Forum D Entwicklungen und Reformvorschläge Diskussionsbeitrag Nr. 25/2015 Die Bedeutung der Selbsthilfe für die Kinder- und Jugendrehabilitation 06.08.2015 von Dr. Annette Mund, Kindernetzwerk e.v. I. Einleitung Der Begriff der Selbsthilfe ist mehrdeutig. Zum einen bezeichnet er die eigene Initiative, die Hilfe zur Selbsthilfe, etwas zum eigenen Wohl, zur eigenen Gesundheit, zur Verbesserung der eigenen Situation zu unternehmen. Die frühere DDR-Gesellschaft wurde vielfach als Selbsthilfegesellschaft in diesem Sinne betrachtet, denn wer sich nicht selbst half, war in vielerlei Hinsicht verloren. Man spricht hier von privater Selbsthilfe. Die andere, umfassendere Bedeutung des Begriffs bezeichnet die organisierte Selbsthilfe. Gruppen von Menschen organisieren sich, locker und ohne feste Struktur oder in Vereinen und Organisationen betreut, um sich selbst und anderen in schwierigen Lebenslagen zu helfen und zu unterstützen. Hier sind die Krankheitsbewältigungsgruppen verortet, aber auch alle möglichen sozialen Gruppen wie beispielweise Trauer- oder Einsamkeitsbewältigungsgruppen oder auch Zusammenschlüsse von Menschen, die im sozialen Gefüge der Gesellschaft am Rand stehen. Organisierte Selbsthilfe unterstützt die Gruppe und damit den Einzelnen, die Folgen der Krankheit oder der schweren Lebenssituation zu bewältigen. Ziel ist es, eine Teilhabe an der Gesellschaft wieder zu ermöglichen. Kinder- und Jugendrehabilitation befasst sich mit der Wiederherstellung von seelischer und körperlicher Gesundheit von jungen Menschen. Eine Erkrankung, ein Unfall oder eine chronische Krankheit haben seelische und/oder körperliche Schäden bewirkt, mit deren Folgen der junge Mensch lernen muss umzugehen, um wieder so gut wie möglich am Leben teilhaben zu können. Rehabilitation ist somit, wie die organisierte Selbsthilfe, eine Unterstützung der Bewältigung des Geschehenen und eine Teilhabeleistung. Trotz dieser Gemeinsamkeiten arbeiten Kinder- und Jugendrehabilitationseinrichtungen und die organisierte Selbsthilfe nicht immer gut zusammen. Die Gründe dazu liegen in einem veralteten Bild der organisierten Selbsthilfegruppen als Jammervereine, in der Unkenntnis von bestehenden Abläufen und Strukturen des jeweils anderen und in der oft noch nicht erreichten gleichen Augenhöhe von Medizin und organisierter Selbsthilfe. Wären diese Hindernisse besei- 1
tigt, gäbe es eine dauernde und positive Zusammenarbeit beider. Denn, wie zu zeigen sein wird: die Bedeutung der Selbsthilfe für Kinder- und Jugendrehabilitation ist groß und umgekehrt. II. Organisierte Selbsthilfe Daten und Fakten In Deutschland gibt es zwischen 70.000 und 100.000 Selbsthilfegruppen, in denen etwa 3,5 Millionen Menschen aktiv sind. Mehr als zwei Drittel aller Gruppen befassen sich mit gesundheitlichen Themen. Seit 1992 besteht eine gesetzliche Regelung der Förderung der organisierten Selbsthilfe durch die Krankenkassen nach 20c Sozialgesetzbuch V. Da die bis dahin bestehenden Regelungen zu wenig verbindlichen Charakter hatten, besteht seit 2008 eine gesetzliche Verpflichtung der Krankenkassen, die organisierte Selbsthilfe zu unterstützen, wenn diese bestimmte Bedingungen erfüllt. Die Förderung im Jahr 2015 beträgt 0,64 Euro pro Versichertem 1, was eine Gesamtsumme von ca. 45 Millionen Euro ausmacht. 2 Das hört sich sehr gut an, bedeutet aber für die einzelnen Selbsthilfestrukturen keine finanzielle Sicherheit. Die Gelder können geregelte Selbsthilfestrukturen bei den Krankenkassen anfordern. Sie können Projektfinanzierungen beantragen und Gelder für die eigentliche Arbeit der Gruppe. Die organisierte Selbsthilfe ist in drei Ebenen strukturiert. Es gibt örtliche Gruppen, die bei den örtlichen Krankenkassen anfragen können, Landesgruppen, die sich an die Landesvertretungen der Kas- 1 Im Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz PrävG) ist vorgesehen, dass Krankenkassen für Selbsthilfegruppen, -vereinigungen und -kontaktstellen ab dem kommenden Jahr (2016) je Versichertem 1,05 Euro zur Verfügung stellen. 2 http://www.nakos.de/informationen/foerderung/ krankenkassen/ 2 sen wenden müssen und Bundesstrukturen, die mit den Krankenkassen auf Bundesebene zusammen arbeiten. Bis zu festgelegten Terminen müssen alle Anträge auf Finanzmittel gestellt sein und meist erst einige Monate später kommen die zustimmenden oder auch ablehnenden Bescheide. Weder örtliche Selbsthilfegruppen noch Landesgruppen oder Selbsthilfeorganisationen auf Bundesebene haben ein Recht auf vollständige Auszahlung der beantragten Gelder. So weiß niemand von den Aktiven, ob die Finanzen der Gruppe für die geplanten Aktivitäten des Jahres ausreichen werden; es bleibt eine finanzielle Unsicherheit, die gute Arbeit schwierig macht. Neben den Fördergeldern der Krankenkasse stehen die Mitgliedsbeiträge der Gruppierungen und manchmal Sponsorengelder seitens der Wirtschaft zur Verfügung. Letztere müssen jedoch sorgsam überdacht werden, um die Unabhängigkeit der Gruppen und Organisationen nicht zu gefährden. Nach 29 SGB IX sollen Selbsthilfestrukturen einheitlich gefördert werden, solange sie sich der Prävention, Rehabilitation, Früherkennung, Behandlung und Bewältigung von Krankheit und Behinderungen verpflichtet fühlen und sie sich dies zum Ziel gesetzt haben. Diese allgemeine Gesetzesvorschrift wird durch 13 SGB IX Abs. 2 S. 6 konkretisiert. Die Rehabilitationsträger nach 6 SGB IX verpflichten sich hier, gemeinsame Empfehlungen zur Förderung der Selbsthilfestrukturen zu entwickeln. In der Fassung vom 23.02.2012 verabschiedeten die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) mit den gesetzlichen Krankenkassen, den Trägern der Rentenversicherung, den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung, der Bundesagentur für Arbeit
sowie den Trägern der Kriegsopferversorgung und unter Beteiligung der Bundesarbeitsgemeinschaft SELBSTHILFE von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e. V. (BAG SELBSTHILFE), der Deutschen HauptsteIle für Suchtfragen (DHS) e. V., Der PARITÄTI- SCHE Gesamtverband e. V., der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e. V. (ISL), der Fürst Donnersmarck-Stiftung, der Nationalen Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS) und des Weibernetz e. V. (in Vertretung der Interessenvertretung von Frauen mit Behinderung) die gemeinsame Empfehlung zur Förderung der Selbsthilfe, um die Selbsthilfe in Deutschland zu unterstützen. 3 Selbsthilfe gilt als vierte Säule im Gesundheitssystem 4 und ist mehrheitlich vom Ehrenamt getragen. Zunehmend stellt man in den letzten Jahren fest, dass sich weniger Menschen als früher für eine lange ehrenamtliche Arbeit interessieren. Eher möglich ist ein kurzzeitiges Engagement in einem klar umrissenen Projekt. Wichtig für alle Aktiven ist der Erfolg der Maßnahme, der Umfang der Hilfe, der wirklich geleistet werden kann. Dazu müssen die Rahmenbedingungen wie Finanzen, Strukturen und Hintergrundwissen zum Projekt bestehen oder ermöglicht werden. III. Kinder- und Jugendrehabilitation Daten und Fakten In Deutschland wurden 2012 8.708 Millionen Euro für die Vorsorge/Rehabilitation ausgegeben. Das ist, gemessen am Ge- 3 http://www.bar-frankfurt.de/fileadmin/dateiliste/ publikationen/gemeinsame-empfehlungen/ downloads/ GeEmFoerderungSelbsthilfe.434KB.pdf. 4 http://www.med.uni-magdeburg.de/jkmg/wpcontent/uploads/2013/03/jkm_band43_kapitel 08-Trojan.pdf. 3 samtvolumen der Gesundheitsausgaben in diesem Jahr (410.728 Millionen Euro) nicht gerade viel. 5 Obwohl ein deutlicher Bedarf an Rehabilitationsleistungen für Kinder und Jugendliche besteht, gehen die Beantragungen der Leistungen bei den Trägern der Deutschen Rentenversicherung (DRV) seit 2007 ständig zurück. 6 Es werden verschiedene Gründe vermutet, warum das so ist. Ein Grund besteht in der Komplexität der Beantragungsformalitäten. Viele Eltern fühlen sich nach der Akutphase einer Erkrankung oder eines Unfalls ihres Kindes oder im Leben mit einem chronisch kranken Kind nicht in der Lage, umfangreiche Papiere auszufüllen, andere zu besorgen und sich mit dem Arzt auszutauschen. Die Ärzte ihrerseits empfinden vielfach die Antragsstellung als zu komplex und zu schwer zu durchschauen. Werden Anträge auf Leistungen von der Rentenversicherung oder den Krankenkassen abgelehnt, verstehen oft weder Ärzte noch Eltern, warum dies so ist. Ein anderer Grund liegt in der manchmal nicht bestehenden Passgenauigkeit der angebotenen Rehabilitationsleistungen für die erkrankten/kranken/unfallgeschädigten Kinder und Jugendlichen. Suchen Eltern beispielsweise für ihr stoffwechselerkranktes Kind eine Rehabilitationseinrichtung und finden nur Kliniken, die zwar eine Diätassistentin beschäftigen, diese aber keine Zusatzausbildung in Allergologie besitzt, wird das Kind von einer Rehabilitationszeit nicht profitieren können. Ein weiterer Grund liegt in der Tatsache begründet, dass beispielsweise chronisch kranke Kinder in der seelischen und sozialen Entwicklung oft ihren Altersgenossen hinterherhinken, bisher aber nur 5 http://www.bdpk.de/positionen/statistiken/einna hmen-und-ausgabenentwicklung-dergesetzlichen-krankenversicherung-1994-2009. 6 http://www.bdpk.de/positionen/rehabilitationund-pflege2/kinder-und-jugendrehabilitation; http://www.kinder-und-jugendreha-imnetz.de/fileadmin/pdf/kjr:jahrestagung2015/jah renstagung_kijureha2015_vortraggross.pdf.
Kinder bis acht Jahre von Mutter oder Vater begleitet in die Rehabilitation fahren können. Viele Eltern empfinden aber ihre Kinder auch mit neun Jahren als zu klein und schutzbedürftig, um sie alleine reisen zu lassen. Weitere Gründe wie Schwierigkeiten im Familienmanagement während eines Rehabilitationsaufenthaltes, die Gefühle der gesunden Geschwisterkinder und die während einer Maßnahme bestehende vollkommene Abwesenheit der Mutter oder des Vaters für sie oder die Strapazen, die mit einer Maßnahme verbunden sind, spielen sicherlich beim Rückgang der Beantragungszahlen ebenfalls eine Rolle. IV. Kinder-/Jugendrehabilitation und organisierte Selbsthilfe Kinder-/Jugendrehabilitation und organisierte Selbsthilfe stehen vor den gleichen Problemen. Beide Organisationsformen unterstützen die Bewältigung von Krankheitsund Unfallfolgen, beide arbeiten für die Wiedererlangung von Teilhabe der jungen Menschen in Gesellschaft, Schule und Beruf und beide stehen vor dem Problem des Mitglieder- bzw. Antragsschwundes. Einige Selbsthilfeorganisationen auf Bundesebene haben erkannt, dass Kinder und Jugendliche die Folgen ihrer Krankheit oder Behinderung durch eine Rehabilitationsleistung besser verarbeiten können, als wenn diese Leistungen fehlen. Sie haben sich mit den zu ihrem Krankheitsbild passenden Kliniken zusammengetan und überlegt, wie die Leistungen noch effektiver und passgenauer gestaltet werden können. Mittels Fragebogenverschickung an ihre Mitglieder und Auswertung der Antworten durch Klinik und Selbsthilfe wurden krankheitsspezifische Angebote entwickelt, die beiden Seiten helfen. Selbsthelfende können die richtigen Fragen stellen, da sie aus eigener Erfahrung kompetent im Umgang mit der Erkrankung sind. Wer die richten Fragen stellt, kann richtige und passgenaue Antworten finden. Aus dieser Erkenntnis heraus haben andere Selbsthilfeorganisationen begriffen, dass Angehörigen- und Betroffenenschulungen innerhalb der Rehabilitationsmaßnahmen erst dann wirklich greifen, wenn von ihnen geschulte Vortragende diese vor Ort abhalten. Wieder andere Selbsthilfeorganisationen haben erkannt, dass die Schwierigkeiten innerhalb der Beantragung der Rehabilitationsleistungen viele Eltern abhalten, überhaupt einen Antrag zu stellen. Sie errichteten daher spezielle Sozialrechtshotlines, die Hilfe bei Beantragung und Widerspruchsverfahren bei Ablehnung von Leistungen anbieten. Noch andere Selbsthilfeorganisationen wissen, dass die Kliniken selbst die besten Ansprechpartner für Beantragungsverfahren sind und gerne helfen, die Anträge zu einem positiven Erfolg zu führen. Kliniken profitieren also in Breite vom Engagement der organisierten Selbsthilfe. V. Fazit Selbsthilfeorganisationen profitieren von ihrem Engagement in dieser Hinsicht und der Kooperation mit den entsprechenden Kliniken von positiven Rückmeldungen ihrer Mitglieder. Gut vorbereitete Aufenthalte, Beantwortung von Fragen rund um die Organisation und den Ablauf der Maßnahme sowie gute Beschulung der Klinik führen zu zufriedenen Kindern, Jugendlichen und Eltern. So werden die Selbsthilfeorganisationen weiter empfohlen, Krankenkassen werden Projekte, die sich eine gute und wirkungsvolle Zusammenarbeit beider Akteure zum Ziel setzen eher akzeptieren und Gelder für sie 4
bereit stellen, Menschen fühlen sich in ihren Nöten und Schwierigkeiten ernst genommen. Rehabilitation und somit Teilhabemöglichkeiten werden weiter entwickelt, Selbsthilfe kann ihre erlebte Kompetenz einbringen und dafür sorgen, dass Angebot und Nachfrage zusammen kommen. Selbsthilfe sowie Kinder- und Jugendrehabilitation haben also eine große Bedeutung für einander. Man muss nur darüber reden. Ihre Meinung zu diesem Diskussionsbeitrag ist von großem Interesse für uns. Wir freuen uns auf Ihren Beitrag. 5