Meridiane des Lebens

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1 LUISA XIAOYAN ZHANG Meridiane des Lebens Wie Akupunktur heilt O. W. Barth

2 Herausgegeben von Hans-Christian Meiser Besuchen Sie uns im Internet: O. W. Barth Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf auch teilweise nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden. Redaktion: Mihrican Özdem Illustrationen: Judith Reiser Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Umschlagabbildung: FinePic, München Satz: Adobe InDesign im Verlag Druck und Bindung: CPI Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN

3 Inhalt Vorwort Teil I Grundlagen der Traditionellen Chinesischen Medizin 1 Was ist Akupunktur? Grundannahmen der Traditionellen Chinesischen Medizin Geschichte der Traditionellen Chinesischen Medizin 21 2 Die Lehre von Yin und Yang Philosophie Yin und Yang in der chinesischen Medizin Gehören Sie zum Yin-Typ oder zum Yang-Typ? Die Lehre der fünf Elemente Philosophie Die Fünf-Elementen-Lehre in der chinesischen Medizin Die Grundsubstanzen in der chinesischen Medizin 42 5 Krankheiten und Ursachen Gutes und schlechtes Qi Die sechs schlechten Qi und typische Erkrankungen 51 Wirkung der Emotionen und der Lebensweise

4 Teil II Die Meridiane 6 Die zwölf Haupt- und zwei Sondermeridiane Was sind Meridiane? Aufbau der Meridiane Verlauf der zwölf Hauptmeridiane Lungenmeridian Funktionen des Lungenmeridians und zugeordnete Krankheiten Häufig behandelte Punkte auf dem Lungenmeridian 89 Fallbeispiele Dickdarmmeridian Funktionen des Dickdarmmeridians und zugeordnete Krankheiten Häufig behandelte Punkte auf dem Lungenmeridian 103 Fallbeispiele Magenmeridian Funktionen des Magenmeridians und zugeordnete Krankheiten Häufig behandelte Punkte auf dem Magenmeridian 114 Fallbeispiel Milzmeridian Funktionen des Milzmeridians und zugeordnete Krankheiten Häufig behandelte Punkte auf dem Milzmeridian Fallbeispiel Der Herzmeridian Funktionen des Herzmeridians und zugeordnete Krankheiten

5 Häufig behandelte Punkte auf dem Herzmeridian Fallbeispiel Dünndarmmeridian Funktionen des Dünndarmmeridians und zugeordnete Krankheiten Häufig behandelte Punkte auf dem Dünndarmmeridian Fallbeispiele Blasenmeridian Funktionen des Blasenmeridians und zugeordnete Krankheiten Häufig behandelte Punkte auf dem Blasenmeridian 165 Fallbeispiele Nierenmeridian Funktionen des Nierenmeridians und zugeordnete Krankheiten Häufig behandelte Punkte auf dem Nierenmeridian 180 Fallbeispiele Herzbeutelmeridian Funktionen des Herzbeutelmeridians und zugeordnete Krankheiten Häufig behandelte Punkte auf dem Herzbeutelmeridian Fallbeispiele Dreifacher-Erwärmer-Meridian Funktionen des Dreifacher-Erwärmer-Meridians und zugeordnete Krankheiten Häufig behandelte Punkte auf dem Dreifacher-Erwärmer-Meridian Fallbeispiele

6 17 Gallenblasenmeridian Funktionen des Gallenblasenmeridians und zugeordnete Krankheiten Häufig behandelte Punkte auf dem Gallenblasenmeridian Fallbeispiel Lebermeridian Funktionen des Lebermeridians und zugeordnete Krankheiten Häufig behandelte Punkte auf dem Lebermeridian Fallbeispiele Leitmeridian Funktionen des Leitmeridians und zugeordnete Krankheiten Häufig behandelte Punkte auf dem Leitmeridian Fallbeispiele Reservoirmeridian Funktionen des Reservoirmeridians und zugeordnete Krankheiten Häufig behandelte Punkte auf dem Reservoirmeridian Fallbeispiele Nachwort Danksagung Die Autorin

7 Vorwort Mit diesem Buch möchte ich ein Z iel erreichen: dass Sie Ihren Körper auf eine ganz neue und doch sehr alte Art kennenlernen. Die chinesische Medizin betrachtet Gesundheit und Krankheit in einem ganz anderen Licht als die westliche, moderne Wissenschaft und bietet gerade dadurch die Chance, bisher unbeachtete Aspekte zu berücksichtigen. Mit deren Hilfe können Sie zu Ihrem Wohlbefinden beitragen, Krankheiten heilen und Krankheiten von vornherein vermeiden. Sie glauben das jetzt vielleicht noch nicht. Sie glauben nicht, dass die Prinzipien der chinesischen Medizin nicht nur dabei helfen, Krankheiten zu heilen, sondern sogar sie erst gar nicht zu bekommen. Sie glauben nicht, dass Ihr Körper so stark ist, dass er unter den widrigen Bedingungen, in denen wir leben (Stress, Ernährung etc.), gar nicht erst krank wird. Sie glauben nicht, dass er sich selbst heilen kann. Die chinesische Medizin wird Ihnen aber dabei helfen. Sie glauben vielleicht auch nicht, dass Sie Zeit haben, die chinesische Medizin so gründlich zu studieren, dass Sie sie auch verstehen. Lesen Sie dieses Buch, Sie werden entdecken, dass die chinesische Medizin einfacher zu begreifen ist, als man im ersten Moment glaubt. Und wenn Sie erst ein paar Akupunkturpunkte und Meridiane kennen, wenn Sie verstehen, wie in Ihrem Körper alles mit allem zusammenhängt, wenn Sie die Zeichen und Symptome zu deuten wissen, die Ihnen Ihr Körper ständig gibt, können Sie viele Krankheiten verhindern. Ich möchte mit diesem Buch noch ein weiteres Ziel erreichen: Ich möchte dazu beitragen, dass die sogenannte Kranken versicherung durch eine Gesundheitsversicherung ersetzt wird, d. h. durch ein Gesundheitssystem, das sich viel mehr als bisher 9

8 mit Vorbeugung und Pflege auseinandersetzt. Gerade dazu hat die Traditionelle Chinesische Medizin einiges zu sagen. Vergessen Sie die (leider weitverbreitete) Ansicht, Akupunktur sei eine Schmerztherapie. Sie ist das genaue Gegenteil. Chinesische Medizin bekämpft keine Symptome, sondern stärkt Ihren Körper als Ganzes. Genau das kommt in der westlichen Medizin zu kurz, auch wenn sie unendlich viel Gutes auf die Welt gebracht und unzähligen Menschen das Leben gerettet hat. Als einzelne Bürgerin bin ich nicht in der Lage, das Gesundheitssystem zu verändern, ich hoffe aber, meinen Teil dazu beitragen zu können, dass Sie mit Ihrem Verstand und Ihren Taten Ihre Gesundheit selbst in die Hand nehmen. Wir konzentrieren uns auf unsere Krankheiten, aber zu wenig auf unsere Gesundheit. Sehen wir uns unsere Gesundheitseinrichtungen an: Sie alle sind im Prinzip dafür da, um Krankheiten zu heilen, so wie die Feuerwehr dafür da ist, Feuer zu löschen. Sie alle erfüllen ihre Aufgabe gut, und allen Beteiligten gilt unser Dank: Dank modernster Technologie, hochpräziser Untersuchungsmethoden und Heilverfahren können heute viele Krankheiten zurückgedrängt oder geheilt werden, an denen viele Menschen in früheren Zeiten gestorben sind auch in China. Auch gegen leichtere Beschwerden gibt es heute Mittel und Wege, uns das Leben zu erleichtern: Gegen Schmerzen gibt es Schmerzmittel, gegen Rheuma gibt es Antirheumatika und Cortison, gegen Blinddarm die Operation. Aber wir haben uns viel zu wenig um unsere Gesundheit gekümmert. Nehmen Sie ein Gegenbeispiel für das, was ich meine: In Deutschland ist die Zahnhygiene vorbildlich. Schon als Kleinkinder werden die Menschen hierzulande flächendeckend darüber informiert, wie wichtig regelmäßiges und gründliches Zähneputzen ist. Wir gehen regelmäßig zum Zahnarzt, und schon lange bevor eine Erkrankung entstehen kann, erhalten wir Tipps darüber, wie wir sie vermeiden können. Stellen Sie 10

9 sich vor, wie viele Probleme wir erst hätten, wenn wir unsere Zähne nicht ständig pflegen würden! Warum können wir es nicht mit dem ganzen Körper so halten? Vielleicht, weil das Verständnis für die Gesundheit nicht ausgeprägt genug ist. Und vielleicht kann die chinesische Medizin einen wichtigen Beitrag dazu liefern, den Horizont von Ärzten, Forschern und Patienten zu erweitern. Wünschenswert wäre, die breite Masse der Bevölkerung zu erreichen. Für die chinesische Medizin ist es ganz einfach: Gesund ist ein Mensch, wenn alles im rechten Maß und am rechten Platz vorhanden ist, wenn Körper und Psyche ein ausgewogenes, harmonisches Ganzes bilden, in dem alles im Fluss ist. Deswegen existiert das Konzept von Energie (Qi), die in den Meridianen fließt ungestört und im rechten Maß. Das ist keine Esoterik, sondern zunächst eine Beschreibung, so wie das gesamte chinesische Denken in Philosophie, Politik, Geschichte, aber auch im Alltag sehr bildhaft ist. Aber sicher ist, dass diese Konzeption uns hilft, unser Verständnis von Gesundheit zu erweitern. Dieses ist nach allem, was ich während meines bisher 22-jährigen Lebens in Deutschland beobachtet habe, tatsächlich nicht ausgeprägt. Sie denken wahrscheinlich jetzt, dass mein Urteil unfair ist, denn wenn Sie dieses Buch gekauft haben, gehören Sie wahrscheinlich ohnehin zu dem Teil der Bevölkerung, dem die eigene Gesundheit sehr wichtig ist. Sie ernähren sich wahrscheinlich gesund, Sie treiben regelmäßig Sport und gehen zur Blutuntersuchung und Krebsvorsorge. Das ist sehr lobenswert, und ich empfehle Ihnen, weiterzumachen. Aber was ist, wenn Sie Ihrem Körper Gutes tun wollen, aber er nichts damit anfangen kann? Das ist leider nicht selten der Fall. Deswegen will ich Ihnen eine neue Perspektive aufzeigen, aus der Sie Ihre gesundheitliche Situation individuell analysieren können. Warum ist Gesundheit bei mir so groß geschrieben? Als ich mit 13 Jahren meine Ausbildung zur TCM-Ärztin (TCM = 11

10 Traditionelle Chinesische Medizin) begann, hat es mich sehr betroffen gemacht, so viel Krankheit, Elend und Tod zu sehen. Am schlimmsten ist die Ungewissheit von chronischen Patienten, die schon viele Jahre oder Jahrzehnte leiden. Ich habe viele Menschen gesehen, die hilflos und ohnmächtig sind, weil sie keine Heilmethode finden können, obwohl sie die ganze Zeit über verzweifelt gesucht haben. Können Sie sich vorstellen, wie es sich für die Betroffenen anfühlt, immer neue und immer stärkere Medikamente zu nehmen oder sich immer neuen Operationen zu unterziehen, jedes Mal mit der Hoffnung auf Besserung? Oder wenn diese Hoffnung immer wieder aufs Neue verfliegt und vielleicht sogar mit einer Verschlimmerung bestraft wird? Vielleicht gehören Sie selbst zu den Betroffenen? Seitdem hat mich dieses Thema nicht mehr losgelassen. Heute erlebe ich in meiner Praxis viele solche Fälle: Ich habe einen Patienten mit einer Schleimbeutelentzündung an der Schulter, seit über 20 Jahren. Schmerztabletten, Cortisonspritzen, Elektro stoßtherapie, Neuraltherapie, Wärme-Kälte-Therapie, Mas sage, Krankengymnastik nichts hat ihm geholfen. Vor zwei Jahren wurde er zum zweiten Mal operiert, doch die Folge waren nur noch stärkere Schmerzen, und als er zu mir kam, konnte er seinen Arm gar nicht mehr bewegen. Ich habe ihn mit Akupunktur behandelt. Schon nach 15 Behandlungen war er geheilt. Ich habe einen kleinen fünfjährigen Patienten, dessen verstopfte Nebenhöhlen schon dreimal operiert wurden. Weil sich nichts besserte, empfahl sein HNO-Arzt ihm eine weitere Operation. Stattdessen brachte seine Mutter ihn zur Akupunkturbehandlung. Seine Beschwerden klangen nach zwei Monaten ab. Er ist jetzt zehn Jahre alt und beschwerdefrei. Ein über 70-jähriger Mann litt schon 50 Jahre lang an Allergie und bronchialem Asthma. Er wurde erst 20 Jahre lang mit Antihistaminen behandelt, bis er sie nicht mehr vertrug, dann erhielt er 30 Jahre lang Cortison. Die verheerenden Neben- 12

11 wirkungen sind bekannt. Eine sechsmonatige Akupunkturbehandlung befreite ihn schließlich von seinen Beschwerden. Solche traurigen Geschichten machen mich sehr betroffen. Umso erfreulicher ist es für mich, wenn ich diese Menschen heilen kann. Im Falle schwerer wiegender Erkrankungen freue ich mich, wenn ich dazu beitragen kann, dass sich der Patient von seiner Erkrankung erholen kann. Die Traditionelle Chinesische Medizin hilft nämlich auch z. B. begleitend zu Chemotherapien, denn sie stärkt den Organismus als Ganzes. Wie sie im Einzelnen funktioniert, welche Meridiane welche Zusammenhänge repräsentieren und welche Akupunkturpunkte welche Meridiane beeinflussen, das alles können Sie in diesem Buch erfahren. Vielleicht kann ich Ihnen mit diesem Buch helfen, wenn Sie bereits seit langer Zeit krank sind. Vielleicht verstehen Sie besser, was Ihnen eigentlich fehlt. Vielleicht trägt aber auch ein erweitertes Verständnis von Gesundheit dazu bei, dass Sie diesen Leidensweg gar nicht erst antreten müssen. Das würde mir eine schwere Last von den Schultern nehmen, denn bei den meisten Patienten, die zu mir kommen, ist die Erkrankung schon weit fortgeschritten. Ich kann dann den verständlichen Wunsch, ganz schnell gesund zu werden, nicht mehr erfüllen. Dieses Buch ist eine Beschreibung, wie mit Hilfe der Akupunktur Ihre Energie (Qi) aufgebaut und in Fluss gebracht werden kann. Sie merken, wir befinden uns damit schon in der Begriffswelt der chinesischen Medizin, die Ihnen hoffentlich helfen kann, Ihre Ziele zu erreichen! 13

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13 Teil I Grundlagen der Traditionellen Chinesischen Medizin

14 1 Was ist Akupunktur? Akupunktur ist eine seit mehr als 4000 Jahren angewandte Therapieform und eine der vier Säulen der Traditi onellen Chinesischen Medizin. Dabei werden verschiedene Punkte an der Körperoberfläche stimuliert. Es gibt über 400 Akupunkturpunkte, die sich an Leitbahnen, sogenannten Meridianen, entlanggruppieren. Die Stimulierung der Punkte erfolgt entweder durch Druckausübung mit den Fingern oder der Hand (Akupressur) oder indem Nadeln unter die Haut gestochen werden. Die Nadeln sind 1,5 bis 6 cm lang und 0,15 bis 0,4 mm dick. Die Einstichtiefe variiert abhängig von der Erkrankung, dem Erkrankungsgrad und abhängig vom jeweiligen Körperumfang. Grundsätzlich ist die Akupunktur wirksam gegen alle erdenklichen Krankheiten, da sie den Körper in seiner Gesamtheit stärkt. Vor allem bei chronischen Krankheiten, deren Ursachen nicht klar ersichtlich sind, ist die Akupunktur sehr effektiv, weil die Traditionelle Chinesische Medizin eine komplexe ganzheitliche Diagnose nach überliefertem Muster erstellt und die Ursachen behandelt. Was erwartet Sie beim Chinesischen Mediziner? Durch Befragung und Betastung des Patienten sowie durch Pulsdiagnose und Untersuchung des Zungenbelags sammelt der Arzt Zeichen, die über den Zustand Ihres Organismus Auskunft geben. Er analysiert Muster und Kombination dieser Zeichen und stellt einen individuellen Behandlungsplan auf. Der kann beinhalten: Akupunktur, Moxibustion (Erwärmung der Nadeln bei der Akupunktur), Kräutertherapie, Massage, Qigong und Ernährungsberatung. So versuchen Arzt und 16

15 Patient gemeinsam, Gesundheit und Harmonie des Körpers, aber auch der Seele wiederzufinden. Denn es gilt auch: Der Körper beeinflusst die Seele. Warum wirkt Akupunktur? Für die moderne Wissenschaft ist die Wirksamkeit der Akupunktur unbestritten. Trotzdem herrscht bis heute keine Klarheit darüber, warum die Akupunktur eigentlich so wirksam ist. Während meiner langjährigen erfolgreichen Arbeit in meiner Praxis für Traditionelle Chinesische Medizin wurde ich immer wieder nach diesem Warum gefragt. Um eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, müssen wir zuerst die Sicht der Traditionellen Chinesischen Medizin auf Körper und Psyche und auf Krankheit und Gesundheit von Grund auf verstehen. Die Modelle für Anatomie, Physiologie und Pathologie, die Formen der Untersuchung und Diagnostik sowie die Behandlungsmethoden und Vorbeugungs maßnahmen sind ganz anders als in der westlichen Medizin. Der grundsätzliche Unterschied liegt in der Betrachtungsweise des Körpers: Auf westlicher Seite wird quantitativ gemessen und seziert, werden einzelne Phänomene möglichst präzise isoliert und entsprechend isoliert behandelt. Auf der anderen Seite steht ein auf langer Erfahrung beruhendes Modell vom Körper als funktionierendem Ganzen. Dieses Vorstellungsmodell ist ein gedankliches Bild, das hilft und in Ermangelung technischer Geräte bereits vor mehr als 4000 Jahren half körperliche Vorgänge zu verstehen und zu beschreiben. Dabei tritt die Betrachtung von Substanzen in den Vordergrund, die existieren, aber wie eine Energie nicht oder nicht gänzlich sichtbar sind, etwa das Blut oder die Organe. Diese sind in Funktion und Aufbau nicht identisch mit dem, was man in der westlichen Medizin unter Blut oder Organ versteht. Die ausgeglichene und ungestörte Zirkulation von Energie, Blut, Essenz, Geist und Körperflüssigkeiten in den 17

16 Leitbahnen und die Zusammenhänge zwischen den Organen sind die Grundpfeiler und»symptome«eines gesunden Körpers. In der Vorstellung der chinesischen Medizin existieren keine Äquivalente etwa zu Hormonen, Nerven, Schilddrüsen und Nebennieren; ebenso werden als Krankheitsursachen nicht Bakterien, Viren und andere physikalische Krankheitsursachen wie in der westlichen Medizin erforscht und bekämpft, sondern natürliche körperliche und umweltbedingte Faktoren wie Kälte, Hitze, Wind, Feuchtigkeit, Trockenheit, Schleim und emotionale Unausgeglichenheit. In der Traditionellen Chinesischen Medizin werden also für die Diagnose keine Geräte verwendet, die z. B. genaue Werte von Blutuntersuchungen, präzise CT- oder MRT-Bilder von Organen oder sogar von einzelnen Zellen liefern. Stattdessen werden Symptome mit den fünf Sinnen gesammelt und dann gedeutet: Der Arzt beobachtet die körperliche und psychische Haltung, er tastet den Puls ab und betrachtet die Zunge, um die Art und Weise der Disharmonie im Körper festzustellen. Weil das anatomisch-physiologische Modell nicht durch quantitative Messung entstanden ist, sondern durch geduldige, konsequente und intelligente Beobachtung des Menschen, ist für das Verständnis des daraus entstandenen Modells wie es systematisch in den folgenden Kapiteln beschrieben wird ein Kennenlernen chinesischer Kultur, Philosophie und Weltanschauung unabdingbar. Bevor diese erläutert werden, seien jedoch an dieser Stelle die wichtigsten Grundannahmen der Traditionellen Chinesischen Medizin kurz erläutert. 18

17 Grundannahmen der Traditionellen Chinesischen Medizin Einklang von Körper, Psyche und Geist Die chinesische Medizin betrachtet den Menschen als Ganzes, in dem Körper, Psyche (Seele) und Geist (im spirituellen Sinne) ein e Einheit bilden. Unser Körper besteht aus vielen verschiedenen Organen, in denen auch die physischen Grundlagen der Psyche und des Geistes liegen. Die Organe haben unterschiedliche Funktionen und wirken in vielfältigen wechselseitigen, dynamischen Prozessen zusammen. Der Idealzustand ist nach der chinesischen Medizin gegeben, wenn dabei Ausgewogenheit und Harmonie herrscht. Der Mensch wird also von diesem Standpunkt aus untersucht und behandelt, feinste Nuancen des Zusammenspiels in seinem Körper werden beobachtet, Störungen möglichst beseitigt, indem z. B. Stauungen im Energiefluss mit Akupunkturnadeln gelöst werden. Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass in der Traditionellen Chinesischen Medizin unter Seele die Gefühlswelt und unter Geist der Geist im spirituellen Sinne verstanden wird. Einheit von Mensch und Natur Der Mensch lebt mit der Natur. Die Natur ist die Grundlage seines Lebens. Wenn sich die natürlichen Gegebenheiten ändern, wird auch der Mensch beeinflusst. Die vier Jahreszeiten mit ihrem Wechsel von ka lt und warm (Yin und Yang) spielen dabei eine besonders große Rolle; ebenso wichtig ist der Wechsel von Tag (Aktivität = Yang) und Nacht (Ruhe = Yin) (s. Kap. 2). An all diese natürlichen Zyklen muss sich der Körper anpassen. Gelingt ihm die Anpassungsleistung nicht, wird der Mensch krank. Das gilt besonders dann, wenn er von vornherein nicht robust ist, das sind z. B. Kinder, Senioren oder Menschen mit schwachem Immunsystem. 19

18 Einheit von Mensch und Gesellschaft Der Mensch ist Teil der Gesellschaft. Diese strebt stetig nach dem Ideal von Ordnung und Harmonie. Ein Mensch wird zum einen von der Gesellschaft beeinflusst, der Mensch als Individuum beeinflusst aber auch die Gesellschaft. Nach der Theorie der Traditionellen Chinesischen Medizin entsteht Disharmonie, wenn der Einzelne beginnt, sich mit seinen Mitmenschen seinen Nachbarn, Freunden, Arbeitskollegen zu vergleichen und Neid aufkommen lässt. Andersherum ausgedrückt erlebt der Einzelne Gruppendruck, glaubt, sich an vorherrschende Ideale anpassen zu müssen. Den Einzelnen kann man sich als eine Zelle vorstellen, die auf das Gesamtsystem Einfluss hat, im Negativen wie auch im Positiven. Und umgekehrt hat das Gesamtsystem Einfluss auf die einzelne Zelle. Ursachen klarlegen, Heilungsansatz finden Die Entdeckung von Keimen und Mikroben durch die europäische Wissenschaft ist relativ neu. Seitdem wissen wir erst, dass Bakterien, Viren und Mikroben von außen in den Körper eindringen und ihn krank machen. Mit chemischer Analyse, mit Röntgen- und Ultraschallgeräten, mit Tomographien machen wir unsere Knochen, unser Gewebe, unsere Gefäße und deren Inhalt sowie sämtliche Krankheitserreger und mutierte Zellen sichtbar. Wir stellen die Art des Befalls fest. Das Forschungsziel besteht darin, den Fremdkörper, notfalls auch die befallenen Teile zu entfernen oder zu töten. Die Entdeckung von Penicillin im Jahr 1928 ist so ein Beispiel für die sensationellen Forschungsergebnisse, die es ermöglichen, Krankheitserreger äußerst effizient zu bekämpfen. Die chinesische Medizin verfolgt einen anderen Ansatz: Weil alles mit allem zusammenhängt, kann die Erkrankung eines Organs durch die Schwäche anderer Organe verursacht sein. Das schwächt dann die Abwehrkraft des gesamten Organis- 20

19 mus, besonders aber die erkrankte Stelle. Da in der Theorie der Traditionellen Chinesischen Medizin der gesamte Körper von den Grundsubstanzen Energie (Qi), Essenz (Jin), Blut und Geist durchlaufen wird, müssen Staus und Stagnationen, Überfluss und Mangel vermieden oder abgebaut werden. Da der Körper am besten in einem ausgewogenen Zustand innerer und äußerer Balance existiert, ist das oberste Ziel, deren Gleichgewicht aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Sich mit den Ursachen auseinanderzusetzen, sie dann zu beseitigen, indem man das Abwehrsystem des Körpers stärkt: Das ist das Prinzip der chinesischen Medizin. Geschichte der Traditionellen Chinesischen Medizin Seit Jahrtausenden wird die chinesische Heilkunst in China überliefert. Dass sie in einer Hochkultur wie der chinesischen in ihrer archaischen Form bis zum Einbruch der technischen Moderne (nämlich durch die europäischen Kolonialherren) überlebt hat, liegt an ihrer Wirksamkeit; diese Methode hat vielen Menschen und Tieren geholfen, die Gesundheit zu stärken und Krankheiten zu heilen. Man muss sich vor Augen halten, dass bis weit ins 19. Jahrhundert hinein diese Heilmethode die einzige war. Westliche Medizin setzt sich durch Erst im 19. Jahrhundert setzten sich moderne westliche Methoden durch. Die westliche Medizin war damals in vielen Bereichen der chinesischen voraus, sie konnte schnell und effizient Krankheiten heilen, während die chinesische mehr auf einer langfristigen Stärkung der körpereigenen Kapazitäten basiert. Tatsächlich halfen die straff organisierten Krankenhäuser, die von Missionaren, Handelsorganisationen und später von den Kolonialmächten eröffnet wurden, endlich ein 21

20 modernes Gesundheitswesen in China zu etablieren was z. B. die Kindersterblichkeit deutlich senkte, was wiederum zur Bevölkerungsexplosion beitrug. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Anfang des 20. Jahrhunderts die chinesische Medizin, im Zuge der Bewegung»Neue Kultur«, zurückgedrängt und durch die westliche Medizin ersetzt wurde. Aus dem westlichen Ausland zurückkehrende Studenten brachten nämlich das notwendige Know-how mit, um ein großflächiges modernes Gesundheitssystem zu etablieren, während die klassische chinesische Medizin, zumindest in den Städten, außer Mode kam. Wiedergeburt seit den 1950er Jahren Erst nach der kommunistischen Revolution von 1949 entstanden Forschungsprojekte, die die unzähligen Haupt- und Nebenströmungen der klassischen Heilkunst zu einer systematischen»traditionellen Chinesischen Medizin«zusammenfassten. Während in früheren Zeiten die Kunst des Heilens ähnlich wie ein Handwerk vom Meister an seine Gesellen und Lehrlinge weitergegeben wurde meistens innerhalb der Familie, entstanden nun fünf Hochschulen für Traditionelle Chinesische Medizin. Um der Versorgung der schnell wachsenden Bevölkerung gerecht zu werden, wurden außerdem notdürftig und in kürzester Zeit Heiler ausgebildet, die sogenannten»barfußärzte«, die vor allem in ländlichen Gegenden zumindest die Grundversorgung sicherstellen sollten. 22