Wege aus der Essstörung durch Kunst und Kunsttherapie



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Transkript:

Wege aus der Essstörung durch Kunst und Kunsttherapie

DIPLOMARBEIT Zur Erlangung des Diploms als Multimediale Kunsttherapeutin am MAC Multimediales Arttherapy College, Wien/Wiener Neustadt Andrea SCHNEIDER-FRÖSCHL Mödling, 21. 12. 2009

Inhaltsverzeichnis Einleitung 5 1.Teil: Heilkraft der Kunst Kunsttherapie 1.1 Die Heilkraft der Kunst 8 1.2 Verbindung von Krankheit, Kunst und Heilung 9 1.3 Kunsttherapie = Kunst und Therapie? 13 1.4 Elemente und Wirkungsweisen der Kunsttherapie 16 2.Teil: Essstörungen: Krankheitsbilder, Ursachenforschung, Therapieansätze 2.1 Definition von Essstörungen 20 2.2 Geschichte der Essstörungen 22 2.3 Ursachen für Essstörungen 24 2.3.1) Allgemeines 24 2.3.2) Soziokulturelle Faktoren 25 2.3.3) Individuelle Faktoren und Persönlichkeitsfaktoren 28 2.3.4) Biologische Faktoren 29 2.3.5) Häufigkeit von Essstörungen 30 2.4 Erscheinungsformen von Essstörungen 31 2.4.1) Grundlegendes 31 2.4.2) Anorexia Nervosa (DSM-IV und ICD 10) 32 2.4.2.1) Charakteristik 32 2.4.2.2) Diagnostische Leitlinien 33 2.4.2.3) Körperliche Folgeschäden 34 2.4.2.4) Diagnose 34 2.4.2.5) Zahlen und Fakten 35 2.4.2.6) Entstehungsfaktoren und Ursachen für Anorexie 36 2.4.2.7) Magersucht-Typen 38 2.4.2.8) Herkömmliche, anerkannte Therapieformen bei Anorexie 41 2.4.3) Bulimia Nervosa (DSM-IV und ICD 10) 43 2.4.3.1) Charakteristik 43 2.4.3.2) Diagnostische Leitlinien 44 2.4.3.3) Körperliche Folgeschäden 45 2.4.3.4) Zahlen und Fakten 45 2.4.3.5) Entstehungsfaktoren und Ursachen bei Bulimie 45 2.4.3.6) Herkömmliche anerkannte Therapieformen bei Bulimie 47 2.4.4) Binge Eating Disorder (DSM IV) 48 2.4.4.1) Charakteristik 48 2.4.4.2) Die körperlichen Folgeschäden 48 2.4.5) Nicht näher bezeichnete Essstörungen 49 2.4.5.1) Charakteristik 49 2.4.5.2) Zahlen und Fakten 49 2.4.5.3) Weitere Essstörungen nach ICD 10 49 Seite 3 von 75

3. Teil: Kunsttherapie bei Essstörungen 3.1 Beispiele von Kunst als Therapie von Essstörungen 52 3.2 Kunsttherapie bei essgestörten Mädchen 53 3.2.1) Grundlagen 53 3.2.2) Ziele kunsttherapeutischer Arbeit bei Essstörungen 54 3.3 Das stationäre Konzept am Landesklinikum Thermenregion 55 3.3.1) Allgemeines 55 3.3.2) Maßnahmen zur Normalisierung des Essverhaltens 56 3.3.3) Stufenplan für Patientinnen mit Anorexia Nervosa 57 3.3.4) Tagesablauf auf der Psychosomatischen Station 58 3.3.5) Die Bearbeitung zugrunde liegender Problembereiche mittels Psychotherapie 58 3.3.6) Arbeit am Körperbild mit Hilfe der Physiotherapie 59 3.3.7) Nonverbale Ausdrucksmöglichkeiten durch bildnerische und 60 darstellende (Kunst-)Therapieformen 3.3.7.1) Allgemeines 60 3.3.7.2) Therapeutisches Malen im Kreativatelier 60 3.3.7.3) Therapeutisches Theaterspiel 63 3.3.7.4) Logopädie und Musiktherapie 64 3.3.8) Sozialarbeiterische Aspekte 65 3.4 Fallbeschreibung Lara N. 66 3.4.1) Anamnese 66 3.4.2) Psychologischer Befund 67 3.4.3) Therapieverlauf 67 3.4.4) Tanztherapeutische Persönlichkeitsanalyse 68 3.4.5) Laras Abschiedsbilder im Atelier 71 3.5. Ideen für multimodale, multimediale Kunsttherapie- 72 Einzelsettings 3.6 Mein Dank 73 Literaturverzeichnis und Bildverzeichnis 74 Seite 4 von 75

Einleitung Kunstdinge sind ja immer Ergebnisse des In-Gefahr-gewesen- Seins.. darin liegt die ungeheure Hilfe des Kunstdings für das Leben dessen, der es machen muss: dass es seine Zusammenfassung ist. (Rainer Maria Rilke) Kunst = Ästhetik? Ästhetik = Schönheit? Schönheit = Realistische oder Imaginäre Wirklichkeit? Wirklichkeit = Normalität? Normalität = Das was die Anderen tun/sagen = Produkt der Massenmedien, der Gesellschaft, des persönlichen und sozialen Umfeldes? Meinung der Anderen = Meine Meinung = Ich? Ich = Seele, Selbst? Selbst = Mein inneres und äußeres Bild von mir und meinem Körper sind eins. C.G. Jung sagt: Seele ist Bild und wenn wir Bilder erschaffen, erschaffen wir Seele; wir geben der Seele ein Organ, ein Gefäß... Die oben genannten Fragmente, Wortspiele und Aussprüche sollen meinen Zugang zum Thema umreißen. Es ist mir in der vorliegenden Arbeit wichtig darzustellen, wie sehr die psychische Befindlichkeit und die sinnliche Wahrnehmung auf den Körper Einfluss nehmen und dies auch umgekehrt der Fall ist und wie sehr man mit physischen und ästhetischen Aktivitäten die Psyche beeinflussen kann. Mein persönlicher Zugang zu diesem Thema ist einerseits geprägt durch eine langjährige Unzufriedenheit mit den eigenen Körpermaßen und den unzähligen, teils ungesunden Methoden der Gewichtsreduktion, andererseits durch eine lebenslange Zuwendung zum kreativen und künstlerischen Schaffen. Gerade das war mir in vielen Lebenssituationen Ausgleich und Zufluchtstätte und war speziell in den Jahren der Kunsttherapieausbildung - eine schier unversiegbare Quelle zum Seite 5 von 75

Erkennen, Wahrnehmen und Festigen eigener Ressourcen und persönlicher Stärken. Den Ausschlag zum Thema der vorliegenden Arbeit gab mein kunsttherapeutisches Praktikum auf der Psychosomatischen Station für Kinder, am Landesklinikum Thermenregion (in weiterer Folge werde ich es abkürzen zu LKT ) in Mödling, wo ich gemeinsam mit dem dort ansässigen medizinischen und psychosozialen Team sieben Monate lang ein stationär behandeltes anorektisches Mädchen im Therapieprozess begleiten durfte. Im ersten Teil der Arbeit schreibe ich über die Möglichkeiten und Chancen von Kunst und kunsttherapeutischen Interventionen für die Psychohygiene sowie über die Stärkung der Ich-Wahrnehmung und des Selbstbildes im Allgemeinen und im Hinblick auf mein gewähltes Thema. Anschließend beschreibe ich im zweiten Teil die Krankheitsbilder der Essstörungen, den gegenwärtigen Stand der Ursachenforschung und gebe einen Überblick über derzeit anerkannte Therapieansätze. Den dritten Teil bildet die Vorstellung des Programms für Anorexia Nervosa an der Kinderabteilung der Psychosomatischen Station am Thermenklinikum sowie eine Darstellung meiner praktischen Arbeit und der kunsttherapeutischen Aktivitäten ebendort. Den Abschluss bilden die Fallbeschreibung von Lara N. und mein Resümee. Sofern nicht anders beschrieben (Bildverzeichnis im Anhang), stammen die Abbildungen aus der Zeit im Kreativatelier am LKT-Mödling. Da ich in dieser Arbeit der geschlechtlichen Spezifität bei den Essstörungen nachgehen möchte - an diesen Erkrankungen leiden in 90-95 % der Fälle Mädchen und Frauen - werde ich die Ausführungen in vielen Bereichen nur auf dieses Geschlecht beschränken oder den Schwerpunkt dort setzen. Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, Kunst macht sichtbar (Paul Klee) Seite 6 von 75

1. Teil: Heilkraft der Kunst Kunsttherapie Seite 7 von 75

1.1 Die Heilkraft der Kunst Kunst kann heilen, diese Weisheit stammt lt. Markus Treichler (Treichler, 1996) bereits aus der Antike: Horaz, einer der bedeutendsten römischen Dichter der Augustinischen Zeit (43 v. Chr. 14 n. Chr.) vergleicht den Arzt mit dem Dichter und die Dichtung mit süßer Arznei. Auch die Bibel kennt Beispiele für den therapeutischen Gewinn der künstlerischen Beschäftigung (www.bibel-online.net/buch/09.1-samuel/16): So oft nun der böse Geist von Gott über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So wurde es Saul leichter, und es ward besser mit ihm und der böse Geist wich von ihm. Vergessen hat man diese enge Verbindung von Kunst und Medizin in dem stärker naturwissenschaftlich geprägten 18. und 19. Jahrhundert. Erst im 20. Jahrhundert entstanden wieder viele Initiativen auf dem Gebiet der Kunsttherapie, vor allem in den Bereichen der Dichtung, dem Malen und dem Musizieren: - Biblio- und Poesietherapie beinhaltet sowohl Lesen als auch selber Schreiben - Maltherapie umfasst das Betrachten und Malen von Bildern - Zu Musiktherapie gehört das konzentrierte Zuhören und Spielen, uvm. Wie oben stehende Beispiele zeigen, ist die Verbindung von passiven und aktiven Ansätzen wichtig. Wodurch aber erklärt sich der heilsame Effekt? Eine der möglichen Erklärungen darauf findet sich in einer Beantwortung folgender Fragen: - Was ist Krankheit? - Was ist Kunst? - Was ist Heilung? Antworten zu den einzelnen Fragen füllen unzählige Bücher in Bibliotheken der ganzen Welt. Mir geht es darum, auf welche Weise Kunst im Allgemeinen und bei Seite 8 von 75

Krankheiten im Speziellen Heilungsprozesse unterstützen kann. Antworten darauf fand ich in der in der humanistischen Psychologie sowie in der ganzheitlichen, naturwissenschaftlich orientierten Medizin auch weil ich mich aufgrund der Hebung meines gesundheitlichen Befindens, dieser seit vielen Jahren sehr zugetan fühle. Sehr konkrete Ansätze für einen möglichen Zusammenhang meiner Fragen gibt mir die Anthropologische Medizin, wo der Wirkungsfaktor künstlerischer Aktivitäten schon seit Ihrer Implementierung - vor allem durch Rudolf Steiner - als essentiell für die psychisch-physische Gesundheit eingestuft wird. In den folgenden Kapiteln gehe ich konkreter auf diese Punkte ein (lt. Treichler, 1996): 1.2 Verbindung von Krankheit, Kunst, Heilung Krankheit ist ein Konflikt zwischen innerem und äußerem Menschen Der innere Mensch ist geistig-überphysischer Natur und Herkunft der äußere Mensch ist von physisch-stofflicher Qualität und irdischer Abkunft. Inneres belebt, beseelt, begeistert das Äußere dieses verwirklicht, was im Inneren lebt. Beide sind ungleiche Partner, die in einer engen wechselseitigen, lebenslangen Beziehung stehen, die Entwicklungen und Wandlungen unterworfen ist und daher nicht ohne Konflikte sein kann. Diese Konflikte sind nicht abzuschaffen, sind nicht zu vermeiden. Sie wollen angenommen, verstanden und bewältigt werden. Das ist ihr Sinn! Sie fordern dazu heraus, Altes, Gewohntes zugunsten von etwas Neuem aufzugeben, das man vielleicht noch nicht kennt; etwas das man nur erahnt, das fruchtbar, produktiv und kreativ sein kann. Krankheit sehe ich in diesem Zusammenhang, mit den Worten von Rüdiger Dahlke (Dahlke, 1997) gesprochen, als einen Weg, der zur Gesundung führen kann, wenn sich eine Kommunikation findet zwischen dem inneren und äußeren Körper; Seite 9 von 75

zwischen Leib und Seele, zwischen Selbst und Welt. Exakt dieses Kommunikationsmittel kann die Kunst im Allgemeinen und die Kunsttherapie im Speziellen sein. Üblicherweise assoziieren wir Krankheit mit Schmerz und Leid, mit etwas Negativem, von dem Kranke möglichst schnell befreit werden sollen. Anders ist das Krankheitserlebnis bei der essgestörten Menschen: Sie fühlen sich vorerst nicht krank. Vor allem die magersüchtigen Mädchen empfinden die Krankheit gefährlich lange als Machtmittel und Stärke gegenüber anderen, als etwas Besonderes, Elitäres, das alle Probleme löst. Magersucht und Bulimie ersetzen ihnen scheinbar den fehlenden Lebenssinn und -inhalt. Diese Krankheitsbilder gewähren jederzeit Zuflucht, wie z.b. nach Kränkungen, bei Spannungen und drohenden Auseinandersetzungen. Sie schützen nicht zuletzt auch vor dem Erwachsenwerden. Diese Schutzfunktion scheint bei vielen Mädchen der Gewinn aus ihrer nicht zugegebenen Erkrankung zu sein. Sie gibt ihnen scheinbar Kraft, sich lange Zeit vehement gegen eine Behandlung ihrer Krankheit zu wehren. Nur TherapeutInnen, die sich dieses Gewinns bewusst sind und versuchen die Betroffene zu verstehen, haben eine Chance, Zugang zur Psyche der Erkrankten zu finden. In der Kunsttherapie liegt das Hauptaugenmerk auf dem künstlerischen Schaffen Krankheit und Essen sind kein Thema somit haben entsprechend geschulte KunsttherapeutInnen gute Möglichkeiten, einerseits eine Verbindung zwischen dem inneren und äußeren Menschen herzustellen als auch nonverbal eine Verbindung zur Klientin zu signalisieren und aufzubauen. (Atelier/LKT-Mödling) Seite 10 von 75

Kunst zu machen ist immer ein sehr individueller, kreativer Prozess Künstler selbst können kaum oder nur sehr schwer etwas Allgemeines sagen, weil es bei jedem Künstler auf etwas andere Weise geschieht (Dannecker, 1997): - Pablo Picasso wurde einmal gefragt, was Kunst für ihn sei. Er gab zur Antwort: Wenn ich es wüsste, so würde ich es für mich behalten. -...und vergessen Sie nicht, dass die Kunst nur ein Weg ist, nicht ein Ziel... meinte auf die gleiche Frage Rainer Maria Rilke. - Demgegenüber sagte humorvoll Johann Nestroy: Kunst ist, wenn man s nicht kann denn wenn man s kann ist es ja keine Kunst - Elisabeth Bunka-Peklar (Künstlerin/Mödling) sagte am 15. Okt. 2009 im Rahmen ihrer Laudatio zu meiner Vernissage in Mödling: Kunst kommt von künden eben vom Übermitteln einer Botschaft und ein Kunstwerk soll eine Botschaft beinhalten, die der Betrachter empfangen kann und soll. Markus Treichler (Treichler, 1996) schreibt dazu: Kunst ist das, was Zukunft in sich hat. Künstler sind für ihn Seismographen unter den Menschen, die auf empfindsame Weise vorausspüren jeder in seinem Element. Sie sind ausgestattet mit besonders scharfen Sinneswahrnehmungen. Sie nehmen den Geist der Zeit sinnlich wahr, spüren das Kommende und deuten in ihren Werken das Zukünftige an, weisen auf das Kommende hin. Künstler haben somit ein Ahnungsorgan für das Zukünftige. Kunst ist nicht dazu geschaffen, den Menschen den Frieden zu bringen, sondern das Schwert der Einsicht. Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg (Muschg, 2009) verweist mit diesem Zitat auf wichtige Aspekte der Kunst und ihren Auftrag, tiefe, manchmal schmerzhafte Wahrheit zu vermitteln. Die aktive, aber auch die passive Beschäftigung mit Kunst kann ablenken oder hinlenken, verallgemeinern oder konkretisieren, zerstreuen oder dazu beitragen, einen Sinn zu finden und direkt wie indirekt bei der Bewältigung des Daseins und/oder einer physischen und/oder psychischen Krankheit unterstützen. Seite 11 von 75

Kunst ist Bewältigung und Überwindung der Vergangenheit. Kunst ist das Auffinden und Gestalten der Zukunft in der Gegenwart. In der Psychologie der Kunst wird oft davon gesprochen, dass Kunst an sich aus mythischen, überindividuellen Ordnungskräften entstehe und dass das künstlerische Schaffen eine gewisse Ichlosigkeit erfordere. Die Kunsttherapie dagegen will den psychisch Kranken aus genau dieser Ichlosigkeit befreien. Sie fordert und fördert die individuellen gestaltenden Kräfte aber keine große Kunst als Produkt. Heilung im Kontext der naturwissenschaftlichen Medizin ist Wiederherstellung des vorigen, gesunden Zustandes Kunst ist somit ein Wiederfinden und Wahrnehmen, Spüren, Erleben und Umgehen mit den eigenen Grenzen von innen und außen, von Leib und Seele, von Selbst und Welt. Sie richtet sich nach der Entstehungsgeschichte, fragt nach dem Woher, Wodurch, nach Ursache und Grund von Krankheit - ist somit an die Vergangenheit orientiert. Heilung im Sinne der Kunsttherapie ist Annehmen und Integrieren der neuen Erfahrungen und Errungenschaften Im Auffinden von Ressourcen, sowie im Neuerwerb von Fähigkeiten und Einsichten, von neuen Umgangs- oder Lebensformen, in der Akzeptanz und Weiterentwicklung von Veränderungen, welche durch das künstlerische Schaffen ersichtlich wurden, ist eine neue, vielleicht sogar gesteigerte, weil selbst errungene, Gesundheit erreichbar sie ist somit an der Zukunft orientiert. Junge Essgestörte verhalten sich vielfach nicht nur gegenüber ihrem Körper feindlich und abweisend, sondern nehmen auch Kunstwerke, Musik, Poesie mit ebensolcher Seite 12 von 75

Abwehr auf. Die Auseinandersetzung mit diesen Themenbereichen erfolgt meist durch das Diktat der Bildung oder der kulturellen Ansprüche der Eltern. Kunsttherapie ermöglicht somit eine Erweiterung des individuellen Spektrums an Wahrnehmung, Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten und gibt die Chance, Kreativität in Bezug zu sich selbst anzuregen und künstlerische Werke durch sich selbst entstehen zu lassen. 1.3 Kunsttherapie = Kunst und Therapie? Entsprechend der Kunst- und Psychotherapeutin Prof. Dr. Karin Dannecker stelle ich folgendes Paradigma diesem Absatz voran: Kunst existiert, weil sie Mittel bereithält, durch die menschliche Erfahrungen kommuniziert werden können (Dannecker, 1997). Kunst und Therapie sind in ihren äußeren Zielsetzungen ebenso konträr wie in ihren inneren Prozessen verwandt: Der künstlerische Prozess dient der Formulierung einer ästhetischen Position, der therapeutische Prozess dient der Heilung. Doch beide sind lösungsorientiert in einer handelnden wie seelisch-geistigen Auseinandersetzung, suchen nach innerem Einklang für bisher Ungewohntes. So entspricht das Durcharbeiten einer künstlerischen Fragestellung mit allen Widerständen und Höhepunkten einem therapeutischen Prozess. Die Basis der Kunsttherapie ist die Erfahrung, dass jeder Mensch die Fähigkeit besitzt, eigenes inneres Erleben über das kreative Tun auszudrücken. Er beeinflusst sein künstlerisches Gestalten nach persönlichen Erfahrungen und Interessen. Herkunft, Geschlecht, Bildung, Intelligenz und Gefühle machen jeden Lösungsweg einzigartig. Gespräch, Gemeinschaft und schöpferischer Prozess eröffnen einen oft heilsamen Blick- und Perspektivenwechsel. Die Kunsttherapie begründet sich aus einem tief greifenden Verständnis der komplexen - häufig von Spannungen und Ambivalenzen begleiteten - Beziehung Seite 13 von 75

zwischen Psychotherapie im allgemeinen und der ästhetischen Erfahrung, sowie unterschiedlichen Formen von Kunst. KunsttherapeutInnen haben meist gelernt, psychotherapeutisch zu denken und künstlerisch zu handeln. Dadurch kann in der therapeutischen Beziehung das wichtige Dritte - eine teilbare und künstlerische Wirklichkeit - entstehen. Es wird damit zu einem gemeinsamen Werkstück, das in keiner anderen Therapieform existiert. So gesehen ist Kunsttherapie das Ergebnis psychischer Aktivitäten, die mit den Instrumenten der Psychotherapie erfasst werden können. Wenn Patienten zeichnen, eine Skulptur, ein Musik- oder ein Theaterstück kreieren, geben sie Einblick in ihre Erlebnisweisen, ihre Lebensgeschichte und die Art, wie sie ihre Welt geformt haben. Sie geben somit Anhaltspunkte, was sie brauchen und wie das Handeln der begleitenden Therapeuten ausgerichtet werden kann. Die Frage nach der ästhetischen Erfahrung bzw. das Problem der Form durchzieht die Literatur in der Kunsttheorie und philosophie. In der Kunsttherapie wurde dieses zentrale Thema der Form bisher vernachlässigt, was daran liegt, dass tatsächlich in der Kunsttherapie selten Kunst entsteht. Mittlerweile berühmte Ausnahmen beweisen aber das Gegenteil: Art Brut-Künstler, z.b. die Gugginger Maler mit Oswald Tschirtner an der Spitze. Daraus ergibt sich eine der wichtigsten Grundregeln für jeden Kunsttherapeuten: die akzeptierende, empathische Haltung gegenüber allem, was vom Patienten mit den künstlerischen Materialien produziert wurde. Über das Gestalten in einer Atmosphäre des Vertrauens erlebt die Klientin eine Bereicherung und Stärkung ihres ureigensten Ausdrucks, sie erlebt eine Spielraumerweiterung und kann für sich eine neue Kraftquelle auftun, indem sie neue Varianten des Erlebens und Empfindens experimentell erprobt. Durch die nonverbale Methodenvielfalt gelingt es der Kunsttherapie, vor allem dort anzusetzen, wo Sprache aufhört. Die im Prozess entstandenen Gestaltungen sind Botschaften des Unbewussten. Es sind zum Teil Eindrücke aus unserer Seite 14 von 75

vorsprachlichen Zeit, oder Situationen, die nicht sprachlich im Gehirn abgespeichert werden konnten (z.b. Traumata), aber auch momentane Gefühle und Gedanken. Durch das so entstandene Bild (oder Musik-/Theaterstück, etc.) können seelische Zusammenhänge der Sprache und der Kognition zugänglich gemacht werden. So können sie aus heilsamer Distanz betrachtet und auch verändert werden. C.G. Jung sagt, "Seele ist Bild" und wenn wir Bilder erschaffen, erschaffen wir Seele; wir geben der Seele ein Organ, ein Gefäß des Ausdrucks (Barbara Hannah,1982). Nicht immer verstehen wir diese Bilder sofort, oft wollen wir sie ganz anders darstellen, als sie sich manifestieren; dann kämpfen wir mit dem Bild, übermalen es, zerstören es vielleicht. Genau diesen Prozess des Schaffens - manchmal im Fluss, oft spannungsgeladen und aufregend fördern wir in unserer Arbeit als KunsttherapeutIn. Das kunsttherapeutische Produkt in allen seinen möglichen Formen soll nicht Ausdruck einer Symptomatik sein, sondern es soll überraschen, es soll das gestalten, was Gestalt annehmen möchte oder muss. Es geht dabei nicht um das absichtsvolle Anstreben von tiefer Einsicht oder Erkenntnis, sondern um ehrliches Zulassen, auch von Angst machenden Gefühlen. Die Arbeit übt metaphorisch jene Tätigkeiten, die uns so schwer fallen: Risken eingehen, sich hingeben, zu- und loslassen. Kunsttherapie will die Menschen, die sich trauen in ihren Spiegel zu schauen, auf ihrem Weg begleiten, zum kreativen Tun ermuntern und sie dort "abholen", wo ihre Fähigkeiten liegen. Sie weckt und fördert das Potenzial und die seelischen Selbstheilungskräfte des Menschen und sie kann somit behutsam neue Möglichkeiten für die Zukunft aufzeigen. Nichts spiegelt das eigene Sein konzentrierter, als der Akt des bewussten, kreativen Gestaltens. Im Malen oder Formen macht sich das Leben sichtbar, im Intonieren macht es sich hörbar, in der Bewegung fühlbar. Seite 15 von 75

1.4 Elemente und Wirkungsweisen der Kunsttherapie Jedem künstlerischem Medium können bestimmte Eigenschaften zugeordnet werden der immanente Charakter dieses Materials kann wiederum Aufschluss über die psychische Situation der Gestaltenden geben. Dies beginnt beispielsweise im Kreativatelier bei der Wahl des Papierformats braucht die Klientin viel Raum um ihre Ideen auf das Blatt zu bringen oder möchte sie sich am liebsten verkriechen und äußert sich ebenfalls in der Auswahl der Farben Acrylfarben zum Sich-darinsuhlen, oder kontrolliert mit Stiften arbeiten. Im gestalterischen Prozess - in der Verbindung des Mädchens mit dem gewählten Medium - werden Gefühle lebendig, sichtbar und somit zugänglich. Aus der Art und Weise, wie z.b. ein Pinsel in die Hand genommen wird (zögerlich/schnell, zielgerichtet/probierend,..), wie der Pinselstrich geführt wird (kraftvoll/zart, gerade/wellig,...) welche Farben wie ausgewählt und auf welche Weise aufgetragen werden, lassen sich für geschulte BegleiterInnen mögliche Rückschlüsse ziehen über die gelernten Beziehungsmuster der Klientin. Gleichzeitig wirkt das Material mit seinen Eigenschaften auf die Gestaltende zurück und ermöglicht somit z.b. das Nachholen bestimmter Erfahrungen (siehe anschließende Bilder aus Setting mit essgestörten Mädchen und Jugendlichen im LKT-Mödling während meines Praktikums). Seite 16 von 75

Besonders intensivierend auf Sinneserfahrungen wirken künstlerische Tätigkeiten mit haptischen Materialien: Tonarbeiten, Kollagen, Figuren aus Pappmaché, (z.b.: Nanas nach Niki de St. Phalle siehe dazu auch den Einband). Dabei kann einerseits über die Hände behutsam Kontakt zur Außenwelt aufgenommen werden und andererseits im Kontakt mit dem Material die Körpergrenze sehr stark wahrgenommen werden. (siehe nachfolgende Arbeiten/Atelier im LKT-Mödling) Speziell bei Essstörungen muss darauf geachtet werden, dass bei begreifbaren Materialien keinerlei eventuell essbare dabei sind: getrocknete Hülsenfrüchte, Kräuter, Gräser, Oblaten,... weil von Seite der Mädchen allem Verzehrbaren besonders ambivalente Gefühle entgegengebracht werden und dabei spielerisches Erfahren oft unmöglich wird. Auch soll die Wichtigkeit der Nahrungsmittel für das Leben aufgebaut, geachtet, betont werden, nicht deren Verwendung als Spielzeug oder Bastelware. Seite 17 von 75

Ein wichtiges Therapiewerkzeug ist die verbale, wie auch die visuelle Kommunikation zwischen KunsttherapeutIn und dem Mädchen. Erst in der Interaktion, in der Bezugnahme auf das künstlerische Werk dem teilbaren Dritten zwischen TherapeutIn und Klientin und einer Reflexion des Entstehungsprozesses, kann in vertrauensvoller Atmosphäre eine Tendenz für die innere Motivation erspürt werden. So kann das Unbewusste aus der Vergangenheit in Worte gefasst werden und als behutsame Annäherung an eine Vision für die Zukunft installiert werden (verbal oder medial). Mädchen mit Essstörungen haben vielfach eine gestörte Körperwahrnehmung und wollen oft gefallen. Aus diesem Grund muss in der direkten Interaktion von Seiten der KunsttherapeutInnen besonders auf die nonverbale Ausdrucksweise, auf die Mimik und auf die Gestik und auf die Reaktion der Augen geachtet werden. Erst in der nichtsprachlichen Kommunikation kann das Mädchen in seinen ureigensten Themen wahrgenommen werden, können seine seelischen Reaktionen erahnt werden seine Worte sind oft nur Ausdruck der Verwirrtheit, der Verunsicherung, der Lethargie und besonders in den Anfängen der Therapie wirklich nur Hülsen. Speziell die multimediale, intermediale und multimodale Kunsttherapie gibt diesbezüglich viele Möglichkeiten der nonverbalen Verdichtung und der Verstärkung, um die Essenz aus einem künstlerischen Prozess, aus einer Sinneserfahrung, aus einem Gefühl, in ein weiteres Medium zu transponieren und auf nichtsprachliche Weise weitere sensorische Erfahrungen zu machen, z.b.: Maskenarbeit mit anschließender Darstellung auf einer Bühne: (s.u./lkt-mödling) Seite 18 von 75

2. Teil: Essstörungen: Krankheitsbilder Ursachenforschung Therapieansätze Seite 19 von 75

2.1 Definition von Essstörungen Hat ein Mensch das Licht der Welt erblickt, ist er vom ersten Tag an auf Nahrungszufuhr angewiesen. Die essentielle Funktion der oralen Versorgung mit Essen ist unmittelbar gekoppelt an ebenso bedeutsame emotionale wie soziale Beziehungen, zunächst zu einer Primärperson - meist der Mutter - und im nächsten Umfeld zur Familie. Essen und gemeinsame Mahlzeiten bleiben im weiteren Leben ein wesentliches Medium von Beziehungsgestaltung. Die Bedeutung der familiären Tischgemeinschaft, eigene Regeln, Geschmacksausrichtungen, gemeinsame Vorlieben, die Atmosphäre bei Tisch bis hin zu Verboten und Machtausübung über das Essen vermittelt, bleiben als Muster für Kommunikation und Verhalten im weiteren Leben prägend. Der Mensch ist eine bio-psycho-soziale Einheit und nur in dieser Trias ist sein Verhalten und seine Befindlichkeit zu verstehen. Die Regulation des Essverhaltens wiederum ist ein äußerst komplexes psycho-physiologisches Geschehen und von weiteren soziokulturellen, ökonomischen und ökologischen Einflussfaktoren abhängig. Dieses wird erst evident, wenn in diesen sich immer wieder selbst anpassenden Mechanismen pathologische Störungen auftreten bis hin zum tödlichen Ausgang. Essstörungen haben in den letzten beiden Dekaden eklatant zugenommen und stellen mittlerweile einen Schwerpunkt in der stationären und ambulanten Behandlung psychogener und psychosomatischer Erkrankungen dar. Entsprechend zahlreich ist inzwischen die Anzahl von Veröffentlichungen zu diesem Thema (siehe in der Literaturliste präsentiert). Als Essstörung bezeichnet man eine Verhaltensstörung mit meist ernsthaften und langfristigen Gesundheitsschäden. Zentral ist die ständige gedankliche und emotionale Beschäftigung mit dem Thema Essen. Sie betrifft die Nahrungsaufnahme oder deren Verweigerung und hängt mit psychosozialen Störungen und mit der Einstellung zum eigenen Körper zusammen. Unbeschwertes Genießen, gesunder Appetit und Hunger sind nicht möglich. Essen ist verbunden mit Scham- und Schuldgefühlen, der Angst zuzunehmen und dem Empfinden, zu versagen. Nicht-Essen dagegen bedeutet Stolz, Unabhängigkeit und Macht. Das Seite 20 von 75

eigene Wohlbefinden wird von der Kontrolle des Essverhaltens abhängig gemacht. Das Essen ist vom Lebensmittel zum Lebensinhalt geworden. Es handelt sich dabei nicht um Ernährungsstörungen, die durch richtiges Essen gelöst werden können, vielmehr zeigen Essstörungen, dass die Betroffenen Probleme auf seelischer Ebene nicht verarbeiten können. Vielerorts sprechen ExpertInnen vom sogenannten Hunger nach Anerkennung, von einem "Hilferuf der Seele": - Wenn Wohlbefinden vom Körpergewicht abhängt... - Wenn Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl fehlt... - Wenn das Urteil der Außenwelt die Selbstachtung bestimmt... - Wenn Liebe durch Perfektion erkauft werden muss... - Wenn der eigene Körper ständig abgelehnt wird... Medizinisch handelt es sich meist um eine Störung der Energiebilanz: - Zu hohe Energiezufuhr bei zu geringem Energieverbrauch, z.b. durch mangelnde Bewegung, führt zu Übergewicht durch dauerhafte Plusbilanz. - Zu geringe Energiezufuhr bei relativ zu hohem Energieverbrauch führt zu Mangelernährung durch dauerhafte Minusbilanz. Bis Essstörungen im Stadium klinischer Manifestation diagnostiziert werden, zeigen in unserer Gesellschaft heute zahllose Menschen einen missbräuchlichen Umgang mit Essen und Nahrungsmitteln. Damit einhergehend ist vermehrt eine distanziert kritische Haltung dem eigenen Körper gegenüber bzw. eine gestörte Körperwahrnehmung zu beobachten. Dabei besteht eine breite Grauzone zwischen lediglich individuellen Eigenarten und Störungen von Krankheitswert. (Quelle: Suppenkaspar in Struwelpeter /Hoffmann) Seite 21 von 75

2.2 Geschichte der Essstörungen Die Legende der Heiligen Wilgefortis aus dem 10. Jahrhundert steht lt. Franz Renggli (Renggli, 1992) stellvertretend für viele andere. Es ist die Geschichte einer Tochter des Königs von Portugal, die einer Zwangshochzeit entkam, indem sie sich einer strengen Askese unterzog und kaum mehr Nahrung zu sich nahm. Gleichzeitig betete sie zu Gott und bat ihn, sie aller Schönheit zu berauben. Gott erhörte sie, ihr wuchs ein Bart und der Bräutigam zog sich zurück. Vom Vater daraufhin ans Kreuz geschlagen, betete sie, dass die Menschen,,der Passion gedenken, der alle Frauen unterworfen sind". Ab 1200 breitete sich die Geschichte der Heiligen Wilgefortis (lat.,,die starke Jungfrau") immer mehr aus und Frauen, die fasteten, wurden immer wieder als Heilige verehrt. Ungefähr 50% der Klosterfrauen des 13. Jahrhunderts zeigten anorektische Verhaltensmuster. Das weibliche Ideal der Religion hing eng mit der Nahrungsverweigerung zusammen. Katharina von Siena ist das bekannteste Beispiel einer Anorektikerin dieser Zeit. Um einer Heirat zu entkommen begann sie sehr früh zu fasten und verlor so ihre Weiblichkeit (Renglli, 1992). Im Fasten ist einer der grundlegenden Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Askese im Mittelalter zu suchen. Dieser Unterschied hängt eng mit den christlichen Lehren zusammen: - Mönche fasteten, um sich von außerkörperlichen Sünden zu befreien : Frauen fasteten, um sich von ihrem eigenen Körper zu befreien - Kaum ein Mönch fastete bis zum Tode : Der Tod wurde zum Ziel des weiblichen Fastens - Für Männer war das Klosterleben die Verweigerung der umgebenden Kultur : Für Frauen war das Klosterleben hingegen ein Ort der Befreiung, wo sie sich dem Sozialkodex (= Herrschaft des Mannes) entzogen, der unterwarf. Ab dem 14/15. Jahrhundert wurde das Fasten außerhalb der Klöster immer mehr verbreitet und die Kirche versuchte die Ausbreitung des Fastens zu verhindern. Doch nicht nur die Kirche, sondern auch die Medizin interessierte sich für das Fasten. Es Seite 22 von 75

ist auffallend, dass in medizinischen Schriften dieser Zeit ähnliche Merkmale beschrieben wurden, die auch beim Umgang mit der Anorexie in der Gegenwart ersichtlich sind (vgl. z.b. Wendt,1999) Bereits im 17. Jahrhundert, in dem ausladende Rundungen als Schönheitsideal galten, malte Peter Paul Rubens eine Magersüchtige, die vom englischen Arzt Richard Morton mit erstaunlich genauen Angaben der Symptome in seinem Werk Phthisiologia (1689) beschrieben wurde. So schildert Morton eine Form der Schwindsucht, in der weder Fieber noch Atemnot festzustellen sind, die vielmehr durch Appetitverlust und Verdauungsbeschwerden charakterisiert wird. Diese Form der Schwindsucht bezeichnet er als,,nervöse Atrophie". Als ihre Hauptmerkmale nennt er Appetitlosigkeit, extreme Abmagerung, Verstopfung, Amenorrhoe und Hyperaktivität. Außer einer Hypothermie vermag er keine pathologischen Symptome zu entdecken. Die Gleichgültigkeit der AnorektikerInnen gegenüber ihrem Zustand fällt ihm besonders auf. Er vermutet, dass die,,nervöse Auszehrung" aus Traurigkeit und ängstlichen Sorgen entstamme. Venus vor dem Spiegel" (1615) Rubens Liebeszauber (ca. 1400) unbekannt Seite 23 von 75

2.3 Ursachen für Essstörungen 2.3.1) Allgemeines Die Ursachen für Essstörungen sind immer multifaktorell zu sehen. Grundsätzlich darf man nachstehend genannte Beobachtungen, Untersuchungen und statistische Ergebnisse niemals auf Einzelfälle umwälzen. Vielmehr dienen diese Unterteilungen dafür, die Teilgebiete des menschlichen Lebens in der Bewertung und Behandlung von Essstörung jeweils gesondert betrachten zu können, um für jede KlientIn ein zugeschnittenes Gesamtbild zu erhalten. Obwohl es in der Ursachenforschung unzählige Statistiken, Bewertungen und Berechnungen gibt, möchte ich mein Augenmerk auf intrapersonelle Thematiken und deren Einflussfaktoren lenken, weil mir diese für die kunsttherapeutische Arbeitsweise am ehesten relevant erscheinen. Ein wichtiger Risikofaktor für die Entwicklung einer Essstörung sind neben familiären, persönlichen und biologischen Ursachen auch der gesellschaftliche Schlankheitsund Jugendkult. Bilder in den diversen Medien, die extreme Schlankheit propagieren, eine bestimmte Körperästhetik vermitteln und diese mit Anerkennung, Erfolg, Glück und Selbstwert verknüpfen, können fatale Folgen haben. Sich diesen - scheinbar Erfolg verheißenden - Idealen äußerlich anzunähern, wird schnell zur Lösungsstrategie für innere Konflikte. Die körperliche Erscheinung Je dünner, desto schöner wird eng mit psychischen Befindlichkeiten verbunden: Liebens-, begehrenswert und anerkannt zu sein. Dieser Gedanke kann den Weg in eine Essstörung ebnen. Die deutsch-amerikanische Psychoanalytikerin Hilde Bruch beschreibt Menschen mit Essstörungen als solche, "...für die das Essen die missbräuchliche Funktion hat, Probleme, die ansonsten unlösbar erscheinen, auf diese Art zu bewältigen. (Bruch, 1982) Die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper ist in westlichen Industrieländern eindeutig höher als in sogenannten Entwicklungsländern. Diäten sind als Hochrisikofaktor für die Entstehung von Essstörungen zu sehen. Diese werden mancherorts als eine Seuche der Neuzeit bezeichnet; als eine Krankheit der Überflussgesellschaft. Seite 24 von 75

2.3.2) Soziokulturelle Faktoren Diese werden durch Familie, Schule und Massenmedien vermittelt. Als wichtig für die Entstehung von Essstörungen gelten die folgenden Einflüsse: Schlankheitswahn Für den Einfluss soziokultureller Einflüsse spricht das relativ höhere Vorkommen von Essstörungen in der westlichen Welt gegenüber anderen Kulturkreisen. Durch die Globalisierung scheint aber auch hier ein Wandel im Sinne einer Ausbreitung des westlichen Schlankheitsideals stattzufinden. Das gesellschaftliche Ideal hinsichtlich Figur hat sich immer mehr in Richtung einer extremen Schlankheit gewandelt und ist für die meisten Frauen unerreichbar geworden. So werden die Models in Werbung und Mode immer dünner. Während in den siebziger Jahren zu Zeiten des legendären sogenannten Twiggytrends ein Model nur 8 % weniger als die durchschnittliche Frau wog, sind es heute 23 bis 35 % (Wimmer-Puchinger, 2004). Angesichts solcher Vorbilder wundert es nicht, wenn viele Mädchen und junge Frauen mit ihrer Figur nicht zufrieden sind. Umfragen zeigen laut "Tabula", der Zeitschrift der Schweizerischen Vereinigung für Ernährung (Nr. 3/Aug. 2006), dass die Hälfte der 14-19-Jährigen abnehmen möchte, obwohl die meisten von ihnen normalgewichtig sind. In Österreich verhält es sich sehr ähnlich: ca. 50% der 15-20-Jährigen sehen sich als zu dick (News 17/09)! Der Grund für den großen Einfluss dieses Schlankheitsideals wird darin gesehen, dass das von den Medien dargestellte Ideal vor allem bei Frauen an positive Attribute wie Attraktivität, Glück und Erfolg gekoppelt ist. Die Zeitschrift News berichtet in der Ausgabe 17/09 über den Kampf einiger Fachleute gegen Supermodel Heidi Klum und ihre Sendung: Germany s next Topmodel auf PRO 7. Dazu die Meinung von Dr. Beate Wimmer-Puchinger: (Wiener Frauenbeauftragte): Dieses Format reduziert das Frausein auf Aussehen und setzt unerreichbare und gefährliche Maßstäbe an der Grenze zur Untergewichtigkeit. Vermittelt somit die Botschaft: Wenn du dem nicht entsprichst bist du out. Seite 25 von 75

Entwicklungspsychologin Dr. Brigitte Rollett zu selbigem Thema in ebendieser Ausgabe: Diese Sendung schürt bei jungen Mädchen und Frauen den Irrglauben, Schlanksein, und dem Willen der Modelmacher angepasst sein allein genügt, um als Model zu reüssieren und ohne weitere Anstrengung reich und berühmt zu werden. Alice Schwarzer, Feministin der ersten Stunde und Emma -Gründerin (feminist. Frauenmagazin), nennt Heidi Klum s Sendung sogar menschenfeindlich und hat ihr den Titel Pascha des Monats verliehen (News 17/09). Ich persönlich schließe mich der ehemaligen Miss Österreich Christine Reiler (auch Arzttochter und Medizinstudentin) an, die via News 17/09 ausrichten lässt: Nicht die Sendung ist schuld daran, dass viele junge Mädchen in ihrer Körperwahrnehmung verunsichert werden und auf Kosten der Gesundheit und des Genusses, schön, schlank und erfolgreich sein wollen. Es sind die Medien! - dass diese so einen Einfluss auf die noch biegsamen Heranwachsenden haben, hat vielfältige Gründe. In welchem Ausmaß sich eine Person dem Schlankheitsideal beugt und den Kampf für eine bessere Figur als Kampf gegen den eigenen Körper aufnimmt, ist von mehreren Faktoren abhängig: Vorhandene Körperunzufriedenheit, eine Tendenz seinen Körper mit dem anderer zu vergleichen, depressive Verstimmung, geringes Selbstwertgefühl, Schwierigkeiten mit der eigenen Identität aus familiären, sozialen oder gesellschaftlichen Gründen. Familiäre Faktoren Die Entstehung von Essstörungen hängt heute laut der Mehrzahl der TherapeutInnen oft aber nicht immer mit gestörten Beziehungen in der Familie zusammen. Wichtig ist dabei: Keine Familie ist eine Idealfamilie, und in jeder Form des Zusammenlebens kommt es zu Fehlern und oft folgenreichen Verhaltensmustern. Daher sind die nachstehenden Beschreibungen keinesfalls als Negativurteile zu verstehen, sondern als wertfreie Bestandsaufnahme von möglichen Hintergründen, um Essstörungen besser zu verstehen. Eine eindimensionale Erklärung einer Essstörung durch familiäre Einflüsse ist nie zulässig - stets treffen mehrere Faktoren zusammen; auch dabei geht es nicht um Schuldzuweisung. An der Universitätsklinik Seite 26 von 75

Charitè in Berlin konnte man in Familienstudien ein gemeinsames genetisches Risiko für Anorexia und Bulimia nervosa feststellen: sie zeigen eine 7 12-fache Erhöhung der Prävalenz von Essstörungen bei Familienmitgliedern magersüchtiger und bulimischer Patienten. (www.kjp.charite.de/forschung/essstoerungen/neurobiologie) Veränderung der Frauenrolle Die gesellschaftliche Rolle der Frau war in den vergangenen Jahrzehnten einem ständigen Wandel unterworfen. Die ideale Frau von heute sieht sich einem zunehmenden Druck ausgesetzt, denn neben dem traditionellen Rollenbild der guten Mutter und Familienfrau sollen Frauen auch berufs- und karriereorientiert sein. Das Sich-behaupten im Berufsleben führt jedoch für Frauen unweigerlich zu einem Abweichen von Geschlechtsstereotypen und in weiterer Folge zu Spannungen, die zu massiven körperlichen und psychischen Belastungen führen können. Die soziale Umwelt ist heute zwar im Hinblick auf die Forderung zur Einhaltung der Geschlechterrollen toleranter, jedoch ist für die einzelne Person ungewiss, bis zu welchem Maß und in welchen Bereichen Abweichungen toleriert werden. Durch diese hohen und zum Teil widersprüchlichen Erwartungen der modernen Industriegesellschaft an die Erfüllung der Geschlechterrolle können im Einzelfall erhebliche Konflikte auftreten. Mehrere AutorInnen weisen darauf hin, dass gerade essgestörte Frauen sich sehr darum bemühen, all diese Rollenanforderungen zu erfüllen und die Essstörung der Preis für die Anstrengung und Überforderung sei. www.hml-modemarketing.de/uploads/pics/moderne-frau-farbe_01.jpg www.ariva.de/moderne_frau_a55186 Seite 27 von 75

2.3.3) Individuelle Faktoren und Persönlichkeitsfaktoren Allgemein gesehen zählen zu den individuellen Risikofaktoren folgende Merkmale: - Weibliches Geschlecht - Pubertätsphase - Niedriges Selbstwertgefühl - Starke Leistungsorientierung - Niedrige Frustrationstoleranz - Schlankes Schönheitsideal Dazu können im Einzelfall alle persönlichen Schwierigkeiten als individuelle Faktoren für die Entstehung einer Essstörung bedeutend sein, wenn sie das psychische Gleichgewicht der Person belasten, z.b.: Probleme in Familie, Partnerschaft, Schule, Arbeitsplatz, Verlust von Bezugspersonen oder Umzug, ) (Atelier/LKT-Mödling) Körperunzufriedenheit Bei Essstörungen ist der Körper der sichtbare Ort, an dem der oft weit in die Lebensgeschichte zurückreichende und unbewusst gebliebene seelische Konflikt ausgetragen wird. Die Wiener Initiative für Essstörungen machte zum 10- Jahresjubiläum 2008 eine Umfrage unter 2.800 Mädchen mit folgendem Ergebnis: 90% der Mädchen und 80% der Frauen sind mit ihren Körpermaßen unzufrieden 82% der Mädchen und Frauen haben Angst davor, zuzunehmen 84% der Mädchen und 80% der Frauen machen Selbstwert vom Gewicht abhängig 52% der Mädchen haben eine Diät gemacht ohne tatsächlich übergewichtig zu sein 15% der Mädchen erbrechen absichtlich um ihr Gewicht zu reduzieren 9% der Mädchen nehmen Abführmittel ein um ihr Gewicht zu reduzieren (http://www.essstoerungshotline.at/allgemeines/zahlenx_datenx_fakten/hxufigkeit.html) Seite 28 von 75

2.3.4) Biologische Faktoren Folgende biologische Faktoren unterstützen unter Einwirkung zusätzlicher Faktoren die Entwicklung einer Essstörung: (www.sowhat.at/downloads/alpbach_2006) Neurobiologische Veränderungen Der Hypothalamus ist eine spezifische Hirnregion, die für Hunger- und Sättigungsregulation im Körper verantwortlich ist. Daher können Dysfunktionen in diesem Bereich die Hunger- und Sättigungsregulation dadurch stören, dass verschiedene Hormone nicht mehr an Nahrungsaufnahme gekoppelt ausgeschüttet werden. Diese Störungen der Hormonherstellung führen nachfolgend zu Appetitlosigkeit oder gegenteilig zu Überessen und Heißhunger. Körperliche Faktoren Als Risikofaktor gilt ein biologisch höheres Gewicht bei normaler Nahrungsaufnahme, da ein höherer Body-Mass-Index, z.b. 19, häufiger mit einem negativeren Körperbild einhergeht. Grund dafür kann wiederum eine (auch mehrfach vererbte) Einschränkung des Fettstoffwechsels sein. Für die Betroffenen bedeutet dies, dass das angestrebte Schlankheitsideal nur durch eine deutliche Einschränkung der Nahrungszufuhr erreicht werden kann und damit die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung an einer Essstörung erhöht wird. Ernährungsphysiologische Faktoren Es gibt Hinweise darauf, dass Mütter mit Essstörungen ihre Kinder eher nach externen Zeitgebern gefüttert haben, anstatt auf die Hungersignale der Kinder zu achten. Die Hunger- und Sättigungswahrnehmung wird so möglicherweise gestört, so dass das Essverhalten weitgehend durch Auslösereize in der Umgebung (Verfügbarkeit von Nahrung) oder durch Kognitionen ( 12 Uhr - es ist Essenszeit") gesteuert wird. Durch die weggefallene Sättigungswahrnehmung ist das Risiko hoch, sich zu überessen und langfristig bei Vorhandensein weiterer Risikofaktoren eine Essanfallstörung zu entwickeln. Seite 29 von 75

2.3.5) Häufigkeit von Essstörungen 90 bis 97% der von Essstörung Betroffenen sind Mädchen und junge Frauen. Insgesamt geht man von über 200.000 Österreicherinnen aus, die zumindest einmal in ihrem Leben an einer Essstörung erkranken. Bezogen auf die österreichische Gesamtbevölkerung leiden an einem beliebigen Stichtag von allen 15-20jährigen Mädchen mindestens 2.500 Mädchen an einer Magersucht und über 5.000 Mädchen an einer anfänglichen Essstörung. Unter den 20-30jährigen Frauen findet man mindestens 6.500 Frauen mit Bulimie. Allein in Wien besteht für mehr als 2.000 Mädchen und rund 100 Burschen ein akutes Risiko, an Magersucht oder Bulimie zu erkranken. Bei den stationären Spitalsaufenthalten in Österreich ist eine deutliche Zunahme der Aufenthalte aufgrund von Essstörungen festzustellen. Im Jahr 1989 wurden 269 Personen (89% Frauen) registriert, im Jahr 2000 waren es 1.471 Spitalsaufenthalte. (Wr. Initiative für Essstörungen, 2004) ich will sein ich will nicht sein so wie ihr mich wollt ich will nicht ihr sein so wie ihr mich wollt ich will nicht sein wie ihr so wie ihr mich wollt ich will nicht sein wie ihr seid so wie ihr mich wollt ich will nicht sein wie ihr sein wollt so wie ihr mich wollt nicht wie ihr mich wollt wie ich sein will will ich sein nicht wie ihr mich wolltwie ich bin will ich sein nicht wie ihr mich wollt wie ich will ich sein nicht wie ihr mich wollt ich will ich sein nicht wie ihr mich wollt will ich sein ich will sein (Ernst Jandl) Seite 30 von 75

2.4 Erscheinungsformen von Essstörungen 2.4.1) Grundlegendes Im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association (DSM-IV; Diagnostisches und Statistisches Handbuch psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung) werden als Essstörungen derzeit definiert: (lt. DSM-IV-TR, Stand: März 2007) - Anorexia nervosa (Magersucht) - Bulimia nervosa (Ess- Brechsucht) - Binge - Eating - Disorder (Essstörung mit Fressanfällen) - Nicht näher bezeichnete Essstörung Die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-10- International Classification of Diseases, wichtigstes, weltweit anerkanntes Diagnoseklassifikationssystem der Medizin, herausgegeben von der WHO, Kap. 5, F50-F59) unterscheidet neben der Anorexia nervosa und Bulimia nervosa mit jeweils auch atypischen Formen weitere Differenzierungen: - Essattacken bei anderen psychischen Störungen - Erbrechen bei anderen psychischen Störungen - andere Essstörungen und - nicht näher bezeichnete Essstörungen. Adipositas (Fettsucht) wird nicht als psychische Erkrankung, sondern als chronische, körperliche Erkrankung gesehen oder ist assoziiert mit anderen psychischen Störungen. Die einzelnen Störungen sind nicht klar gegeneinander abgrenzbar, auch sind die Übergänge zwischen normal und krankhaft von vielen Faktoren abhängig. Oft wechseln die Betroffenen von einer Form zur anderen und die Merkmale gehen ineinander über und vermischen sich. In der letzten Dekade hat sich das Verständnis für die vielfältigen Ursachen und Einflussfaktoren sowie die Therapie der Essstörungen gewandelt. Seite 31 von 75

2.4.2) Anorexia Nervosa (lt. DSM-IV und ICD 10) 2.4.2.1) Charakteristik Die Anorexia nervosa (griech./lat.: etwa nervlich bedingte Appetitlosigkeit ) wurde erstmals 1873 von Ernest-Charles Lasègue auf der Basis von acht Fällen als einheitliches Krankheitsbild beschrieben. Dabei grenzte er die Symptome vom extremen Fasten ab. Bei Anorexia nervosa auch Magersucht genannt, handelt es sich um eine psychische Störung aus dem Bereich der seelisch bedingten Essstörungen, ist allerdings nicht gleichbedeutend mit dem Begriff Anorexie, welcher lediglich ganz allgemein eine Appetitlosigkeit beschreibt. Die Magersucht ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten oder aufrecht erhaltenen Gewichtsverlust charakterisiert. Durch Hungern und Kalorienzählen wird versucht, dem Körper möglichst wenig Nahrung zuzuführen. Die betroffene Person sieht dabei den eigenen körperlichen Zustand häufig nicht, sie empfindet sich als zu dick, auch noch mit extremem Untergewicht. Meist handelt es sich dabei um eine Körperschemastörung, wovon am häufigsten heranwachsende Mädchen und junge Frauen betroffen sind. Obwohl die Ursachen der Anorexia nervosa noch wenig fassbar sind, wächst die Überzeugung, dass vor allem eine Interaktion soziokultureller und biologischer Faktoren, sowie auch unspezifische psychologische Mechanismen und die Persönlichkeit eine Rolle spielen. Mit der Erkrankung ist eine Unterernährung unterschiedlichen Schweregrades verbunden, die sekundär zu Hormonschwankungen und Stoffwechselveränderungen, sowie anderen körperlichen Funktionsstörungen führt. (Quellen siehe Literaturverzeichnis) Seite 32 von 75

2.4.2.2) Diagnostische Leitlinien Tatsächliches Körpergewicht liegt mindestens 15 % unter dem erwarteten Gewicht oder Body-Mass-Index ist 17,5 und weniger. Bei Patienten in der Vorpubertät kann die erwartete Gewichtszunahme in der Wachstumsperiode ausbleiben Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch Vermeidung von hochkalorischen Speisen, sowie eine oder mehrere der folgenden Verhaltensweisen: - selbst induziertes Erbrechen - selbst induziertes Abführen - übertriebene körperliche Aktivitäten - Gebrauch von Appetitzüglern oder Diuretika Körperschema-Störung in Form einer spezifischen psychischen Störung; die Angst, zu dick zu werden, besteht als eine tief verwurzelte überwertige Idee, die Betroffenen legen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst fest. Hormonelle Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse, diese manifestiert sich bei Frauen als Amenorrhoe und bei Männern als Libido- und Potenzverlust. Erhöhte Wachstumshormon- und Kortisolspiegel, Veränderungen im Stoffwechsel, in der Schilddrüse und deren Aktivitäten und Störungen der Insulinsekretion können gleichfalls vorliegen. Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt (Wachstumsstopp, fehlende Brustentwicklung und primäre Amenorrhoe bei Mädchen; bei Knaben bleiben die Genitalien kindlich). Bei Nachlassen der erwähnten Krankheitssymptome wird die Pubertätsentwicklung meist normal abgeschlossen, die Menarche tritt später ein. Auf psychischer Ebene sind die Gedanken der Betroffenen eingeengt und kreisen lt. Alexa Franke (Franke, 2003) stets um die Themen Ernährung und Gewicht: Die Anorektikerin lehnt das Essen ab, beschäftigt sich aber mehr damit als die meisten Gourmets. Sie lehnt ihren Körper ab, konzentriert sich jedoch in all ihrem Denken und Handeln auf ihn. Seite 33 von 75

Für die Patientin ist die Magersucht in erster Linie eine Abwehr von Fremdbestimmung. Die Kontrolle über den eigenen Körper (z.b. durch Kalorien- Zählen) ist eine Form der Ohnmachtsbewältigung im Prozess der Adoleszenz. Magersucht ist fast immer nur ein Symptom eines tiefer liegenden psychischen und sozialen Problems, das behandelt werden muss. Eine Symptomtherapie beispielsweise mit Pharmazeutika ist niemals ausreichend. So steht auch das Schlankwerden oft nur am Anfang im Zentrum der Krankheit, die sich zunehmend verselbständigt und gerade von langjährig Betroffenen als Sucht erfahren wird. 2.4.2.3) Körperliche Folgeschäden - Absinken von Puls, Blutdruck und Körpertemperatur - Osteoporose mit erhöhtem Risiko von Frakturen - Herz- und Kreislaufprobleme, EKG-Veränderungen - Anämie, Hypoglykämie - Müdigkeit, Konzentrationsstörungen - Verstopfung und Darmträgheit - Brüchige Haare und Nägel, Zahnschäden - Flaumbehaarung an Rücken, Armen, Gesicht) - Einschränkung des Größenwachstums - Amenorrhoe, Unfruchtbarkeit - Verzögerte/eingeschränkte Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale - in schweren Fällen besteht Lebensgefahr (bis zu 15% der Erkrankten) 2.4.2.4) Diagnose Die Diagnose ergibt sich aus einem ausführlichen diagnostischen Interview, das offen oder mit Hilfe von Checklisten erfolgen kann. Im Anschluss daran erfolgen weitere Tests, z.b. ein EKG und ein Bluttest, um körperliche Begleiterscheinungen des Untergewichts zu erfassen. Besteht der Verdacht, dass andere Ursachen das Untergewicht verursacht haben, werden differentialdiagnostische Untersuchungen veranlasst. Zunächst ist die Anorexia nervosa von dem Symptom Anorexie abzugrenzen, das bei verschiedenen Erkrankungen auftreten kann. Eine genaue Abgrenzung verschiedener Essstörungen voneinander ist nur im therapeutischen Kontext, im Rahmen einer aktuellen Therapie und ihrer Seite 34 von 75