Mathias Jeschke / Katja Gehrmann (Illustration) Flaschenpost Hinstorff Verlag Rostock 2009 ISBN 978-3-356-01295-8



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Transkript:

Mathias Jeschke / Katja Gehrmann (Illustration) Flaschenpost Hinstorff Verlag Rostock 2009 ISBN 978-3-356-01295-8 Textauszug S. 1-32 2009 Hinstorff Verlag, Rostock

Mit meinem Großvater auf der Ilmenau. Naja, so richtig große Seefahrt war das noch nicht, aber besser als an Omis Kaffeetafel bei Windbeuteln und Liebesknochen sitzen zu müssen. Auf den Landungsbrücken mit meinem Vater. Da pfiffen mir die Winde der Sieben Meere um die Ohren. Die vordere Spitze des Schiffes heißt Bug, das hintere Ende Heck. Die rechte Seite heißt Steuerbord, die linke Backbord. Das ist leicht zu merken: Steuerbord mit einem R wie rechts und Backbord mit einem K wie in links. Als ich mit der Schule fertig war, schulterte ich meinen Seesack und ging an Bord eines großen Schiffes. 1

Samuel Morse hieß der Mann, der sich eine Zeichensprache ausgedacht hat, aus der das Morsen entstanden ist. Es besteht aus zwei Zeichen: einem kurzen und einem langen. Für jeden Buchstaben des Alphabets und für jede Zahl gibt es ein Morsezeichen aus kurzen und langen Blinks. Eine Klappenbuchse ist eine kräftige Lampe, mit der man in dieser Zeichensprache von Schiff zu Schiff weit über das Meer blinken kann. Ich morste mit der Klappenbuchse Lichtzeichen durch die Nacht. Am Tag hisste ich Flaggensignale. Wir fuhren zwischen Hammerfest und Casablanca, den Äußeren Hebriden und Bornholm. Jauchzend stand ich im Bug des Schiffes. Der scharfe Wind verschlug mir den Atem. Aber mein Herz, das jubelte. An einem Tag im Mai vor über 20 Jahren verließen wir den Hafen von Bergen im Süden Norwegens und schipperten hinaus aufs Meer. Eine Schule Tümmler war uns immer knapp voraus. Ich schrieb einen freundlichen, kleinen Brief. Den versah ich mit meiner Adresse, steckte ihn in eine eben ausgetrunkene 0,3l-Cola-Flasche, schraubte sie zu und versiegelte den Deckel mit heißem Kerzenwachs. Ich nahm die Flaschenpost und warf sie aus reinem Übermut über Bord. Immerhin war ich ja nicht in Seenot oder saß auf einer einsamen Insel und wartete auf Rettung. Da ging die große Reise los. S.O.S. ist die Abkürzung für das englische Save our souls! Das heißt: Rettet unser Leben! Die Morsezeichen für S.O.S. sind: drei kurze Blinks, drei lange und dann wieder drei kurze. 2

Oder als hörbares Signal per Funk: Dididi daadaadaa dididi. Bald danach verließ ich das Schiff und ging an die Universität Es gibt eine kleine Insel im Norden Norwegens, die heißt Bolga. Sie liegt über dem nördlichen Polarkreis. Über dem nördlichen Polarkreis geht die Sonne im Sommer nachts nicht unter, es wird kaum dunkel. Das ist der Polartag. Und im Winter, in der Polarnacht, ist die Sonne fast nicht zu sehen. Zwei Jahre nachdem die Flaschenpost ins Meer geflogen war, bekam auf der Insel Bolga die Frau des Fischers Bjarne Laurids Johansen ihr fünftes Kind. Es war ein Junge und die Eltern nannten ihn Marius Alexander. Ich büffelte währenddessen tote Sprachen. Latein, Alt-Griechisch und das biblische Hebräisch sind Sprachen, die in keinem Land der Welt mehr gesprochen werden. Deswegen nennt man sie auch tote Sprachen. Trotzdem gibt es Menschen, die diese Sprachen lernen, um sehr alte Texte lesen zu können. Auf der Insel Bolga lebten jetzt 150 Menschen. Der kleine Marius war einer von ihnen. 3

Tag für Tag fuhr der Vater von Marius mit seinem Fischkutter hinaus aufs Meer. Als Marius sechs Jahre alt war, bekam er von seinen Eltern ein Boot geschenkt. Ein Boot mit einem richtigen Außenbordmotor! Es war herrlich, über das Meer zu fahren. Die Wellen klatschten gegen das Boot, die Möwen kreischten. 4

Ein Außenbordmotor ist ein kleiner, tragbarer Motor, den man am Heck eines Bootes anbringen kann. Wenn der Motor gestartet ist, treibt die Schraube das Boot vorwärts. Mit der Pinne, an der sich der Gashebel befindet, kann man die Geschwindigkeit bestimmen und das Boot steuern. Wenn Marius nicht mit dem Boot unterwegs war, suchte er bei Ebbe am Strand nach Sachen. So auch an einem kalten Februarmorgen. Er war inzwischen neun Jahre alt. In der Nacht schwemmt das Meer die tollsten Dinge an, Versteinerungen und Schätze aus versunkenen Schiffen und so.»da ist doch was!«, dachte Marius. Schon als er seinen Arm nach der Flasche ausstreckte, sah er die Papierrolle, die darin steckte. Marius zerschlug die Flasche auf den Steinen. Als er den Zettel entrollt hatte, bekam er ziemlich große Augen. Der Mond bestimmt die Gezeiten des Meeres: Ebbe und Flut. Bei Ebbe sinkt der Wasserspiegel, das Meer zieht sich von der Küste zurück. Bei Flut steigt das Wasser wieder, Strand und Küstenfelsen werden überspült. 5

Wie der Wind rannte Marius zu John Erik, das war sein bester Freund.»Guck dir das mal an!«, schrie er schon von Weitem. John Erik konnte es kaum glauben. Marius tippte mit dem Finger auf die Jahreszahl:»Wenn das stimmt, dann ist dieser Brief vor elf Jahren geschrieben worden!das muss ich meinen Eltern zeigen!«, rief Marius. Sie stürmten ins Haus. Als sie erzählen wollten, was passiert war, purzelten ihre Worte übereinander wie die rollenden Wellen am Strand. Der Vater schlug sich immer wieder auf die Schenkel und sagte:»sowas aber auch!«und die Mutter rief noch am selben Abend bei der Zeitung an. Zwei Tage später stand ein Bericht in der Zeitung:»Uralte Flaschenpost gefunden«. Es war ein Foto von Marius dabei. Er lächelt und hält meinen Brief vor die Kamera. Die Freunde von Marius Vater, die anderen Fischer auf der Insel, konnten sich gar nicht wieder einkriegen und redeten noch tagelang über den tollen Fang, den der Junge da gemacht hatte. Etwa zwei Wochen später bekam ich einen Brief von der deutschen Botschaft in Oslo, das ist die Hauptstadt von Norwegen. 6

Ich überlegte, ob ich etwas falsch gemacht hatte. War ich einem Norweger auf die Füße getreten? In all den Jahren war ich zig-mal umgezogen. Aber die Botschaft in Oslo hatte mich unter meiner neuen Adresse am alten Hafen in Rostock ausfindig machen können. Als ich den Umschlag öffnete, fand ich eine Postkarte von Marius. Er schrieb mir, dass er meine Flaschenpost gefunden hatte. Es war die Kopie meines elf Jahren alten Briefes dabei. Ich brauchte etwa siebeneinhalb Stunden, bis ich kapierte, was ich da las. Meine kleine Flasche war die Küste des langen Landes Norwegen hinaufgewandert. Ganz allein! Der Golfstrom hatte sie mitgenommen. Elf Jahre hatte das gedauert! Als die Flasche begann, auf den Wellen zu wandern, war ich nicht mehr klein, aber ich war noch sehr jung. Doch Marius, der war da noch nicht einmal auf der Welt. Der Golfstrom ist wie ein riesiger, langer Fluss mitten im Meer. Er kommt von Südamerika und sucht sich seinen Weg durch den Atlantischen Ozean bis zu uns nach Europa. Ganz zum Schluss, kurz bevor der Golfstrom seine Kraft verliert, fließt er dann noch die norwegische Küste hinauf. In meinem Brief vom 7. Mai 1986 hatte ich die Position des Schiffes aufgeschrieben: 61 Grad 34 Minuten nördlicher Breite, 4 Grad 4 Minuten östlicher Länge. Marius hatte mir am 9. Februar 1997 zurückgeschrieben, wo er meine Nachricht gefunden hatte: 66 Grad 48 Minuten nördlicher Breite, 13 Grad 14 Minuten östlicher Länge. Damit Seeleute immer wissen, wo sie sind, wurde die ganze Erdkugel in ein Netz aus Breiten- und Längengraden eingeteilt. Das ist natürlich vor allem auf dem Meer hilfreich, denn dort gibt es ja keine besonderen Punkte in der Landschaft, um sich zurechtzufinden. Ich hatte eine Flaschenpost ins Meer geworfen. Marius hatte sie gefunden und mir zurückgeschrieben. Zwischendrin waren ein paar Jahre vergangen. Vielleicht sagt ihr: Ach, was ist das schon! Aber alle haben gestaunt, die die Geschichte bisher gehört haben. 7

Marius ist inzwischen erwachsen. Das Boot mit dem Außenbordmotor hat er immer noch. 8