Seite 3 Arthur Conan Doyle Der Baumeister von Norwood Sechs Sherlock-Holmes-Geschichten Anaconda
Seite 4 Der Baumeister von Norwood folgt der Ausgabe Conan Doyle: Der Baumeister von Norwood und andere Geschichten. Aus dem Englischen übersetzt von Rudolf Lautenbach und Adolf Gleiner. Berlin: Neufeld & Henius [1930]. Der Daumen des Ingenieurs, Die»Gloria Scott«[Holmes erstes Abenteuer], Der Marinevertrag, Die tanzenden Männchen und Der sterbende Detektiv [Der sterbende Sherlock Holmes] sind dem Band Conan Doyle: Der blaue Karfunkel (Übersetzung anonym), München: Droemersche Verlagsanstalt 1949 entnommen. Der Text wurde behutsam modernisiert, Orthografie und Zeichensetzung folgen der neuen deutschen Rechtschreibung. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2012 Anaconda Verlag GmbH, Köln Alle Rechte vorbehalten. Umschlagmotiv: Jonathan Barry,»Well Done Watson«(2009), Private Collection / bridgemanart.com Umschlaggestaltung: agilmedien, Köln Satz und Layout: paquémedia, Ebergötzen Printed in Czech Republic 2012 ISBN 978-3-86647-797-1 www.anacondaverlag.de info@anacondaverlag.de
Seite 5 Inhalt 7 28 Die»Gloria Scott«50 Der Marinevertrag 85 Der Baumeister von Norwood 112 Die tanzenden Männchen 141 Der sterbende Detektiv 5
Seite 7 Von all den schwierigen Kriminalfällen, die meinem Freund Sherlock Holmes zur Lösung übertragen wurden, erhielt er nur zwei durch meine Vermittlung. Einer davon betraf Hatherleys Daumen. Wenn sich auch das großartige Kombinationstalent meines Freundes, dem er so wunderbare Erfolge zu verdanken hatte, hierbei weniger entfalten konnte, so fing diese Aufgabe doch so toll an und verlief so dramatisch, dass sie mir wohl der Aufzeichnung wert erscheint. Jedenfalls hat sich der tiefe Eindruck, den ich damals erhielt, noch heute, nach zwei Jahren, kaum abgeschwächt. Es war an einem Sommertag. Ein Bahnbeamter, den ich bei einem Unfall behandelt hatte, verkündete mein Lob in allen Tonarten und hätte mir am liebsten jeden Patienten geschickt, dessen er nur habhaft werden konnte. Eines Morgens, kurz vor sieben, wurde mir gemeldet, dass eben jener Bahnbeamte mit einem anderen, offenbar verletzten Herrn gekommen sei, um mich zu sprechen. Ich eilte die Treppe hinunter, da ich vermutete, es könne sich wieder um einen Eisenbahnunfall handeln, bei dem rasche Hilfe notwendig sei. Mein alter Freund kam mir vor dem Zimmer schon entgegen.»ich hab ihn hergebracht«, flüsterte er, mit dem Daumen über die Schulter deutend,»den hätten wir sicher.was fehlt ihm denn?«, fragte ich, denn das sonderbare Benehmen des Bahnbeamten verriet mir, dass es eine ganz besondere Bewandtnis mit dem Verletzten haben musste, den er so sorglich in mein Zimmer gesperrt hatte.»es ist ein neuer Patient«, raunte er mir in seiner treuherzigen Art leise zu.»ich hielt es für schlauer, ihn gleich selbst herzubringen, so konnte er mir nicht mehr entwischen. Nun kann er nicht mehr weg. Aber jetzt muss ich gehen, Doktor, die Pflicht ruft.«und fort war er, ehe ich noch Zeit gefunden hatte, ihm für diese gutgemeinte Belebung meiner gar nicht beabsichtigten Praxis zu danken. 7
Seite 8 Im Empfangszimmer fand ich einen Herrn am Tisch sitzen, der einen schlichten, bräunlichen Anzug trug, seine einfache Tuchmütze hatte er auf die dort ausgelegten Bücher gelegt. Eine seiner Hände war in ein völlig mit Blut durchtränktes Taschentuch gewickelt. Er war vielleicht 25 Jahre alt; sein Gesicht war ernst und männlich, aber so bleich, dass es mir den Eindruck machte, als wenn er eben eine schwere Nervenerschütterung durchgemacht hätte, die er trotz aller Anstrengung noch nicht überwinden konnte.»verzeihen Sie die frühe Störung, Herr Doktor«, sagte er,»ich habe in dieser Nacht einen ernsten Unfall gehabt. Ich kam heute Morgen mit dem Zug hier an und erkundigte mich bei einem Bahnbeamten, wo ich einen Arzt finden könnte. Dieser Herr hatte die Güte, mich hierher zu begleiten. Ich übergab dem Mädchen meine Karte, doch wie ich sehe, liegt sie noch dort auf dem Tischchen.«Ich nahm sie auf und las Victor Hatherley, Ingenieur, Victoria Street 16a III. Das war also Name, Beruf und Wohnung meines Morgenbesuches. Dann setzte ich mich zu ihm.»sie sind also die Nacht durchgefahren?«, fragte ich.»das ist gewöhnlich recht ermüdend und langweilig.oh, in diesem Fall trifft das nicht zu«, sagte er, und dann lachte er so laut und gellend, dass er sich im Stuhl zurückwarf und sich die Seiten halten musste. Es lag etwas Krankhaftes in dieser übertriebenen Heiterkeit, das erkannte ich sofort.»hören Sie auf«, rief ich,»nehmen Sie sich doch zusammen!«er hatte einen regelrechten hysterischen Anfall, wie er zuweilen bei sehr starken Naturen vorkommt, die eine große Aufregung hinter sich haben. Erst allmählich beruhigte er sich, und nun wurde er dunkelrot vor Verlegenheit.»Ich habe mich schön lächerlich gemacht vor Ihnen«, keuchte er.»durchaus nicht. Bitte, nehmen Sie.«Ich gab ihm etwas Kognak mit Wasser zu trinken.»das tut wohl«, sagte er.»und nun haben Sie vielleicht die Güte, Herr Doktor, und sehen sich einmal meinen Daumen an oder vielmehr die Stelle, wo er gesessen hat.«er band das Tuch ab und hielt mir die Hand entgegen, deren Anblick selbst mich erschütterte. Neben den vier ausgestreckten Fingern war statt des 8