Wilde Geschichten unter wilden Zacken

Transkript

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2 Tourentipp Bergwandern Wilde Geschichten unter wilden Zacken Der Sentiero Roma Zwischen Bergell und Veltlin liegt eine wildromantische Landschaft. Die Schauplätze früherer alpinistischer Grosstaten lassen sich auf einer mehrtägigen Höhenwanderung entdecken. Auf dem Sentiero Roma, dem einstigen Zöllnerweg. Text und Fotos: Iris Kürschner, Grindelwald La Vecchia, eine Felsnadel oberhalb des Rifugio Gianetti. An den Bergeller Granitspitzen wurde Klettergeschichte geschrieben. Geschichten von Tragödien und Erfolgen, Mut und Durchhaltevermögen, von Ehrgeiz und auch ein bisschen Verrücktheit. Geschichten vom Wunsch, das Leben intensiver zu spüren. Aber auch wer sich nicht zu den Kletternden zählt, kann dieser «Bühne der Alpingeschichte» sehr nahe kommen. Auf dem Sentiero Roma, der sich direkt unter den Giganten aus Granit entlangfädelt, lassen sich die Orte der Heldentaten aus erster Reihe bestaunen. Der lange unbeachtete Weg wurde vor dem Ersten Weltkrieg angelegt, um den «Alpini» die Grenzkontrollen zu erleichtern. Daher rührt auch der Juillet

3 Tourentipp Bergwandern

4 Wie heissen die Gipfel? Kartenstudium am Passo del Barbacan. Name des Weges, denn die Grenzer dienten Rom. Die Sektion Milano des italienischen Alpenclubs baute den Sentiero später mit Klettersteigpassagen aus, sodass ihn auch «Normalsterbliche» bewältigen können. Während die Bergeller Berge auf der Nordseite ihre kalte, vergletscherte Schulter zeigen, führt der Sentiero Roma durch die zum Comersee und Veltlin ausgerichtete Südseite und verspricht sonnenverwöhnte Heiterkeit. Hoch über dem Val Masino quert er unter den mächtigen Türmen, die wie Dome in den Himmel stechen. Es ist eine Urlandschaft, die ihresgleichen sucht. Das Herzstück des Weges befindet sich zwischen dem Pizzo Badile, der zu den berühmtesten Kletterbergen der Welt zählt, und dem Monte Disgrazia, dem höchsten Gipfel der Gruppe südwestlich des Bernina-Massivs. Dazwischen liegen Pässe, die mit ihrer kühnen Wegführung das Herz höher schlagen lassen. Steile Stufen in einer Schlucht Ideal lässt sich die Tour mit öffentlichen Verkehrsmitteln angehen, denn der einfachste Zustieg beginnt am Bahnhof von Novate Mezzola in der weiten Ebene des Val Chiavenna, und vom Ziel im Valmalenco besteht eine gute Busverbindung zur Bahnlinie. Nahe Novate Mezzola liegen die Felswände, wo ein schluchtartiger Einschnitt das Val Codera Von der alten Mulattiera nach San Giorgio fällt der Blick auf die Ebene von Chiavenna mit dem Lago di Mezzola. Am Passo Val Torrone: leichte Kletterei durch eine steile Rinne. markiert. Die Bewohner haben sich gegen eine Strasse gewehrt, und man kommt wie eh und je nur zu Fuss hinein. Es ist eine archaische Welt, die im Kontrast steht zu Lärm und Hektik des Piano di Chiavenna. Unzählige Stufen führen zum ganzjährig bewohnten Codera. Noch spannender ist der Umweg über den Weiler San Giorgio, der wie ein Adlerhorst über der Ebene klebt und fantastische Tiefblicke auf den türkisblauen Lago di Mezzola ermöglicht. Das Glanzstück ist der «Tracciolino», ein Bahntrassee aus den 1930er-Jahren. Heute ein spektakulärer, in den Fels gehauener Höhenweg, auf dem sich das Val Codera überblicken lässt, bevor man in den Talgrund absteigt. Der Spätsommer taucht die Wiesen und Lärchen in ein golden schillerndes Gewand, es riecht nach feuchter Erde, Pilzen, Kräutern, gemütlich geht es weiter zum Rifugio Brasca, wo im Kamin der Hütte ein Feuer prasselt. Geologen und Strahler mischen sich unter die Gäste. Das Val Codera ist reich an seltenen Mineralien. Luigi und Ecla Biavaschi verwöhnen mit ihrer Kochkunst den Gaumen. Der Salat ist aus dem Garten, die Pasta fatta in casa, die Schweine vom Hof liefern das Fleisch. Hier kommt nur Selbstgemachtes auf den Tisch. Geschichten vom Badile Gut, dass das Tal noch im Schatten liegt, wenn man sich in aller Frühe zum Passo del Barbacan (2598 m) aufmacht. Die 1200 Meter des steilen Anstiegs lassen den Schweiss rinnen. Oben verliert sich der Blick nach Westen in einem Gipfelmeer. Jenseits des Übergangs breitet sich das Valle Porcellizzo aus, ein Amphitheater, eines von vielen, die in den nächsten Tagen durchwandert werden und die Talschlüsse der Seitentäler des Val Masino bilden. Im Halbrund liegt das Rifugio Gianetti, stechen der Badile (3305 m) und der Cengalo (3369 m) ins Auge. Die Höhe ist erreicht. Es geht weiter über Granitplatten und Graspolster. Ab und an gellt der Pfiff eines Murmeltiers. Juli

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6 Das Bivacco Manzi, spektakulär gelegen im Anstieg zum Passo del Camerozzo.

7 Tourentipp Bergwandern Abend über dem Rifugio Gianetti, dem Stützpunkt im Süden des Pizzo Badile und des Pizzo Cengalo. Als die britischen Pioniere anrückten, gab es die Hütte noch nicht. W. A. B. Coolidge stieg tief unten von Bagni del Masino hinauf, eroberte mit seinen französischen Führern F. und H. Dévouassoud den Badile und war mittags bereits wieder im Tal. Das war im Juli 1867, und Coolidge gerade einmal 16-jährig. Eine grosse Leistung, auch wenn sich die Schwierigkeiten des Badile auf die Nordseite konzentrieren. Die Nordkante, oder Badile-Kante genannt, ist sicher eine der schönsten und beliebtesten Kantenrouten in den Alpen. Die 1200 Meter lange Kante wurde am 4. August 1923 von Alfred Zürcher und seinem Führer Walter Risch erstbegangen. Aufsehen erregte die Erstbesteigung der über 800 Meter hohen Nordostwand im Juli Riccardo Cassin leistete mit V. Ratti, G. Esposito, Mario Molteni und Giuseppe Valsecchi in einem dreitägigen Kampf gegen Unwetter Übermenschliches, weshalb ihnen von Mussolini im Jahr darauf eine Medaille verliehen wurde. Molteni und Valsecchi starben beim Abstieg über die Südflanke an Erschöpfung. Ein Stoff für Filmemacher wie Martin Schliessler, der das Drama 1986 nachstellte. Ein Jahr später begleitete der Tessiner Kameramann Fulvio Mariani den 78-jährigen Cassin durch die Nordostwand für «Cinquant anni dopo». Papa Fiorelli und der schnelle Buhl Seit 1913 gibt es das Rifugio Gianetti, und seither sorgt die Bergführerdynastie Fiorelli für die Bewirtung. Mittlerweile ist die dritte Generation am Werk in Gestalt von Giacomo, den alle Mimmo nennen. Viele Erstbegehungen in den Masino-Bergen gehen auf die Fiorellis zurück. Hat man die raue Schale von Mimmo geknackt, darf man spannenden Geschichten lauschen. Ein Foto zeigt seinen Vater mit Hermann Buhl, dem legendären Erstbesteiger von Nanga Parbat und Broad Peak. Ein Jahr bevor Buhl 1953 auf dem Diamir stand, sass er mit Fiorelli auf dem Gipfel des Badile. «Mein Vater war mit Freunden oben, als plötzlich ein schmächtiger Kerl auftauchte», erzählt Mimmo. Was sie nicht wussten: Buhl hatte gerade einen Meilenstein in der Alpingeschichte gesetzt: «Er ist mit dem Fahrrad aus dem 154 Kilometer entfernten Landeck hierher gestrampelt, hat in 4½ Stunden, was die Hälfte der Normalzeit ist, die Cassin-Route solo durchklettert. Und dann ist er mit seiner Bicicletta durch die Nacht wieder nach Landeck zurückgefahren.» Relaxen und schlemmen In Anbetracht solch schwerer Begehungen sollte der Sentiero Roma ganz leicht fallen. Aber auch bei guter Kondition fordern die acht Pässe und insgesamt 4200 Höhenmeter: Plattenschüsse, Schutt, Blockfelder, dafür ein Amphitheater schöner als das andere. Hinter dem Passo di Corna Rossa begeistert farbig leuchtendes Gestein das Auge, dann der verwunschene Talboden des Valle Airale. Dort mäandert der glasklare türkisfarbene Torragio-Bach durch von Lärchen umsäumte Wiesenmatten, und auf einem kleinen Hügel über dem verträumten Idyll lädt das Rifugio Bosio mit Gartenterrasse und uriger Kaminstube zum Relaxen und Schlemmen ein. Nach der unkreativen Hüttenkost der letzten drei Rifugi wieder eine Gaumenfreude. Im Banne des Bernina Massivs findet der Abstieg ins Valmalenco statt. Da fällt die Entscheidung fast schwer, in Chiesa im Talgrund in den Bus zu steigen und nicht vielleicht doch noch die Alta Via della Valmalenco anzuhängen. Schweisstreibender Aufstieg: vom Val Codera auf den Passo del Barbacan. 18 Juli 2011

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9 Die Schlüsselstelle im Aufstieg zur Bocchetta Roma auf der vierten Etappe ist mit Ketten gesichert. Morgenstimmung im Valle Airale, wo das Rifugio Bosio liegt. Infos zur Tour 1.Tag: Novate Mezzola (212 m) Rifugio Brasca (1304 m) Eckdaten: 5½ Std., 1300 Hm Aufstieg, 200 Hm Abstieg Route: Der Normalweg führt von Novate nach Osten und dann über der Mündungsschlucht rechtsufrig über viele Stufen nach Codera. Noch spannender ist die linksufrige, etwas längere Variante über San Giorgio (748 m). Ein alter Saumweg zieht in vielen Serpentinen und mit schöner Sicht auf den See zum Weiler und geht ein Stück später in den «Tracciolino» über. Nach einer gemütlichen Stunde entlang der Höhenlinie nimmt man den ersten Abzweiger nach Codera (825 m) hinunter, wo man wieder auf den Normalweg trifft, der durch den Talboden in imposanter Kulisse zum Rifugio Brasca führt. 2.Tag: Rifugio Brasca (1304 m) Rifugio Gianetti (2534 m) Eckdaten: 5 Std., 1380 Hm Aufstieg, 150 Hm Abstieg Route: Vom Rifugio Brasca nur wenig taleinwärts, dann rechts in zähem Steilanstieg zum Passo Barbacan (2550 m). Der Abstieg vom Passo Barbacan ist nur kurz, aber etwas heikel. Schutt macht die steilen Felsstufen arg rutschig. Dann aber folgt eine leichte Querung nordostwärts durch die weite Karschüssel zum weithin sichtbaren Rifugio Gianetti. 3.Tag: Rifugio Gianetti (2534 m) Rifugio Allievi (2395 m) Eckdaten: 5½ Std., 500 Hm Aufstieg, 640 Hm Abstieg Route: Erst in leichter Querung nach Osten, dann über mit Drahtseil gesicherte Felsstufen zur Scharte des Passo Camerozzo (2765 m). Die andere Seite ins Valle del Ferro gibt sich noch ausgesetzter. Trotz Sicherungen ist der etwa halbstündige Abstieg durch die Steilwand eine nervenaufreibende Angelegenheit. Klettersteigerfahrene sind hier im Vorteil. Die flache Querung über Gletscherschliff durch das Ferro-Tal sorgt für Erholung. Etwas unterhalb des Weges leuchtet rot das Bivacco Molteni. Der Passo Qualido (2647 m) und der Passo dell Averta (2540 m) sind weniger ausgesetzt. Von letzterem wirkt das Rifugio Allievi zwar ganz nah, doch der Weg zieht sich. Vor allem der nordseitige Abstieg vom Passo dell Averta, häufig vereist, braucht seine Zeit. 4.Tag: Rifugio Allievi (2395 m) Rifugio Ponti (2559 m) Eckdaten: 6½ Std., 910 Hm Aufstieg, 745 Hm Abstieg Route: Die Königsetappe führt südöstlich zum Passo Val Torrone (2518 m). Dort ostseitig durch eine steile, kettengesicherte Rinne und in ansteigender Querung zum Bivacco Manzi. Über schuttbedecktes Gletschereis zunehmend steiler, zuletzt kettengesichert über Felsen in den Passo Cameraccio (2950 m). Über Granitplatten hinunter zur Höhenterrasse über dem Val di Mello und flach durch eine Gesteinswüste zum Bivacco Kima (2700 m), wo man sich einen Tee kochen kann, denn der darauf folgende Klettersteig zur Bocchetta Roma (2898 m) gibt noch mal eins drauf wie auch die Blockfelder im Abstieg zum Rifugio Ponti. 5.Tag: Rifugio Ponti (2559 m) Rifugio Bosio (2086 m) Eckdaten: 3 Std., 280 Hm Aufstieg, 750 Hm Abstieg. Route: Von der Hütte östlich über zwei Moränen durch das Vorfeld des Predarossa-Gletschers. Dann steil über häufig vereistes Blockwerk in den Passo di Corna Rossa (2836 m). Das dort thronende Rifugio Desio musste wegen Erdrutschungen seinen Dienst aufgeben. In südöstlichem Abstieg über Blöcke und Schuttgelände, zuletzt auf bequemem Weg durch das Valle Airale zum Rifugio Bosio. Auch wegen der guten Küche und herz lichen Atmosphäre sind die Hütten von Bosio und Brasca die Topadressen der gesamten Route. 6.Tag: Rifugio Bosio (2086 m) Chiesa in Valmalenco (960 m) Eckdaten: 3 Std., 1130 Hm Abstieg Route: Die letzte Etappe verläuft auf der Alta Via della Valmalenco, die am ersten Wegkreuz nach dem Rifugio Bosio ganz bequem zur östlich gelegenen Alpe Mastabia (2077 m) quert, wo sich ein fantastischer Blick über das Valmalenco Richtung Bernina-Massiv auftut. Steil geht es hinab zur Alpe Lago (1614 m). 20 Juli 2011

10 Tourentipp Bergwandern Die von einem ehemaligen See gebildete Höhenterrasse wird von einer kleinen Ferienhaussiedlung besetzt. Dort folgt man zuerst dem Fahrweg, dann dem die Ausgangspunkt Novate Mezzola (212 m), Dorf zwischen Comersee und Chiavenna, Zugverbindung Kehren abkürzenden Wanderweg steil Endpunkt durch den Wald nach Chiesa hinunter. Chiesa in Valmalenco (960 m). Rückkehr Anforderungen Nichts für Gelegenheitswanderer. Grosse Höhenunterschiede, hochalpines mit dem Bus nach nach Sòndrio, von da nach Novate Mezzola (Fahrpläne: Gelände und gesicherte, exponierte Passagen sind zu bewältigen. Schmelzwas Übernachtungen B&B Giake, Via Ligoncio 356, Novate ser 1sorgt häufig für Vereisungen. Man 1 Mezzola, Tel sollte sich daher vorher bei den Hütten Rifugio Brasca, 1304 m, CAI, Juni bis informieren, 2 ob Steigeisen nötig sind. Sept., 48 Betten, Tel Biwakschachteln zwischen den Etappenzielen bieten Schutz bei Schlechtwetter Rifugio Gianetti, 2534 m, CAI, Mitte Juni 3 bis Ende Sept., 92 Betten, einbruch. Ausserdem kann von jeder 3 Tel Hütte ins Tal abgestiegen werden. Rifugio Allievi, 2387 m, CAI, Ende Juni bis Anreise 4 Mit dem Zug von Bern via Lötschberg, Simplon 5 nach Milano, dann weiter nach Colico und Novate Mezzola Ende Sept., 100 Betten, 4 Tel Rifugio Ponti, 25595m, CAI, Juni bis Sept., 85 Betten, Tel oder 6 Auto ÖV 75,2 Rifugio Bosio, 2080 m, CAI, Mitte Juni bis 7,9 Ende Sept., 50 Betten, CO 2 -Treibhausgas, in kg pro Person und Fahrt: Tel Beispielreise Bern Novate Mezzola. Quelle: Literatur Kürschner Iris, Hüttentrekking Westalpen, Bergverlag Rother, 2010 Volken Marco, Badile Kathedrale aus Granit, AS Verlag, Zürich 2006 Volken Marco/Kundert Remo, Alpinwandern Südbünden, SAC Verlag, Bern 2007 Karten LK 1 : Blätter 277 Roveredo, 278 Monte Disgrazia Informationen Consorzio Turistico Porte di Valtellina, I Morbegno, Tel , Ufficio Turistico, I Cataeggio (Val Masino), Tel , online.eu Consorzio Turistico Valmalenco, I Chiesa V.co, Tel , Pizzo Badile 3305 m Cima di Castello 3375 m Novate Mezzola Chiesa in Monte Disgrazia Valmalenco (3678 m) 5 6 Sòndrio LK 1 : , reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA ) Pass Von der Ebene bei Chiavenna führt die sechstägige, anspruchsvolle Route nördlich des Valtellina nach Chiesa im Valmalenco: 1 Von Novate Mezzola gehts am ersten Tag bis zum Rifugio Brasca CAI. 2 Das Rifugio Gianetti CAI ist Endpunkt der 2. Etappe. 3 Nach einer langen Tagesetappe Richtung Osten gelangt man zum Rifugio Allieva-Bonacossa CAI. 4 Die vierte Etappe führt bis zum Rifugio Ponti CAI. 5 Die letzte Hüttenübernachtung ist im Rifugio Bosio CAI. 6 Am sechsten Tag erreicht man Chiesa in Valmalenco, von wo das Postauto nach Sòndrio fährt. Juli