Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.v. Landesverband Niedersachsen Zentrale Gedenkstunde des Landes Niedersachsen zum Volkstrauertag 2006 Beitrag von Schülerinnen und Schüler der Klasse 9 E 2 des Gymnasiums Andreanum, Hildesheim
[Klassenfahrt zum Golm, Mona Groth] Wir haben im Sommer 2006 eine Klassenfahrt nach Usedom unternommen. Unsere Lehrerin, Frau Frank-Gerstung, hat mit unseren Eltern besprochen, dass wir die Jugendbegegnungsstätte Golm besuchen. Der Golm liegt direkt an der polnischen Grenze. Dort befindet sich ein Friedhof, auf dem die Opfer eines Bombenangriffs auf die Stadt Swinemünde bestattet sind. Einige Eltern waren zunächst skeptisch. Auch wir Schüler fanden die Idee erst gar nicht gut, und einige wollten am liebsten woanders hinfahren. In der Klasse wurde ausführlich darüber diskutiert: Warum sollen wir da die Gräber putzen? Können wir nicht einfach nur an den Strand gehen? Das wird doch bestimmt total langweilig! Doch es wurde ganz anders: An einem Vormittag sind wir mit Kinga Koscholeck, einer polnischen Mitarbeiterin der Jugendbegegnungsstätte, auf den Golm gegangen. Dort sind gleich links neben dem Eingang die namentlich bekannten Opfer bestattet worden. Ihre Namen stehen auf Steintafeln. Sogar heute noch können Namen durch Hilfe der Angehörigen herausgefunden und ergänzt werden. Bei anderen Opfern handelt es sich um Marine-Soldaten, die in Lazaretten verstorben sind. Der größere Teil der Opfer, es sind mehr als 20.000, liegt in Sammelgräbern. Ihre Namen sind nicht bekannt. Am Nachmittag reinigten wir dort jeweils zu zweit die ca. 1 m hohen Holzkreuze. Auch diese Arbeit wollten die meisten Schüler zuerst nicht übernehmen. Wir dachten nämlich, dass während unserer Arbeit auf dem Friedhof nahezu absolute Ruhe herrschen muss. Schließlich machten doch alle mit. Zuerst wussten wir nicht so recht, wie wir uns dort verhalten sollten, da wir ja schließlich auf Gräbern standen. Ständig hatten wir den Gedanken im Kopf, wie erschreckend hoch die Zahl der Bestatteten doch ist, die bei dem Bombenangriff am 12. März 1945 umgekommen sind. Doch dann konnten wir uns ganz normal unterhalten und sind im Nachhinein stolz auf unseren Beitrag zur Kriegsgräberpflege.
[Swinemünde, Amelie Hundertmark] Während unseres Aufenthaltes machten wir auch eine Fahrradtour über die polnische Grenze nach Swino-Uscie, dem früheren Swinemünde. Die Stadt wirkte auf mich wie ein beliebtes Ferienziel. Viele Touristen vergnügten sich am Strand, und polnische Händler boten am Stadtrand ihre Ware an. Nichts erinnerte mehr daran, dass hier am Ende des Zweiten Weltkriegs mehrere tausend Menschen sterben mussten. Im März 1945 herrschte in Swinemünde ein großes Chaos, denn die Stadt war überfüllt mit zehntausenden Flüchtlingen. Diese waren aus Pommern, Ostpreußen und Westpreußen vor der roten Armee geflohen. Im Bahnhof standen mehrere Lazarett- und Flüchtlingszüge. Im Hafen befanden sich etliche Schiffe, die zum Flüchtlingstransport eingesetzt worden waren. Menschenmassen verstopften die Straßen. Tausende suchten Schutz im Stadtpark. Sie alle glaubten sich in Sicherheit, als um 11 Uhr die Sirenen zu heulen begannen. 671 Bomber der 8. US-Flotte starteten ihren Angriff auf Swinemünde. Sie warfen insgesamt 1600 Tonnen Bomben, meist Spreng- und Splitterbomben ab. Innerhalb von 2 Stunden war die Stadt fast vollkommen zerstört. Die genaue Zahl der Menschen die bei diesem Angriff ums Leben kamen, konnte nie ermittelt werden. Schätzungen gehen von bis zu 23000 Toten aus. Sie fanden ihre letzte Ruhestätte auf dem Golm bei Kamminke. Viele tausende Tote wurden dort bestattet, die meisten anonym in Massengräbern.
[Einzelschicksale, Viola Dempwolf] Ich berichte über das Schicksal eines Vierzehnjährigen aus Leipzig, der nur durch einen glücklichen Umstand nicht zum Opfer des Luftangriffs auf Swinemünde. Gerhard Kühnemund, damals 14 Jahre alt, Hitlerjunge, hatte Glück. Er war im März 1945 zusammen mit fünf Kameraden aus Leipzig zu einem Unterführer-Lehrgang in einer Schule in Swinemünde an der Ostsee. Er berichtet: Meine Mutter hatte am Tag des Luftangriffs, am 12 März, Geburtstag. Ich wollte sie zu Hause in Leipzig besuchen. Gegen 18.00 Uhr am 11. März 1945 verabschiedete ich mich in Swinemünde von meinen Schulfreunden und Kameraden: Leo, Werner, Günter, Joachim und Manfred. Sie waren alle erst 14 und 15 Jahre alt. Es wurde ein Abschied für immer. Die Schule, in der die ca. 50 Jungen in der Aula gerade ihr Mittagessen einnahmen, soll einen Volltreffer einer amerikanischen Luftmine erhalten haben. Von Überlebenden ist nichts bekannt meine Freunde gab es nicht mehr. Seit nun 60 Jahren denke ich immer wieder an den 12. März 1945. Wäre meine Mutter nur einige Stunden später auf die Welt gekommen, dann hätte sie nicht am 12., sondern am 13. März Geburtstag gehabt. Dann würde ich seit 60 Jahren mit meinen jungen Freunden und Kameraden in einem Massengrab auf dem Golm in Swinemünde ruhen.
[Heeresversuchsanstalt Peenemünde, Julian Klose] Auf dem Programm unserer Klassenfahrt stand auch ein Besuch in Peenemünde, in der ehemaligen Heeresversuchsanstalt. Heute befindet sich dort ein Museum mit Gedenkstätte. Peenemünde gehört heute zu den international bekanntesten Orten in Mecklenburg-Vorpommern. Hier hatten die Nationalsozialisten eine Raketenversuchsanstalt errichtet. Große Teile der heutigen Raumfahrt- und Raketentechnik basieren auf Plänen aus Peenemünde. Allerdings wurde die Heeresversuchsanstalt von den Nationalsozialisten NIEMALS für friedliche Zwecke benutzt. Sie dienten der Produktion der so genannten Vergeltungswaffen V1 und V2. Die Raketen wurden im Zweiten Weltkrieg unter anderem auf England und Belgien abgefeuert. Viele Menschen fielen ihnen zum Opfer. Bei der Herstellung der Raketen wurden KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter eingesetzt. Mehrere hundert von ihnen kamen tragischer Weise bei Luftangriffen der Alliierten ums Leben. Nach der Zerstörung der Anlagen in Peenemünde verlagerten die Nationalsozialisten die Produktion in unterirdische Anlagen, u.a. nach Mittelbau-Dora am Harz. Hier kamen durch die fürchterlichen Bedingungen ca. 20.000 Häftlinge ums Leben. Peenemünde machte einen trostlosen Eindruck auf uns: Massive Betonwände und klotzige Backsteinbauten sprangen uns ins Auge. Als wir dann den Innenbereich betraten, verstärkte sich dieser Eindruck. Riesige Industriegebäude aus Backstein und Beton auf einem Gelände, auf dem so gut wie nichts wuchs. Kein einziger Baum, kein Busch. Das alles wirkte sehr bedrückend auf uns. Wir machten dann eine Museumsführung, bei der wir über die Anlage und die schrecklichen Dinge, die auf ihr passiert sind, aufgeklärt wurden. Die bedrückende Wirkung hatte sich jetzt noch verstärkt: Ich bin sie nicht mehr losgeworden. Noch heute spüre ich sie manchmal, wenn ich mir Fotos davon anschaue. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass es solche Orte nie wieder geben wird.
[Versöhnung über den Gräbern, Clara Japing, Gwendolin Gurr] Bei einem Klassenausflug zu einem Friedhof für Opfer des Zweiten Weltkriegs an der deutsch-polnischen Grenze trifft der 15-jährige Deutsche Jan den 16 Jahre alten Polen Martin und die beiden fangen ein Gespräch an: J: Warum kommst du ganz alleine auf einen Friedhof? M: Ich bin ab und zu hier, weil mich die Geschichten der Leute, die hier liegen, interessieren und ich oft über ihre Vergangenheit nachdenke. Mein Ur-Opa ist nämlich auch im Zweiten Weltkrieg umgekommen. J: Ach ehrlich? Meiner auch und meine Ur-Oma wohnte damals in dem Teil Deutschlands, der später polnisch wurde. Sie wurde aus ihrem Haus vertrieben und musste alles zurücklassen. M: Aha und deswegen bist du hier? J: Nein, das geht nur von der Schule aus, da thematisieren wir den 2. Weltkrieg jetzt schon zum x-ten Mal. M: Also interessieren dich die Geschehnisse von damals eigentlich gar nicht? J: Na ja, schon, aber ich finde einfach, dass man die Sache irgendwann ruhen lassen sollte. Schließlich sind wir doch nicht mehr dafür verantwortlich. M: Ich will dich auch gar nicht dafür verantwortlich machen, aber findest du wirklich, wir sollten die schlimmen Geschehnisse von damals einfach vergessen? Jetzt wo wir über den Gräbern stehen, wird mir zumindest erst richtig bewusst, wie viele Menschen im Krieg ihr Leben lassen mussten und, dass wir nicht für die Vergangenheit, aber sehr wohl für die Zukunft Verantwortung übernehmen müssen! J: Da stimme ich dir zu, aber wie soll das gehen? M: Ich finde, es muss einfach jeder seinen Teil dazu tun, dass so etwas nie wieder geschieht, und das hier ist doch schon mal ein guter Schritt, oder nicht? J: Du hast Recht! Wir gehen mit gutem Beispiel voran! M: Ja, und das ist auch wichtig, denn in meiner Heimat haben immer noch einige Menschen Angst vor einem erneuten Konflikt. J: Du meinst, weil es Deutsche gibt, die ihre zurückgelassenen Besitztümer aus der Zeit vor der Grenzverschiebung zurück haben wollen? M: Ja genau, was ist denn zum Beispiel mit deiner Großmutter? Will sie das Haus ihrer Eltern nicht zurück haben? J: Nein überhaupt nicht. Sie ist total zufrieden mit ihrer jetzigen Wohnung und will auch gar nicht mehr zurück. Und ich glaube, das geht vielen so. Allerdings gibt es wirklich einige, die das nicht so sehen, aber zumindest unsere Politiker sind sich einig, dass eine Rückverschiebung der Grenze nicht in Frage kommt.
M: Na dann steht einer Versöhnung unserer beiden Länder ja wohl nichts mehr im Weg! J: Das sehe ich auch so und ich fand es toll, mich mit dir darüber auszutauschen. M: Fand ich auch! Man sieht sich bestimmt noch mal, Machs gut! J: Du auch!
[Fazit, Mona Groth] Swinemünde, Peenemünde, Bombenopfer, Zwangsarbeit auf unserer Fahrt wurden wir mit verschiedenen, grausamen Erscheinungen und Folgen des Zweiten Weltkriegs konfrontiert. Wir hätten nicht gedacht, dass diese Spuren auch heute noch sichtbar sind. Aber gäbe es diese Spuren nicht, hätten wir uns nicht so intensiv mit dem Krieg beschäftigt. Auch der heutige Grenzverlauf zwischen Deutschland und Polen ist eine Folge des Zweiten Weltkriegs. Aber wir haben diese Grenze ohne Probleme überschritten. Und in unserer Unterkunft, die auf der deutschen Seite liegt, betreute uns eine polnische Lehrerin. Das alles zeigt uns, dass es sich lohnt, mit offenen Armen aufeinander zuzugehen. Wir haben erfahren, dass Rechtsextreme planen, eine Heldengedenkveranstaltung auf dem Golm durchzuführen. Nach allem, was wir über die Opfer auf dem Golm erfahren haben, können wir sagen, dass es sich um bedauernswerte, oft auch geschundene Menschen handelte. Sie waren keine Helden. Sie sind einer Politik zum Opfer gefallen, die Menschenleben nicht für wert erachtet hat. Wer sie im Nachhinein zu Helden erklärt, missbraucht sie über ihren Tod hinaus. Die Gräber der Toten des Zweiten Weltkriegs können nichts anderes sein, als eine Aufforderung an uns, uns für den Frieden in Europa und in der Welt einzusetzen.