Veränderung ist möglich Chancen und Strategien der Behindertenbewegung
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- Kerstin Breiner
- vor 8 Jahren
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1 Veränderung ist möglich Chancen und Strategien der Behindertenbewegung Vortrag von Ottmar Miles-Paul, freier Publizist aus Kassel am an der Universität Hamburg Nachdem ich mich bei meinem Vortrag während der letzten Ringvorlesung im Juli d. J. auf die Selbstbestimmt Leben Bewegung behinderter Menschen und deren Bedeutung für die Disability Studies konzentriert habe, habe ich für das Wintersemester den Titel Veränderung ist möglich Chancen und Strategien der Behindertenbewegung gewählt. Ich habe diesen sehr positiv anheimelnden Titel vor allem deshalb gewählt, da ich es neben der Kritik der bestehenden Systeme der Behindertenhilfe und politik als sehr wichtig empfinde, dass wir auch die Erfolge sehen, die erreicht wurden bzw. möglich sind. Denn dies kommt im Alltag oftmals leider viel zu kurz. Grundzüge der Selbstbestimmt Leben Bewegung Bevor ich jedoch darauf eingehe, was alles möglich ist, möchte ich noch einmal einen kurzen Rückgriff auf die Grundlagen der Selbstbestimmung behinderter Menschen nehmen, auf die ich während meines letzten Vortrages eingegangen bin. Wenn ich heute von der Selbstbestimmung behinderter Menschen rede, gehören für mich folgende Aspekte dazu, die diese Philosophie, ja, diesen Paradigmenwechsel maßgeblich ausmachen: - Antidiskriminierung und Gleichstellung behinderter Menschen - Entmedizinisierung von Behinderung und behinderungsübergreifende Zusammenarbeit - Größtmögliche Inklusion in das Leben der Gemeinde - Kontrolle behinderter Menschen über ihre eigenen Organisationen - Kontrolle behinderter Menschen über ihre Dienstleistungen - Peer Counseling, Peer Support und Empowerment also die gegenseitige Beratung und Unterstützung für behinderte Menschen durch behinderte Menschen Veränderungen, die wir erreicht haben Soweit die Grundzüge der Selbstbestimmt Leben Philosophie. Um mit Ihnen in die Diskussion zu kommen, welche Veränderungen für ein selbstbestimmteres und gleichberechtigteres Leben behinderter
2 Menschen in Ihrem Umfeld vollzogen wurden, bzw. möglich sind, lade ich Sie ein, mit mir einen kleinen Rundgang durch die Stadt zu gehen, in der ich mich schon seit über 20 Jahren behindertenpolitisch engagiere. Eine Reihe von Aktivitäten, bzw. Beispielen dürften symptomatisch für die Aktivitäten bzw. Erfolge in anderen Städten sein, in denen sich behinderte Menschen über Jahre hinweg aktiv eingemischt haben. Wenn Sie nach Kassel mit dem Zug kommen, steigen Sie in der Regel am ICE-Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe aus. Um zum Reisezentrum zu gelangen sehen Sie an dem 1991 eingeweihten Bahnhof lange und steile Rampen. Selbst Menschen, die recht gut zu Fuß sind, kommen ins Schnaufen, wenn sie diese Rampen mit Gepäck überwinden müssen. Ursprünglich war an diesem Bahnhof kein Aufzug vorgesehen, dieser konnte nur aufgrund einer Petition, die an den Deutschen Bundestag gerichtet wurde, durchgesetzt werden. Dieser Aufzug führt heute auf s Parkdeck, über das man zum Eingangsgebäude des Bahnhofes gelangen kann. Zudem hatten wir in Kassel anfangs immer wieder Probleme mit dem Ein- und Ausstiegsservice der Deutschen Bahn. Nach einigen Protesten und PR-Aktionen hat es sich in Kassel mittlerweile eingependelt, dass der Service gut funktioniert. Auf dem Vorplatz des Bahnhofes treffen Sie auf die Straßenbahn, deren Netz in Kassel recht gut ausgebaut ist. Fuhren in den 80er Jahren lediglich Bahnen mit einem sehr hohen Einstieg, die für RollstuhlnutzerInnen und gehbehinderte Menschen nicht oder nur mit großer Mühe nutzbar war, sind mittlerweile fast alle Straßenbahnen in Kassel mit der Niederflurtechnik und ergänzenden Klapprampen ausgestattet. 95 Prozent der Straßenbahnhaltestellen wurden mittlerweile erhöht, so dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis jede Straßenbahn und Straßenbahnhaltestelle in Kassel weitgehend barrierefrei nutzbar ist. Neben den Ansagen der Haltestelle per Lautsprecher wurden in den Straßenbahn Leuchtschriftanzeigen für den nächsten Halt installiert, so dass auch gehörlose und hörbehinderte Menschen eine Möglichkeit zur Orientierung haben. Diese Errungenschaften, die für uns in Kassel heute schon fast selbstverständlich sind, haben uns viele Proteste bis hin zu einer zweitägigen Mahnwache vor der Verkaufsstelle der Kasseler Verkehrsbetriebe gekostet. Waren wir früher zeitweise unversöhnliche Gegner, bin ich heute selbst als Stadtverordneter Mitglied des Aufsichtsrates der Kasseler Verkehrsgesellschaft und präge in dieser Funktion die Politik des Unternehmens mit. Wenn Sie vom Bahnhof aus einen Bus nutzen wollen, stoßen Sie ebenfalls auf viele Busse mit Niederflurtechnik und ergänzenden
3 Rampen es werden derzeit 30 neue barrierefreie Busse angeschafft. Das Problem ist hier, dass bisher lediglich ca. 1/3 der Bushaltestellen noch nicht barrierefrei umgebaut, also noch nicht mit Hochbordsteinen versehen sind. Dies ist im Umland schwieriger als im Stadtgebiet. Es wird jedoch gezielt daran gearbeitet, die Bordsteine kontinuierlich anzupassen. Wenn Sie in der Kasseler Innenstadt angekommen sind, stellen Sie sehr schnell fest, dass viele Ampeln mit akustischen Signalen versehen sind, die blinden und sehbehinderten Menschen anzeigen, wenn diese die Straße sicher queren können. Als ich 1985 mein Studium in Kassel begann, gab es lediglich eine solche Ampel im Stadtgebiet. Heute findet man diese fast überall und es ist gesetzt, dass alle neuen Ampeln mit akustischen Signalen ausgestattet werden. Früher war die Kasseler Innenstadt, die nach der massiven Zerstörung im zweiten Weltkrieg sehr autozentriert mit einem Innenstadtring wieder aufgebaut wurde, von Fußgängerunterführungen gekennzeichnet. Dies hatte zur Folge, dass gehbehinderte Menschen kaum akzeptable Möglichkeiten hatten, die Straßen zu überqueren. Stück für Stück wurden während der letzten Jahre diese Hürden überwunden und oberirdische Querungsmöglichkeiten geschaffen. In der Fußgängerzone herrschten vonseiten der Stadtplaner lange Zeit große Vorbehalte gegen die erhöhten Bordsteine für den barrierefreien Einstieg in die Straßenbahn. Mit Einführung der Regiotram einem Verkehrssystem, dass das Netz der Deutschen Bahn mit der Straßenbahn in der Innenstadt verbindet wurden auch an den bisher nicht zugänglichen Haltestellen Rathaus und Friedrichsplatz erhöhte Bordsteine geschaffen, ohne dass die Welt untergegangen ist. Überhaupt bot die Einführung der Regiotram die große Chance, eine Reihe von Haltestellen und Plätzen umzugestalten, bei denen es lange Zeit kaum eine Chance für Veränderungen gab. Denn eine der ersten Fragen der Förderer von Bund und Land war, ob das neue System auch barrierefrei sein wird. Das zeigt, wie wichtig die Bindung der Mittelvergabe an eine barrierefreie Gestaltung ist und was möglich ist, wenn dies so gehandhabt wird. Ein Gang zur Jugendbücherei lohnt sich in Kassel neuerdings auch, denn war diese bisher nicht barrierefrei erreichbar, ist es nun gelungen, einen Aufzug zu installieren, der auch gehbehinderten und rollstuhlnutzenden KundInnen der Jugendbücherei den gleichberechtigten Zugang ermöglicht. Auch bei der Tourismusinformation konnten Veränderungen erzielt werden, die früher
4 vom Denkmalschutz kategorisch abgelehnt wurden. So ist diese, die gleichzeitig auch einen Geldautomaten der Kasseler Sparkasse beherbergt, mittlerweile per Rampe und automatischer Türöffnung erreichbar. Auch im Rathaus können eine Reihe von Veränderungen beobachtet werden, für die lange gekämpft wurde. Das Einwohnermeldeamt hat mittlerweile eine Rampe, bei Veranstaltungsausschreibungen der Stadt wird nach besonderen Bedürfnissen gefragt und im Bürgersaal gibt es einen Hublift, um den Zugang für RollstuhlnutzerInnen zur Bühne zu ermöglichen. Höranlagen stehen vonseiten der Stadt zur Verfügung und der Behindertenbeirat der Stadt Kassel existiert bereits seit 1994 und wird bei den zentralen Entscheidungen der Stadt beteiligt. Anfang dieses Jahres wurde ein Beschluss für eine leichtere Sprache bei Informationen der Stadt von der Kasseler Stadtverordnetenversammlung gefasst und beim Neujahrsempfang der Stadt Kassel ist es mittlerweile gang und gäbe, dass die Reden in Gebärdensprache gedolmetscht werden. Die documenta, die wohl größte Ausstellung zeitgenössischer Kunst, die dieses Jahr in Kassel stattfand, war ebenfalls weitgehend barrierefrei zugänglich. Hierfür hat die Kasseler Stadtverordnetenversammlung bereits vor der letzten documenta im Jahr 2002 einen Beschluss für eine barrierefreie Gestaltung gefasst. Im übrigen gibt es seit Dezember 2000 einen Beschluss der Stadtverordneten für die Unterstützung der Erklärung von Barcelona und für das Konzept barrierefreies Kassel. Derzeit ist die Verwaltung damit beschäftigt, ein Konzept für die Entwicklung eines umfassenden Teilhabeplanes zu entwickeln. Selbst auf den Kasseler Friedhöfen ist einiges in Bewegung geraten. So gab es Anstrengungen das Verwaltungsgebäude auf dem Hauptfriedhof zugänglich zu machen und mittels eines Friedhofsmobils wird mobilitätsbehinderten Menschen geholfen, an das Grab zu kommen. Wenn Sie heute einmal die Möglichkeit haben, Kassel zu besuchen, wird Ihnen wahrscheinlich auch auffallen, dass dort mittlerweile viele behinderte Menschen auf der Straße, bei Veranstaltungen, in den Kneipen und in den Geschäften zu sehen sind. Als ich 1985 nach Kassel kam, war es schon fast eine Ausnahme einen Menschen mit einer sichtbaren Behinderungen in der Öffentlichkeit zu sehen, bzw. zu bemerken, wenn jemand mit einer unsichtbaren Behinderungen an einer öffentlichen Veranstaltung teilnahm. Dies hat auch damit zu tun, dass es uns gelungen ist, die Persönliche Assistenz für behinderte Menschen in den unterschiedlichsten Bereichen voranzutreiben. Angefangen von der Schulassistenz, über die Arbeitsassistenz, dem Einsatz von
5 VorleserInnen und GebärdensprachdolmetscherInnen bishin zur Assistenz im eigenen Haushalt und bei Begleitungen für behinderte Menschen, es ist uns gelungen, vielen behinderten Menschen ein Leben in der Gemeinde zu ermöglichen. Strategien für Veränderungen Die Liste der Veränderungen, die ich und viele andere Aktive in den letzten 20 Jahren in Kassel beobachten und mit voran treiben konnten, ließe sich noch ein ganzes Stück fortsetzen, es gäbe aber auch noch erheblichen Raum dafür, zu berichten, was noch nicht barrierefrei ist und wo wir noch viel Arbeit vor uns haben. Da ich mich im Rahmen dieses Vortrages jedoch hauptsächlich darauf konzentrieren möchte, aufzuzeigen, was möglich ist, möchte ich nun einige Strategien aufzeigen, die wir bzw. die Behindertenbewegung für Veränderungen genutzt haben. Vom Netzwerk Artikel 3, das sich schon seit über zehn Jahren für die Gleichstellung behinderter Menschen stark macht, haben wir einmal eine eher humoristische, aber doch sehr realistische Liste entwickelt, was es braucht, um die Gleichstellung behinderter Menschen durchzusetzen. Dies sind beispielsweise: - die StraßenkämpferInnen - die ParagraphenreiterInnen - die VerkäuferInnen und Schreiberlinge - die PolitstrategInnen - die AussitzerInnen - die SchlichterInnen - die UnterstützerInnen - die Feiernden All diese Funktionen haben sich für unser Engagement über die Jahre hinweg als sehr wichtig erwiesen und wahrscheinlich waren wir gerade aufgrund des Zusammenspiels der verschiedenen Kräfte besonders stark. Wir mussten immer wieder Demonstrationen, öffentlichkeitswirksame oder andere kreative Aktionen durchführen, um auf unsere Belange aufmerksam zu machen und unsere Rechte einzufordern. Wir brauchten die JuristInnen, die Lücken im Gesetz deutlich machten und die Finger dort in die Wunden gelegt haben, wo diese nicht beachtet wurden. Vor allem hat das Forum behinderter JuristInnen immer wieder selbst Vorschläge für Gesetzesänderungen gemacht, wie zum Beispiel beim Behindertengleichstellungsgesetz auf Bundesebene. Eine kontinuierliche
6 Öffentlichkeitsarbeit war ein Schlüssel für den Erfolg, denn den Druck über die Medien zu erhöhen, hilft immer wieder ein Thema zu platzieren und Erfolge zu erzielen. Natürlich musste die politische Strategie immer wieder überdacht werden und die Kontakte zur Politik, der Verwaltung und zu anderen Organisationen gezielt aufgebaut und gehalten werden. Manches mussten wir schlichtweg auch aussitzen, um einen besseren Zeitpunkt zu erwischen, indem wir mehr Chancen auf einen Erfolg hatten. Das Schlichten bei Konflikten und das Finden von gemeinsamen Positionen war meist jedoch das A & O um engagierte Menschen zu finden, die uns unterstützen und diese bei der Stange zu halten. Gerade von den vielen UnterstützerInnen, die an Aktionen teilnahmen oder einfach auch mal nur eine Unterschrift unter eine Unterschriftensammlung leistetet etc. waren natürlich das Salz in der Suppe. Last but not least war es natürlich immer wieder wichtig, unsere Erfolge zu sehen, diese aufzuzeigen und vor allem diese zu feiern. Denn dies wird meist vergessen, viel zu schnell macht sich dann der Frust breit, dass man doch nichts bewegen kann und dies stärkt natürlich keine soziale Bewegung. Deshalb habe ich mich bei meinem heutigen Vortrag einmal darauf konzentriert, Ihnen aufzuzeigen, was alles möglich ist, wenn man sich kontinuierlich für eine Sache stark macht. Daher interessiert mich nun vor allem, wo es Ihnen bisher gelungen ist, Erfolge zu erzielen, also etwas im Sinne einer besseren Selbstbestimmung und Gleichstellung behinderter Menschen zu bewegen, bzw. wo zukünftig Potenzial für Erfolge lauern.
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