Tatort Kaffeehaus 13 Kriminalgeschichten aus Wien

Transkript

1 Edith Kneifl (Hg.) Tatort Kaffeehaus 13 Kriminalgeschichten aus Wien Falter Verlag

2 Inhalt Vorwort ~ Edith Kneifl 7 Schauplatz Kaffeehaus ~ Christopher Wurmdobler 9 Amaryllis Sommerer ~ Engländer 13 Claudia Rossbacher ~ Tod der Turandot 33 Stefan Slupetzky ~ Halsknacker 49 Gerhard Loibelsberger ~ Der Granat 67 Raoul Biltgen ~ Liebe Katharina Kafka 89 Manfred Wieninger ~ Dein Tod in meinen Augen 113 Sabina Naber ~ Anleitung zum perfekt Morden 131 Helga Anderle ~ Ringelspiel 155 Eva Rossmann ~ Beziehungsweise 171 Andreas P. Pittler ~ Gruppenbild mit Leiche 189 Thomas Askan Vierich ~ Die Tote im Donaukanal 207 Lisa Lercher ~ Eigentor 219 Edith Kneifl ~ The End My Friend 237 Herausgeberin, Autorinnen und Autoren 263 5

3 Vorwort Kein anderer Ort wird so sehr mit Schriftstellern in Verbindung gebracht wie das Wiener Kaffeehaus. Aber nicht nur die Literaten des Fin de Siècle verbrachten ihr halbes Leben dort. Auch für die Schriftsteller unserer Zeit»ist das Kaffeehaus sozusagen eine Wohnung, die man nicht haben muss, wenn man das Kaffeehaus hat«(egon Erwin Kisch) vor allem, wenn es dort freien Internetzugang gibt und es wegen der explodierenden Heizkosten in der eigenen Wohnung immer kälter wird. Viele unserer berühmten literarischen Vorfahren schrieben kluge, melancholische oder amüsante Geschichten über diese»heilige Stätte«. Jetzt, finde ich, ist es an der Zeit, dass auch wir Kriminalschriftsteller und -schriftstellerinnen dem Wiener Kaffeehaus unsere Huldigung erweisen und wir tun dies auf unsere Art: mit Mord und Totschlag, Betrug und Bosheit, Gewalt und Leidenschaft. Im Herbst 2010 lud ich zwölf bekannte und beliebte Krimiautoren und -autorinnen ein, über ein Kaffeehaus ihrer Wahl zu schreiben. Einige suchten sich dafür ihr Stammcafé aus, andere entschieden sich für eines, auf das sie neugierig waren. Mit hinterhältigem Grinsen und kritischem Blick machten sie sich an die Arbeit, recherchierten nicht nur inkognito, sondern schrieben ihre Geschichten sogar vor Ort. 7

4 Vorwort Schräge Vögel und finstere Gestalten bevölkern nun in dieser Anthologie die Wiener Kaffeehäuser, vom Café Central bis zum Café Westend. So mancher Kellner entpuppt sich als grandioser Ermittler, begnadeter Psychologe oder gar als raffinierter Mörder, mancher Stammgast als gefährlicher Spinner oder nicht ganz so unschuldiges Opfer. Frech und gleichzeitig bravourös wird mit den gängigen Kaffeehausklischees jongliert. Entführte Babys, eitle Primadonnen, Freistilringer in Frauenkleidern, Profikiller, Heiratsschwindlerinnen, Psychopathen, paranoide Autoren, dubiose Privatdetektive und brutale Schläger geben sich ein Stelldichein in den berühmten oder auch weniger bekannten Cafés. Es wird falsch gespielt, perfekt gemordet und ebenso genial betrogen wie in der Realität. Böse und kluge Kriminalgeschichten mit viel Humor und nervenaufreibender Spannung in gemütlicher, aber letztendlich tödlicher Atmosphäre. Lassen Sie sich entführen in die bunte, vielschichtige Welt der Wiener Cafés. Edith Kneifl, im Mai

5 Amaryllis Sommerer Engländer Sehen und gesehen werden Carlo starrt auf das Gesicht eines Säuglings. Mondlicht oder ist es Straßenlicht? fällt durch das Fenster auf die trockenen Lippen des Babys, auf seine geschlossenen Augenlider, auf seine blasse Haut über den Wangenknochen. Carlo will den Blick abwenden, über die abgewohnten Möbel dieser Ein-Personen-Wohnung fliehen. Raus hier! Aber er kann nicht. Tausend Gedanken schießen ihm durch den Kopf. Hartnäckig wiederholen sich absurde Überlegungen aus seinem wöchentlichen Aquarellkurs: Wie malt man Haut? Wie malt man Mondlicht auf Haut? Wie Straßenlicht auf Haut? Alles haben wir schon gelernt bei»how to paint like Turner«, Himmel, Wasser, Feuer, Bäume, Berge, Sonnenauf- und -untergänge, nur keine Haut. Keine Haut von Babys. Ein panischer Versuch, sich zu retten, weiß Carlo. Zu retten vor der einzigen Frage, die in diesem Augenblick wirklich zählt, der Frage, die er sich auf keinen Fall stellen will: Lebt dieses Baby noch? Oder ist es tot? 13

6 Gerhard Loibelsberger Der Granat Ein Kaffeehauskrimi aus dem Jahr 1909 Hurerei und Bigamie!«, fluchte Joseph Maria Nechyba leise, als ihm beim Tarock im Café Sperl sein Mond vom Gstieß 1 abgestochen wurde. Dies war insofern ärgerlich, als er einen Tarock 3er 2 spielte und diesen fetten Stich unbedingt benötigt hätte, um das Spiel zu gewinnen. Zusätzlich ärgerlich war, dass es nach einem Mondfang 3 immer eine Runde mit doppeltem Einsatz zu spielen galt. Der Redakteur Leo Goldblatt, ein langjähriger Freund Nechybas und Mitspieler, hob eine Augenbraue und murmelte:»beherrschen S Ihnen, Nechyba. Schließlich sind wir nicht allein da «Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des aufgeweckten Buben, der unmittelbar hinter ihm stand und mit feuerroten Wangen die Tarockpartie mitverfolgte. Der Knabe hieß Ignaz und war der Sohn eines weiteren Mitspielers, des Handelsagenten Alfons Witte. Vierter Mann 1 die zwei höchsten Karten im Tarock 2 Ein Spieler, in diesem Fall Nechyba, spielt alleine gegen die anderen 3. Deshalb 3er. 3 Wenn im Spielverlauf die zweithöchste Karte (Mond) von der höchsten Karte (Gstieß) gestochen wird, hat der Gstieß den Mond gefangen (= Mondfang). 67

7 Edith Kneifl The End, My Friend Freitag, 10 Uhr vormittags: Der Himmel über Wien war grau. Bleierne Wolken zogen über die riesige Baustelle am Westbahnhof. Der Wind peitschte die Regentropfen ans Fenster. Unzählige Menschen eilten, bepackt mit Plastiksäcken oder kleine Koffer hinter sich herziehend, an dem alten Kaffeehaus gegenüber dem Bahnhof vorbei, ohne den Mann, der allein an einem Tisch in einer Fensternische saß, zu beachten. Er war daran gewöhnt, übersehen zu werden. Es machte ihm nichts aus. Im Gegenteil, in seinem Beruf war es von Vorteil, nicht aufzufallen. Das Westend war schon immer sein Lieblingscafé gewesen. Nicht nur, weil es sich in Bahnhofsnähe befand, sondern auch wegen der Größe und Höhe der Räume. Er litt unter Klaustrophobie. Im Westend fühlte er sich nie beengt. Hier hatte er bei so mancher Tasse Kaffee auf einen Zug gewartet, und hier hatte er in so manchem Glas Bier seine Einsamkeit ertränkt. Er war durstig. Im Nachtzug von Venedig nach Wien hatte es keinen Speisewagen gegeben. Außerdem hatte der Zug zwei Stunden Verspätung gehabt.»herr Ober. Bitte!«, rief er ungeduldig. 237