüchern auf. Es kann deshalb gar nicht zutreffen, was Beethoven selbst mit Nachdruck erklärt hatte:

3 7. Folge Seite 3 von 11 Dass er Christus am Ölberge in nur zwei tumultuösen Wochen kurz vor Ostern 1803 rasch zu Papier geworfen habe. Und auch sonst, so scheint es, verwischte Beethoven später die Spuren. Nach der Uraufführung, die am 5.April 1803 im Theater an der Wien stattfand, hat er das Werk einer gründlichen Revision unterzogen. Auffallend an der Zweitfassung, die wir kennen, ist aber immer noch die opernhafte Diesseitigkeit der Figur des Christus. Habakuk Traber beschreibt ihn treffend als einen antikisch-mythologischen Cousin des Prometheus. Es ist der Bürger Jesus, der hier, allein gelassen, mit sich und seinem Schicksal hadert. Anders als sonst in österlichen Oratorien üblich, endet Christus am Ölberge mit der Gefangennahme; eine Kreuzigung findet nicht statt. Auch die Figur des Judas kommt nicht vor. Es geht nur um die inneren Kämpfe, um die Prüfungen eines Individuums. Um den Weg, der durch Nacht zum Licht führt. Aus Heiligenstadt wird Gethsemane. Natürlich bleibt immer ein Rest Spekulation, wenn man versucht, biographische Begebenheiten eines Autors im Werk wiederzufinden. Doch es gibt starke Indizien. Christus am Ölberge ist das erste Werk Beethovens, an dessen Libretto er mitgearbeitet hat. Es entsteht ohne Auftrag, es ist niemandem gewidmet. Dass eine Identifikation stattfinden soll mit der Hauptfigur, steht außer Frage, ebenso der diesseitige und opernhafte Gestus, hörbar schon in der Ouvertüre: Opus 111 OPS LC Track Christus am Ölberge op.85 Daraus: Introduktion & Rezitativ Jehovah, du mein Vater! Steve Davislim, Tenor Das Neue Orchester Leitung: Christoph Spering Ich leide sehr - erbarm dich mein! Aus dem Oratorium Christus am Ölberge op.85 hörten Sie die Ouvertüre samt dem Eröffnungsrezitativ des Christus. Es sang Steve Davislim. Christoph Spering dirigierte Das Neue Orchester. Angefangen hatte die Krankengeschichte s mit dem linken Ohr im Jahr 1796, als er 25 war. Er habe ein Sausen und Brausen vernommen, erinnert er sich später - leichter Tinnitus, würde man vielleicht heute dazu sagen, und es mit Vitamin E oder Akupunktur versuchen. Damals tappten die Ärzte eher Dunkeln, vom Innenleben der Gehörgänge hatte man wenig Ahnung. Als sich der Zustand sukzessive verschlimmerte und auch das rechte Ohr Beethovens erfasste, verschrieb der eine mit Mandelöl getränkte Ohrstopfen, der andere eine Diät, der dritte ließ zur Ader. Die meisten Ärzte, die Beethoven konsultierte, waren Wundärzte, viele von ihnen, wie die kriegerischen Zeiten es erforderten, Militärärzte. Um 1800 herum hörte Beethoven auf dem rechten Ohr gar nichts mehr und auf dem linken nur noch ab und zu. Aber wirklich vollkommen taub war er noch lange nicht berichtet der britische Pianist Charles Neate, der Beethoven im Auftrag der Londoner Philharmonischen Gesellschaft besuchte: Er habe sich richtig mit ihm unterhalten können, nur müsse man direkt in sein linkes Ohr hinein sprechen. Neate empfiehlt Beethoven die fortschrittlichen englischen Ohrenärzte. Beethoven

4 7. Folge Seite 4 von 11 darauf: Ich habe bereits alle Arten von ärztlichen Ratschlägen erhalten. Ich werde niemals geheilt werden. Ich will Ihnen erzählen, wie die Sache entstanden ist. Er habe einst am Theater Ärger gehabt mit einem arroganten Tenor und sei, als der wieder störte, in einem Wutanfall zu schnell vom Tisch aufgesprungen und hingestürzt: Als ich wieder aufstand, fand ich mich taub und bin es seitdem geblieben. Die Ärzte sagen, der Nerv sei verletzt. Wirklich gibt es diese Opern-Arie, die Beethoven 1796 für einen Tenor komponiert hat es ist eine ziemlich läppische. Er schrieb sie als Einlage für das Singspiel Die schöne Schusterin von Ignaz Umlauf, das gerade am Burgtheater Furore machte. Viel Mühe gab er sich damit nicht. Er orchestrierte einfach ein altes Liedchen, das er bereits als Jüngling in Bonn verfasst hatte. Es heißt: Mailied. edel classics CCC LC Track 010 Mailied op.52,4 Peter Schreier, Tenor Walter Olbertz 1969/ Mailied op.52, Nr.4. Peter Schreier sang, sein Klavierbegleiter war Walter Olbertz. So nett dieses Lied klingt, es soll mitschuldig sein an Beethovens Taubheit. Vorausgesetzt, dass Beethoven sich richtig erinnert hat und dass der Zeuge, Charles Neate, der seine Story vom Hörsturz kolportierte, das nicht überhaupt erst nachträglich erfand. Es gibt ja noch viel mehr und viel abenteuerlichere Thesen dazu! Zum Beispiel die vom Flohbiss, der einen Typhusanfall auslöste, was dann das Gehör angegriffen haben soll, oder die vom genetisch bedingten Alkoholmissbrauch oder gar der Syphilis, die man Beethoven posthum andichtete. Ein Komponist mit toten Ohren, das ist nun mal ein äußerst interessanter Fall. Die steilste Theorie stammt auf jeden Fall von Peter Schleuning, einem der hypothesenfreudigsten Musikwissenschaftler unserer Tage. Er meint, Beethoven selbst sei schuld. Als ein revolutionärer Ideenkünstler habe er sein Taubsein mutwillig heraufbeschworen. Als Beweisstück dient eine Original-Notiz von 1796, die da lautet: Muth! Auch bei allen Schwächen des Körpers soll doch mein Geist herrschen. Nichts muss übrig bleiben. Mit diesen Worten, so Schleuning, habe Beethoven im Dienste der Aufklärung den eignen Körper verleugnet. Er habe sein Leben, mit allen menschlichen Schwächen, dem Ideenkunstwerk subsumiert, sich selbst quasi entkörperlicht. Daraufhin hätten ihm dann die Ohren den Dienst aufgekündigt: Das Taubwerden erscheint als psychisch notwendige Folge der Unterdrückung des Körpers. Deutsche Grammophon LC 0173 Track Doktor, sperrt das Tor dem Tod WoO 189 & Ich war hier, Doktor, ich war hier WoO 190 Heidi Person, Sopran Ulrike Helzel, Alt Peter Maus, Tenor Ralf Lukas, Bariton

5 7. Folge Seite 5 von 11 Kein Ideenkunstwerk war das, keine Idealmusik. Nur zwei der lustigen Ärzte-Scherz- Kanons, die Beethoven im Kampf gegen seine Krankheit komponiert und seinen Dottores gewidmet hat. Diese hier schrieb er im Frühjahr 1825 für Dr. Anton Braunhofer es sangen Heidi Person, Ulrike Helzel, Peter Maus und Ralf Lukas. Dutzende von medizinischen Studien gibt es, die Ursachenforschung in Sachen Beethovens Taubheit betreiben. Sie alle stützen sich auf die wenigen Auskünfte, die der überlieferte Briefwechsel hergibt. Es sind, genauer gesagt, nur drei Briefe, die Beethoven im Sommer 1801 an zwei seiner besten Freunde schrieb, an den Theologen Carl Amenda und den Mediziner Franz Gerhard Wegeler. Sie sind sowohl Beichte wie auch Konsultation. Diese Freunde erfahren als erste und einzige aus erster Hand, was sie schon lange ahnten: Beethoven wird taub. Er verhängt über beide die Schweigepflicht. An Wegeler, den Arzt, schreibt er: Um Dir einen Begriff von dieser wunderbaren Taubheit zu geben, so sage ich Dir, dass ich mich im Theater ganz dicht am Orchester anlehnen muß, um den Schauspieler zu verstehen. Die hohen Töne von Instrumenten, Singstimmen, wenn ich etwas weit weg bin, höre ich nicht; im Sprechen ist es zu verwundern, dass es Leute gibt, die es niemals merkten; da ich meistens Zerstreuungen hatte, so hält man es dafür. Manchmal auch hör ich den Redenden, der leise spricht, kaum, ja, die Töne wohl, aber die Worte nicht; und doch, sobald jemand schreit, so ist es mir unausstehlich. Hochtonverlust, Schall-Verzerrung und Schall-Überempfindlichkeit zu Beginn der Krankheit deuten diese Symptome auf einen Funktionsausfall der äußeren Hörzellen hin, was sich, unbehandelt, zu chronischer Innenohr-Schwerhörigkeit entwickelt haben kann. Heute würde, selbst bei zerstörten Hörzellen des Innenohres, ein Hörgerät helfen. Damals war nichts zu machen. Teils hat Beethoven seine Ärzte verachtet und beschimpft, teils respektiert und geliebt - mit einigen war er sogar richtig befreundet. Für Dr.Giovanni Malfatti komponierte er 1814 zur Namensfeier eine italienische Kantate: Un lieto brindisi WoO 103. Auf Anregung von Dr. Andreas Bertolini schrieb er die Polonaise op.89, Es-Dur. Dr. Aloys Weissenbach verfasste für Beethoven das Textbuch zu der Kantate Der glorreiche Augenblick. Dem Dr.Johann Anton Schmidt aber, der ihn in Heiligenstadt betreut hatte, widmete er sein Klarinettentrio Es-Dur op.38. Und das ist eine echte Liebesgabe! Dieses Klarinettentrio ist nämlich eine Transkription des Es-Dur-Septetts op.20. Das Septett wiederum gehört zu den wenigen Werken, mit denen Beethoven sich auf Anhieb in die Herzen des Publikums hineinkomponiert hatte. Ein Riesenerfolg! Es gab gleich dutzendweise Bearbeitungen davon worüber sich Beethoven so ärgerte, dass er persönlich auch eine solche verfassen wollte. Wir hören daraus den Finalsatz. Er beginnt mit einem Trauermarsch. Naxos LC Track 106 Klarinettentrio Es-Dur op.38 Daraus: Andante con moto, alla Marcia Presto Ib Hausmann, Klarinette Maria Kliegel, Violoncello Nina Tichman, Klavier 7 32

6 7. Folge Seite 6 von 11 Aus dem Klarinettentrio Es-Dur op.38, gewidmet dem Militärarzt Johann Anton Schmidt, war dies der letzte Satz, Andante con moto, alla Marcia Presto, gespielt von Ib Hausmann, Maria Kliegel und Nina Tichman. Wien, den 18. Oktober Noch ist keine acht Tage zurück aus Heiligenstadt, da schreibt er einen Brief an seinen Leipziger Verleger, Gottfried Härtel, und bietet ihm zwei Variationenwerke an. Die seien, schreibt er, beyde auf eine wircklich ganz neue Manier bearbeitet, jedes auf eine andre verschiedene Art (was er dann dick unterstreicht und nochmals variierend wiederholt: ) jedes thema ist darin für sich auf eine selbst vom anderen Verschiedene Art behandelt ( ) und muss ich sie selbst versichern, dass die Manier in beiden Werken ganz neu von mir ist. Was für ein bleischweres Mantra wird später aus dieser Beethovenschen Briefstelle! Daraus und aus einer weiteren Äußerung, die freilich nur aus zweiter Hand überliefert ist: Beethoven soll, erzählt sein Schüler Czerny, bald darauf gesagt haben, er sei unzufrieden mit seinen bisherigen Arbeiten, und wolle ab sofort einen neuen Weg einschlagen. Beethovens ganz neue Manier und sein neuer Weg! Posthum wuchs sich das aus zu einer großen biographischen Zäsur viele Riesenkapitel Beethovenliteratur hängen daran! Wilhelm von Lenz unternahm es 1852 als erster, Beethovens Gesamtwerk in drei Perioden einzuteilen. Demnach beginnt mit dem Briefdatum des 18.Oktober 1802 Beethovens zweite, die heroische Periode, und von der neuen Manier führt die Spur über den neuen Weg direkt zum neuen Menschen. Diese heroische zweite Periode umfasst zwar nur zehn Jahre, von 1802 bis Doch alles, was in diesen Jahren an Musik entsteht, wird fortan aufgewertet und gehört zum Kanon jener exemplarischen Werke, die als Maßstab für den eigentlichen Beethoven gelten. Entsprechend wurde das Frühwerk abgewertet, das Spätwerk mystifiziert. Viele schöne, teils sehr gelungene, auch großartige Werke, die nicht in dieses Raster passen, fallen fortan aus dem Fokus der Wahrnehmung. Das betrifft mindestens die Hälfte seiner Klaviersonaten, viele Kammermusiken, die erste, aber auch die zweite und die vierte Symphonie sowie Lieder, Arien, Chor- und Vokalwerke. Und erst recht trifft das natürlich zu für die kleinen Gebrauchs-musiken und Gefälligkeitswerke, die es in allen drei Perioden gibt. Die Märsche, die Tänze. Dafür schämen sich die Beethovens Fans manchmal sogar ein bisschen, weil sie nicht in die Schublade des Erhabenen passen: Cpo LC Tracks Kontratänze WoO 14 Nr.6 & 7 L Orfeo Barockorchester Leitung: Michi Gaigg 2004/ Das ist das Prometheus -Thema. Beethoven liebte es! Später, als er es in der Eroica -Symphonie verwendet hatte, wurde es als Eroica -Thema bekannt. Dieses Thema ist so eine Art Wanderpokal: Es taucht so oft auf, in so verschiedener Besetzung, Funktion und Gestalt, dass dazu am nächsten Sonntag eine Extrafolge in dieser Beethovenreihe fällig wird. Sie hören Kulturradio, die siebte Folge aus der Sendereihe Ludwig van Beethoven. Mein Name ist Eleonore Büning. In der heutigen Sendung dreht sich

7 7. Folge Seite 7 von 11 alles um die berühmte Zäsur in Beethovens Leben, ausgelöst von seinem Heiligenstädter Testament. Darin er seinen Selbstmord angekündigt hat wozu es freilich dann nicht kam. Im Gegenteil: Mitten aus dieser Krise heraus explodierten die Schaffenskräfte. Das Prometheus -Thema spielte angeblich eine Hauptrolle bei dem sogenannten Neuen Weg Beethovens, den er fortan einschlug und bei der neuen Manier, die er nun ausprobierte. Wie Sie aber soeben hören konnten, ist das Thema an sich im Jahr 1802 gar keine Neuigkeit mehr: Es war längst allgemein bekannt, als ein schnödes Gelegenheitswerk, als Kontretänzchen zur Redoute und im Druck bei Artaria erhältlich. Und wie Sie gleich hören können, war es noch nicht einmal ein Original - Thema Beethovens. Denn was heißt das schon? Original? Beethoven hat einfach ein bekanntes Thema hergenommen und sich angeeignet, den Anfang ins Dur verlegt, das Ende verdreht. Wie man das als Komponist so macht. Das heroische Eroica -Thema, stammt zumindest teilweise von Muzio Clementi, aus dessen g- Moll Sonate op.7: Naxos LC Track 007 Muzio Clementi Sonate g-moll op. 7, Nr. 3 Daraus: 1. Satz Allegro con spirito Susan Alexander-Max, Fortepiano 2004/ So fängt der erste Satz an aus der g-moll-sonate op.7 Nr. 3 von Muzio Clementi. Entstanden: Da war Beethoven gerade zwölf Jahre alt. Kannte er diese Sonate? Sehr wahrscheinlich! Sie lag ja im Druck vor, auch wurden Clementis Sonaten in Bonn gespielt. Und die Verwandtschaft mit dem Prometheus - alias Eroica -Thema ist nicht zu überhören wenn auch sicher nicht ehrenrührig. Zitieren, Parodieren, so etwas ist unter Komponistenkollegen total normal. Es kommt immer nur darauf an, was einer Neues daraus macht. Und was war anno 1802, zwanzig Jahre später, das wircklich Neue an Beethovens wircklich neuer Manier, seinem neuen Weg? In den Variationen op.35, die er Härtel anbietet mit diesen Worten, ist zwar nicht das Thema neu, aber neu ist die Art und Weise, wie sich das Thema von selbst entwickelt. Es steht hier nämlich nicht am Anfang. Das Thema ist nicht, wie sich das für ein Variationsthema gehört, mit dem ersten Takt gegeben. Vielmehr schafft sich das Thema selbst an, Schritt für Schritt. Zuerst taucht es auf als Gerippe: Nur die Baßlinie ist vorhanden. Dann wird diese Basslinie aufgestockt und schon mal vor-variiert, angelehnt an den Fuxschen Kontrapunkt, a due, a tre und a quattro ausgesetzt - und schließlich, im fünften Anlauf, ab Takt 67: Erst dann ist das Thema vollständig zu hören. Nur könnte man meinen, dieses berühmte, allseits bekannte Thema verliere an Wucht - einfach, weil es so wirkt, als sei es nichts als die Variation seiner eigenen Basslinie. Das ist wirklich neu! So ulkig hat noch nie zuvor ein Variationszyklus begonnen! Sony Classical SM2K 5246 LC Track 120 Fünfzehn Variationen & Fuge Es-Dur op.35 Daraus: Introduktion Glenn Gould, Klavier 1970/

8 7. Folge Seite 8 von 11 Glenn Gould spielte die Introduktion zu den sogenannten Eroica -Variationen op.35 Es-Dur. In den folgenden fünfzehn Variationen löst Beethoven dieses Thema dann langsam wieder auf. Auch das hat es so, mit diesem skurrilen Witz, vorher noch nicht gegeben. Vergessen wir einmal kurz diesen ganzen Theaterdonner um das Heiligenstädter Testament. Schieben wir die Schicksalswolken beiseite, die von diesem historischen Datum aus verallgemeinernd das gesamte Werk der sogenannten zweiten Periode Beethovens überschatten und seinen sogenannten neuen Weg ausleuchten. Dann bleiben, nachprüfbar, eigentlich nur noch die authentischen Äußerungen von Beethoven selbst übrig. Die Sätze, die er selbst so formuliert hat. Und er bezieht sich damit nur auf diese besagten beiden Klavier-Variationszyklen, op.34 F-Dur und op.35 Es-Dur. Beethoven schreibt an den Verleger Härtel: dass die Manier in beiden Werken ganz neu von mir ist. ( ) sie sollten unter die wirkliche Zahl meiner Größern Musikalischen Werke aufgenommen werden. Nicht zuletzt wegen des populären Prometheus - oder vielmehr Eroica -Themas haben die großen Variationen op.35 das auch geschafft. Sie gehören bis heute zu den meistaufgeführten Hauptwerken s. Das Zwillingsstück dazu, die kleineren Variationen in F-Dur, die hat man vergessen. Weder wurden sie jemals einbezogen in die stilkritischen Diskurse zu Beethovens Neuem Weg, noch werden sie im Konzertsaal gespielt. Warum? Ein Grund könnte sein, dass diese Variationen auf den ersten Blick gar nicht neu-, sondern eher altmodisch erscheinen. Das Thema kommt so schlicht daher wie ein Lied im Volkston. Die nachfolgenden sechs Variationen stehen dann, wie in einer Partitenfolge, jede in einer anderen Tonart. Das ist einerseits um 1800 ungewöhnlich, originell und neu, andererseits aber ein bisschen verschroben, abstrakt und veraltet denn Beethoven zitiert damit einen barocken Ordnungsfaktor. Vom F-Dur geht das terzenweise abwärts bis zum c-moll. Diese Mollvariation ist das Zentrum des Werkes, es handelt sich um einen Todtenmarsch, wie Beethoven es in die Skizzen hineinschrieb. Danach geht es im Quintenzirkel wieder zurück und aufwärts, von C-Dur zurück zur Tonika: F-Dur Jede dieser Variationen aus op.34 hat also einen eigenen Tonraum. Diese Konstruktion ist zugleich ein Korsett und ein Experiment. Beethoven hat das nur dieses eine Mal ausprobiert, in diesen Variationen, und danach nie wieder. Es spielt: Claudio Arrau: Philips LC 0305 Track B05 Sechs Variationen F-Dur op.34 Claudio Arrau, Klavier 1968/ Claudio Arrau spielte die Variationen F-Dur op.34 von. Ein Stiefkind im Beethovenrepertoire, selten zu hören. Dabei hatte Beethoven selbst diesen Variationenzyklus für eines seiner wichtigsten Werke gehalten und seinem Verleger, Gottfried Härtel, angekündigt als ein Ereignis, komponiert in ganz neuer Manier. Am 18.Dezember 1802, zwei Monate später, schreibt er noch einmal an Härtel. Ein Postskriptum. Beethoven meint, er müsse erläutern, was es auf sich hatte mit diesem Slogan von der Neuen Manier. Denn er hatte sich wieder einmal geärgert. Ein guter alter Freund aus Bonner Jugendtagen, der Flötist und Komponist Antonin

9 7. Folge Seite 9 von 11 Reicha, der mittlerweile in Frankreich lebte, war gerade zu Gast in Wien. Er hatte Beethoven besucht, hatte ihm ein paar Werke gezeigt, Beethoven half ihm bei der Suche nach einem Verleger; unter anderem wunderte er sich über einen Stapel Fugen, die Reicha ihm vorlegte. Die lehnten sich nämlich nicht nur stolz an Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertes Klavier an, Reicha wollte sie auch noch verkaufen als ein total neues System: Trente-Six Fugués composée d aprés un nouveau système. 36 Fugen, nach einer neuen Art!. Beethoven schreibt an Härtel: statt allem Geschrey von einer Neuen Methode ( ), wie es unsere Hr.Nachbarn die gallo-franken machen würden, wie zu B. mir ein gewisser französischer Reicha-Componist Fugen presentierte après une nouvelle methode, welche darin besteht, dass die Fuge keine Fuge mehr ist, etc, so habe ich doch gewollt den Nichtkenner drauf aufmerksam machen, dass sich wenigstens diese Variationen von andern unterscheiden Nämlich: Seine Variationen. Was der Reicha kann, das kann Beethoven schon lange! Ein Etikett darauf kleben: Nimm mich, ich bin frisch, ich bin neu! Das Mantra von der neuen Manier, das war am Ende vielleicht nichts anderes, als Reklame und Polemik. Dass aber Reichas Fugen nach neuer Art gar keine Fugen mehr sind, damit hatte Beethoven offenbar Recht: Arta F10146 LC Track 107 Antonin Reicha 36 Fugués composée d aprés un nouveau système op.36 Daraus: Fuge Nr.7 & (Thème de Mozart, Allegro) Jaroslav Tůma, Fortepiano Aus den 36 Fugués composée d aprés un nouveau système op.36 von Antonin Reicha hörten wir die Fuge Nr.7, gespielt von Jaroslav Tůma. Ganz besonders geärgert hat sich Beethoven wahrscheinlich darüber, dass sein alter Freund Reicha sich in diesen Fugen alle möglichen Themen von Bach, Händel, Scarlatti, Frescobaldi, Haydn und Mozart vorgeknöpft hat das Thema der Fuge Nr. 7 eben stammt zum Beispiel aus Mozarts Haffner-Symphonie; aber: Keines stammt von Beethoven. war, um 1802, schon ein berühmter Mann. Nicht mehr der hoffnungsvolle Jüngling aus Bonn, sondern einer, dessen Ruf weit über die Grenzen Österreichs hinaus gewachsen war. Zwei Klavierkonzerte, zwei Symphonien und ein Quartettzyklus hatten ihn an die Seite von Haydn und Mozart gerückt, ganz abgesehen von den 15 großen Klaviersonaten, die sein ganz spezielles poetisches Experimentierfeld geworden waren. Man kann, allein, wenn man sich die Fülle der Stücke anschaut, die Anfang 1802 herauskamen, wirklich nicht behaupten, die Lebenskrise rund ums Heiligenstädter Testament sei eine Schaffenskrise gewesen. Aber man kann feststellen: Aus der Krise ging Beethoven unvermindert schaffensfroh hervor. Nicht alle Kompositionen, die in diesem Schicksalsjahr 1802 entstanden sind, wurden später pünktlich Beethovens neuer Manier & neuem Weg zugeschlagen. Christus am Ölberge zum Beispiel, das Klarinettentrio op.38 und die Variationen op.34 fielen dabei heraus. Sie passten nicht ins Raster. Czerny rechnete dafür die

10 7. Folge Seite 10 von 11 Klaviersonaten op.31 dazu, Riezler außerdem noch die Violinsonaten op.30 und natürlich die Variationen op.35, Carl Dahlhaus am Ende sogar die dritte Symphonie op.55 sowie insbesondere den ersten Satz des Streichquartett op.59,3, obgleich auch das zeitlich herausfällt, denn es ist erst vier Jahre später entstanden. Das ist das Dumme an solchen Verständnis-Esels-Brücken. Man muss sich die Musik nachträglich passend zur Theorie zurechtbiegen. Deutsche Grammophon DG LC 0173 Track 001 Sonate op.31,2 d-moll Maurizio Pollini, Klavier 1988/ Noch kein Komponist vor ist so brutal über einen Leisten geschlagen worden von seinen Verehrern. Allerdings: es ist auch noch keiner so wie er in Haft genommen worden für die Formen, Normen und Standards der Musik, die nach ihm entstanden ist. Alle ethischen und ästhetischen Werte der sogenannten klassischen Musik leiten sich von Beethoven her. Nur er selbst kann dazu nicht mehr befragt werden höchstens: in seiner Musik. Ich möchte Ihnen jetzt, als letztes und größtes Werk für heute, eine Sonate spielen lassen, die von den Fachleuten in die zweite, die heroische Periode einsortiert wurde obgleich sie nichts Heroisches an sich hat; und die stets als ein Hauptzeuge für Beethovens neuen Weg genannt wird; obgleich sie doch schon Monate vor seinem Aufbruch nach Heiligenstadt fertig war. Der Titel bezieht sich, ebenso wie das Adagio aus op.18.1, womit die Sendung heute begann, auf ein Drama von William Shakespeare. Der erste Satz dieser Sonate in d-moll, die man die Sturmsonate nennt, beginnt nicht mit d-moll, sondern mit A-Dur. Sie haben es eben gehört: Das klingt wie nach einer langsamen Einleitung. Aber Irrtum, die schlägt gleich um in ein schnelles Allegro. Das bricht dann ebenfalls ab, ausgebremst von einer Fermate, kehrt zurück zum Anfang und so fort. Man wartet auf ein Hauptthema, das kommt aber nicht. Man wartet, wartet, bis man merkt: Ah! Wunderbar! Na klar: Diese zusammengeklebten Fragmente, diese Improvisation, das IST das Thema gewesen. Harmonisch und formal. Und kaum hat die Durchführung das dann bestätigt, passiert schon wieder etwas Neues. Da singt das Klavier zwei Bach sche Rezitative. So werden alle Erwartungen, die man jemals zuvor an eine Sonate hatte haben können, erfreulich schön getäuscht. Diese d-moll- Sonate op.31,2 hat drei Sätze insgesamt, schnell langsam schnell. BIS Records LC T Sonate op.31,2 d-moll Ronald Brautigam, Klavier Die Sonate op.31, Nr. 2, d-moll, die Sturmsonate. Ronald Brautigam spielte auf einem Wiener Hammerflügel der Firma Walter, Baujahr 1802, solche einen Flügel besaß auch Beethoven selbst.. Beethoven war ein Komponist des Neuen, par excellence. Er hat mit fast jedem neuen Werk, das er anpackte, einen neuen Weg ausprobiert - von seinen ersten bis zu den letzten Kompositionen. Vielleicht ausgenommen ein paar Kanons, Märsche, Variationen und andere schnelle Gefälligkeiten, für das liebe Publikum.

11 7. Folge Seite 11 von 11 Und wenn er sich einmal mit sich selbst unterhalten wollte, dann hat er etwas in seine Skizzenbücher hineingeschrieben. Anno 1806, lange nach der Heiligenstädter Krise, schreibt er ins Skizzenbuch zum Quartettzyklus op.59: Ebenso, wie du dich hier in den Strudel der Gesellschaft stürzest, ebenso möglich ist s, Opera trotz allen gesellschaftlichen Hindernissen zu schreiben kein Geheimnis sey dein Nichthören mehr auch bey der Kunst. Das war s für heute. Damit geht die siebte Folge der Reihe zu Ende. Mein Name ist Eleonore Büning, Adieu und auf Wiederhören, hoffentlich am nächsten Sonntag. Dann können Sie in der achten Folge vielen starken Männern begegnen: Titanen, Helden, Kriegern, fast alle in Es-Dur.