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Transkript:

Seite 36 Titel VIN 22 Dr. Gregor Gysi, Fraktionschef der Linken im Deutschen Bundestag V.I.N.: Guten Tag, Herr Dr. Gysi. Wir würden uns gerne mit Ihnen über Rassismus und Neonazis unterhalten. Was ist für Sie Rassismus? Können Sie das in drei Worten oder drei Sätzen definieren? G. Gysi: Das ist eine innere und auch äußere Ablehnung eines anderen Menschen, weil er ein anderes Aussehen hat, vielleicht auch eine andere Hautfarbe. Das bezieht sich also nicht auf die einzelne Person, wie sie ist, sondern auf alle, die zu dieser so genannten Rasse gehören. Entweder lerne ich einen Schwarzen kennen, der ist nett und hat einen anständigen Charakter, der ist freundlich den mag ich. Und dann lern ich einen kennen, der ist das überhaupt nicht. Und deswegen mag ich den nicht. Das wäre normal. Wenn ich aber sage, ich lehne sie ab, weil sie eine schwarze Hautfarbe haben, dann ist es Rassismus. V.I.N.: Waren die Menschen früher auch so rassistisch eingestellt? G. Gysi: Ja. Wenn dir etwas unheimlich ist, entwickelst du eine Abwehrhaltung. V.I.N.: Denken Sie, dass sich Rassismus in Deutschland noch weiter ausbreiten könnte? G. Gysi: Wir haben in Deutschland einen schweren Fehler gemacht, indem wir einer wirklichen Integration der so genannten Gastarbeiter und ihrer Familien bis heute hohe Hürden entgegenstellen. Wer eine rechtliche und soziale Gleichstellung für die meisten Migrantinnen und Migranten verhindert, wer ihre Kultur nicht als Bereicherung empfindet, bricht Ablehnung bis hin zum Rassismus nicht auf, sondern verstärkt dies noch. Und zugleich werden damit gewisse Abschottungstendenzen unter den Migrantinnen und Migranten befördert. Ich habe hier beim Türkischen Bund gesagt, ihr müsst eure Kinder in Kindertagesstätten schicken, damit die perfekt Deutsch können, wenn sie in die Schule kommen. Wenn sie das nicht können, haben sie sofort Bildungsnachteile. V.I.N.: Wir hören rassistischen Witze in der Schule. Dürfen wir über die eigentlich lachen? G. Gysi: Es gibt Witze, die überziehen, und die haben trotzdem was Nettes. Und dann gibt es richtig bösartige. Wenn man darüber lachen kann, stimmt schon was nicht. V.I.N.: Wir begegnen auch Äußerungen wie Scheiß-Türken oder Scheiß-Russen.

VIN 22 Titel Seite 37 G. Gysi: Rassismus oder Rechtsextremismus bietet die Chance, sich anderen Menschen überlegen zu fühlen, ohne etwas leisten zu müssen. Eine Jugendliche, die gut ist in der Schule, sich an Projekten beteiligt, die was leistet, die kann stolz auf sich sein. Das verlangen alle demokratischen Parteien. Der Rechtsextremismus sagt: Da du Deutscher bist, bist du mehr wert als alle Türkinnen und Türken, alle Polinnen und Polen, alle Russinnen und Russen. Du kannst stolz auf dich sein ohne jede Leistung. Das hat etwas Verführerisches, auch an Schulen. Du brauchst weder gute Noten noch soziale Akzeptanz in deiner Gruppe, aber du kannst dich überlegen fühlen, weil du ja angeblich der besseren Rasse angehörst. Der Rechtsextremismus bietet Selbstbewusstsein zum Nulltarif. V.I.N.: Rassismus ist für Dumme und Faule? G. Gysi: Es gibt einen Rassismus von schlichten Gemütern. Dahinter steckt der Wunsch, besser als andere zu sein. Es gibt einen Rassismus von Leuten, die sogar hochintelligent sind. Der ist kreuzgefährlich, aber nicht so häufig. V.I.N.: Warum haben die Ausländer so einen schlechten Ruf? G. Gysi: Das muss man eigentlich die fragen, die ihre Vorurteile in Bezug auf Ausländer pflegen. Schweden, die hier leben, haben ja keinen schlechten Ruf, weiße US-Amerikaner auch nicht. Aber schwarze. V.I.N.: Wir haben aber auch schon "Scheiß Deutsche" an den Kopf geschmissen bekommen. Woher kommen Vorurteile gegen Menschen, die anders sind? G. Gysi: Wenn du zu einer Gruppe gehörst, und du merkst, es gibt eine gewisse Abwehrhaltung gegen dich, dann organisierst du dich. Und dann begehst auch du Fehler. So steigert sich das Ganze dann. Die Frage ist immer, wie nehme ich jemanden auf oder wie lehne ich ihn ab. Wenn ich ihn ablehne, wird er sich in irgendeiner Form wehren. V.I.N.: Wie würden Sie uns Deutsche beschreiben? G. Gysi: Wir Deutschen fahren ja gerne ins Ausland und wollen, dass dort alles anders ist. Wir wollen es aber auch so gemütlich haben wie zuhause. Manchmal schätzt man das ja auch, wenn etwas anders ist, aber du willst das Andere nicht zuhause haben. Vielen ist Fremdes unheimlich. Mir nicht. Mich macht es neugierig.

Seite 38 Titel VIN 22 V.I.N.: Haben Sie persönlich schon mal einen Fall von Rassismus erlebt? G. Gysi: In Bezug auf mich, aber auch in Bezug auf andere. Wenn du in einer solchen Stadt wohnst, erlebst du das. Auch bei Mandantinnen und Mandanten, die dir als Anwalt von solchen schlimmen Erlebnissen erzählen. V.I.N.: Deutschland hat eine besondere Vergangenheit, was den Rassenwahn angeht. Ich habe Auschwitz gesehen. Wie kann man daraus nichts lernen? G. Gysi: Es gibt drei Momente. Erstens: Man schaut es sich nicht an, weil man damit gar nicht konfrontiert werden will. Zweitens: Jugendliche denken, das war im Mittelalter. Für die ist das so weit weg, das hat mit Hier und Heute nichts mehr zu tun. Drittens erleben sie Nationalismus in anderen Ländern und sagen: Wenn die das dürfen, warum dürfen wir das nicht? Aber die Holocaust-Verbrechen gab es nur in Deutschland. V.I.N.: Die NPD (Nationaldemokratische Partei Deutschlands) hetzt immer wieder mal gegen Ausländer. Muss man die verbieten? G. Gysi: Ich halte wenig von Parteiverboten, eine Gesellschaft muss Widersprüche aushalten. Die Ausnahme ist für mich die NPD. Die ist so militant neonazistisch organisiert, dass ich doch sage, die müsste durch das Bundesverfassungsgericht verboten werden. V.I.N.: Die Mitglieder der NPD kann man aber nicht verbieten. G. Gysi: Ein Verbot ändert nicht die Art, wie die Mitglieder denken, aber es schwächt die Organisation und es setzt Hemmschwellen. Wir sagen nach innen und nach außen, hier ist die Grenze überschritten. V.I.N.: Etwas gegen Ausländer haben, ist eine Sache. Deswegen Menschen zu töten, die man gar nicht kennt, ist etwas ganz anderes. Was geht in den Mördern vor? G. Gysi: Als ich Anfang der 90er Jahre Hass erlebt habe, habe ich nicht zurückgehasst. Deshalb überfordert das meine Fantasie. Nehmen wir die schreckliche NSU-Mordserie. Das Opfer steht in einer Döner-Bude, hat denen nie etwas getan, nie ein Wort mit ihnen gewechselt. Nichts. Und dann bringen sie ihn um, auf eine extrem feige Art. Sie bestellen irgendeinen Döner, der

VIN 22 Titel Seite 39 Mann dreht sich um, dann dreht er sich wieder zurück und wird erschossen. Und sie geben nicht mal zu, dass sie hinter der Tat stehen. Die haben keine Briefe veröffentlicht: Wir, der Nationalsozialistische Untergrund machen das, weil.denn sie sind ja froh darüber, dass die Polizei immer dachte, das Ganze sei ein innertürkisches Problem. V.I.N.: Können Sie uns erklären, wie so viel Hass entstehen kann? G. Gysi: Eigentlich nicht. Die haben sich offenbar blind darauf konzentriert, in Migranten die Wurzel allen Übels zu sehen, haben nichts anderes angesehen, nichts anderes gelesen, es wahrscheinlich sogar als Heldentat empfunden, ihre Opfer umzubringen. Die beiden, die die Taten begangen haben sollen, haben sich gegenseitig erschossen oder selbst, ist mir ehrlich gesagt wurst. Auf jeden Fall kann man sie danach nicht befragen. Aber ich weiß, dass so ein Hass tief sitzen kann. Ich glaube, er hat was damit zu tun, dass du ahnst, dass du selber nicht viel wert bist. V.I.N.: Ist es Zufall, dass die Opfer mit einer Ausnahme türkische Geschäftsleute waren? G. Gysi: Zwei Ausnahmen die Polizistin und ein Grieche. Nein, das ist kein Zufall. Das ist die Gruppe, auf die sich der Rassismus in Deutschland in besonderer Weise konzentriert. V.I.N.: Ist die normale Polizei mit einer solchen Mordserie überfordert? G. Gysi: Nein, die Polizei darf damit nicht überfordert sein. Es ist ihre Aufgabe, das zu ermitteln und aufzuklären. Sie hätte ernsthaft in alle Richtungen ermitteln, also gerade auch von einem möglichen rassistischen Hintergrund ausgehen müssen, dann wäre sie auch viel erfolgreicher gewesen. Dass man da nicht darauf gekommen ist, das sagt wirklich sehr viel über die Schwäche unserer Polizei und unseres Verfassungsschutzes aus. V.I.N.: Der erste Mord geschah im September 2000 in Nürnberg. Bis zum November 2011 tappte der Verfassungsschutz im Dunkeln. Wie ist das möglich? G. Gysi: Versuch mal, anständige Leute zu gewinnen, die sich verdeckt in die Neonazi-Szene begeben, um Informationen zu liefern. Aber das versucht der Verfassungsschutz erst gar nicht. Die gewinnen Neonazis, und zwar bei ihrer Schwäche: Die meisten brauchen Geld. Deshalb ist das so eine Kaufmich-Beziehung. Du erfährst nur das, was die wollen. Und es scheint offenbar zumindest Einzelne im Verfassungsschutz mit einer Nähe zu den Neonazis zu geben, wenn ich an den so genannten kleinen Adolf in Hessen denke. Jetzt ist ja gerade herausgekommen, dass die vom Verfassungsschutz vor Hausdurchsuchungen gewarnt wurden. Ich bitte euch! Man müsste dem Verfassungsschutz mal das Grundgesetz beibringen. V.I.N.: Vielleicht haben die ja auch zu wenig Leute. Was sagen Sie eigentlich dazu, dass der Verfassungsschutz ihre Partei beobachtet?

Seite 40 Titel VIN 22 G. Gysi: 1990 hätte ich dafür vielleicht noch ein begrenztes Verständnis gehabt. Wir kamen ja aus der DDR und die wussten nicht, was wir für ein Haufen sind. Aber nach drei Jahren wussten die, dass wir keine Autos anzünden und hätten das einstellen müssen. Deshalb klagen wir jetzt vorm Bundesverfassungsgericht gegen die Beobachtung. V.I.N.: Die Toten und ihre Familien wurden immer wieder verdächtigt, mit Drogen oder einer türkischen Mafia zu tun zu haben. Was bedeutet das für die Angehörigen? G. Gysi: Ich nehme mal einen Fall in Nürnberg. Der Mann hatte eine Döner-Bude neben einem Supermarkt. Am nächsten Tag stand in einer groß bebilderten Zeitung, dass er wahrscheinlich Rauschgift an Schülerinnen und Schüler verkauft hat. Da ist eine Ehefrau, da ist ein Sohn, die haben nie was davon gehört. Der Mann, der Vater ist tot und der Supermarkt schreibt der Frau, dass sie die Döner-Bude schließen muss, wenn Rauschgift an Kinder verkauft worden ist. Es stimmte nichts. Aber so stand es in der Zeitung. V.I.N.: Nachdem der wahre Hintergrund aufgedeckt war, gab es eine Gedenkfeier. Angela Merkel sprach von einer Schande für unser Land. Hat sie recht? G. Gysi: Natürlich. Die Schande ist ja nicht nur, dass solche Verbrechen passieren, sondern dass sie jahrelang nicht aufgeklärt werden. Warum waren wir zehn Jahre lang nicht in der Lage zu ermitteln, dass es ein rechtsextremer Hintergrund ist? Wenn es Informationen gab beim Verfassungsschutz, warum landeten die nicht bei der Polizei? Ich finde das skandalös. V.I.N.: Was wird denn eigentlich wirklich für die Familien der Opfer getan? G. Gysi: Es gibt einen Sonderfonds. Wir haben allen geraten, das zu beantragen und ich habe gesagt, wenn sie nichts kriegen, sollen sie sich an mich wenden. Dann hake ich nach beim Ministerium. Ich würde ja auch an den Geschäftsführer der groß bebilderten Zeitung schreiben meine Mandantin, also diese Frau, musste 30.000 Euro zahlen, dafür dass die Döner-Bude wegkommt. Nur wegen der falschen Beschuldigung. Egal, wie die Verjährung ist, ich denke, er würde bezahlen. Das ist auch nötig. Man muss Verantwortung übernehmen, wenn man richtigen Mist geschrieben hat. V.I.N.: Wie würden Sie sich als Vater eines Opfers verhalten? G. Gysi: Das weiß ich nicht. Ich will mir das auch nicht vorstellen. Ich würde sehr irrati onal reagieren und Dinge machen, die ich eigentlich ablehne. Deshalb ist es auch richtig, dass der Vater eines Opfers nicht der Richter sein darf. Ich müsste meine Fantasie zwingen ich wehre mich gegen die Frage.

VIN 22 Titel Seite 41 V.I.N.: Die drei Täter Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe kommen aus den Neuen Bundesländern. Warum gibt es ausgerechnet im Osten so viele Neonazis? Bis vor 20 Jahren gab es dort keine Türken und offiziell keine Nazis? G. Gysi: Ja, wisst ihr Antisemitismus funktioniert ohne Juden, Antikommunismus ohne Kommunisten warum nicht auch Ausländerfeindlichkeit ohne Ausländer? Aber das ist schon ein Phänomen. Die Anführer der Neonazis kommen aus dem Westen, und das Fußvolk stellt der Osten. Das hängt damit zusammen, dass sich gerade ostdeutsche Jugendliche als Deutsche zweiter Klasse fühlen. Dann brauchen sie Menschen, die nach ihrer Auffassung Menschen dritter Klasse sind, um sich selber wieder zu erheben. Hinzu kommt, dass die Neonazi-Struktur etwas anbietet. Es gibt einen Anführer, der sagt, was du zu machen hast. Er stellt dir auch einen Verteidiger, wenn du in Untersuchungshaft bist. Das reizt viele Jugendliche. Sie müssen nicht selbst nachdenken. Sie haben einen Chef, der das macht, und der hilft ihnen auch. V.I.N.: Warum spielen in der Szene Frauen wie Beate Zschäpe so eine aktive Rolle? G. Gysi: Es gibt auch den weiblichen Rassismus. Aber der ist sehr viel seltener als der männliche. V.I.N.: Zwei der Mörder sind tot. Was macht man jetzt am besten mit Beate Zschäpe? G. Gysi: Die muss natürlich ein rechtsstaatliches Verfahren bekommen und gerecht verurteilt werden. Ich bin ja auch Anwalt. Dazu muss man die Akten studieren, die ich nicht kenne, und je nach dem Umfang ihrer Schuld muss sie zur Verantwortung gezogen werden. V.I.N.: Gehören die Themen "Rassismus" und "Jugendkriminalität" zusammen? G. Gysi: Nein. Rassismus gäbe es bei den Jugendlichen gar nicht, wenn der Rassismus nicht aus der Mitte der Gesellschaft käme. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sagen, das ist ein Jugendproblem. Das stimmt auch gar nicht. Es ist ein Problem der Gesellschaft. V.I.N.: Was hätte die Politik eigentlich tun können, damit sich so etwas nicht entwickelt? G. Gysi: Man muss den Rassismus in unserer Gesellschaft bekämpfen und eine völlig andere Integrationspolitik machen. Man muss dafür sorgen, dass auch die Türkischstämmigen genauso Ärztinnen und Mathematiker, Facharbeiterinnen und Meister werden. Es wird Zeit, dass wir das alle begreifen. Und man darf gegenüber Rassismus nicht tolerant sein. Sonst bin ich sehr für Toleranz, aber hier ist das Ende der Fahnenstange erreicht. V.I.N.: Hat Ihre Partei die ja in den Neuen Bundesländern sehr stark ist auch etwas versäumt?

Seite 42 Titel VIN 22 G. Gysi: Meine Partei hat sich aus ganzen Gegenden, wo wir stimmenmäßig schwach wurden, zurückgezogen. Das habe ich immer kritisiert. Gerade dort müssen wir hingehen. Dort entsteht ja Rassismus. Ich habe ein Dorf besucht, da wohnen nur Neonazis mit Ausnahme von zwei Leuten. Die machen immer so ein Toleranzfest und dann werden ihre Gäste noch geschlagen. Wenn ich da hingehe, hab ich Begleitung von 20 Medien und Polizei, mir kann da nichts passieren. Aber was macht denn jetzt jemand, der diesen ganzen Schutz nicht hat? V.I.N.: Welche Folgen muss dieser Fall haben? G. Gysi: Wir müssen Gesetze verändern. In den USA sind sie viel genauer. Wenn ein Mensch dort einen Raubüberfall begangen hat, darfst du nicht schreiben, dass es ein Schwarzer war. Es gibt keinen Grund darauf hinzuweisen. Es muss einen sachlichen Zusammenhang geben. Wenn nicht, dann zahlst du Strafe als Zeitung. So etwas gibt es in Deutschland gar nicht. Zum Beispiel gab es vor vielen Jahren eine interessante Meldung. Da hieß es in der Tagesschau immer, dass ein jüdischer Millionär entführt wurde. Dann hat sich der Zentralrat der Juden beschwert: Sagt ihr dann auch christlicher Millionär? Welchen Glauben der hat, ist doch völlig irrelevant! Wichtig ist auch, dass die Wirtschaft den Rassismus nicht unterstützt. Aber es gibt eben leider auch Unternehmen, die an die Republikaner spenden. Und auch die NPD hat Spender. V.I.N.: Besser wäre aber doch, Raubüberfälle, Entführungen und Rassismus von vorn herein zu verhindern? G. Gysi: Wir brauchen eine Bildungsoffensive. Ich möchte Chancengleichheit der Kinder. Ich möchte nicht, dass sie nach der Grundschule getrennt werden, das ist völlig falsch. Ich möchte, dass sie so lange wie möglich gemeinsam zur Schule gehen. Lernen ist auch soziales Lernen, auch im Umgang mit Kindern anderer Herkunft. Das gehört alles dazu. Dass es 16 Schulsysteme in Deutschland gibt, weil wir 16 Bundesländer sind das passt zum 19. Jahrhundert. V.I.N.: Was tut ihre eigene Partei, also die Linke? G. Gysi: Wir haben Leute in Bildungseinrichtungen, die dagegen kämpfen. Zweitens machen wir Demonstrationen gegen die Neonazis, drittens unterstützen wir alle Forschungen dagegen, wir unterstützen Initiativen. Wir machen da schon eine Menge. Ich hoffe, wenn ihr in meinem Alter seid, dass es Rassismus dann nicht mehr gibt. Aber ich befürchte, es gibt ihn noch. V.I.N.: Was können wir tun?

VIN 22 Titel Seite 43 G. Gysi: Ihr seid als Mädchen besonders gefordert. Meistens geht das von Jungs aus und ihr habt Einfluss auf die Jungs. Ihr müsst ihnen das ausreden. Ihr müsst ihnen klarmachen, dass ihre Chancen bei Mädchen viel schlechter werden, wenn sie rassistisch sind. Das ist zwar ein bisschen unfair, wenn ich an euch Anforderungen stelle. Ich würde das auch von den Jungs verlangen, aber ihr seid diesbezüglich wirksamer. Das müsst ihr wissen und das müsst ihr nützen. Man muss sich schon in der Schule dafür einsetzen. Man muss lernen, sich auseinanderzusetzen V.I.N.: Was passiert, wenn wir den Rassismus nicht wirksam bekämpfen können? G. Gysi: Dann hast du eine Gewalteskalation, wie wir sie erlebt haben bei diesen zehn Morden. Das ist verheerend für eine Gesellschaft, zerstörerisch. V.I.N.: Ihre Partei hat die Nazi-Jägerin Beate Klarsfeld als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten nominiert. Bis heute gibt es Diskussionen, ob sie das Bundesverdienstkreuz erhalten soll. Wäre das nicht Zeit? G. Gysi: Mehr als Zeit. Sie hat die höchsten Auszeichnungen in Israel, Frankreich und den USA. Nur in Deutschland hat sie nicht eine einzige Auszeichnung. Wir haben das jetzt wieder beantragt. Mal sehen, vielleicht gibt sich die deutsche Politik mal einen Ruck, obwohl sie mal einen Bundeskanzler geohrfeigt hat, der seine Nazi-Vergangenheit kleinreden wollte. Sie hat uns wachgerüttelt und für das Ansehen Deutschlands viel getan. Sie ist ja nicht jüdisch und hat sich trotzdem so dafür engagiert, dass viele in Frankreich und in anderen Ländern sagen: Guck mal, solche Deutsche gibt s auch. V.I.N.: Wir danken Ihnen für das Gespräch. G. Gysi: Dann wünsch ich euch alles Gute. Schaut euch Berlin an, das ist ne spannende Stadt. Mit Gregor Gysi sprachen Laura Dilling und Franziska Deinzer in seinem Abgeordnetenbüro in Berlin